Wie war das, als Jochen Schmidt vor über zwei Jahren uns mit seiner Ankündigung überraschte, ein halbes Jahr lang Proust nicht nur lesen, sondern auch bloggen zu wollen? Habe damals punktuell mitgelesen. Aber was habe ich damals getan? Hier mein kleines Zwischenprojekt Richter liest „Schmidt liest Proust“, eine Beobachtung dritter Ordnung und gleichzeitig eine Reflexion.
18.7.06
Ich jogge durch Rummelsburg und Friedrichshain. Es ist seit Monaten die gleiche Strecke, mal mit einer größeren, mal mit einer kleineren Schleife: Revaler Str., Bahnhofstr., Markgrafendamm, Rummelsburger Bucht. Am östlichen Ende die letzten Reste des Rummelsburger Gefängnisses, in dem für politische Gefangene vergleichsweise angenehme Bedingungen herrschten. „Alle wollten nach Rummelsburg“, sagte mir ein Ex-Gefangener, der auch Bautzen und Hohenschönhausen durchgemacht hatte und später mit einem jener berüchtigten „Frischer Fisch“-Transporter an die Grenze gekarrt wurde. Weiter durch mein früheres Wohngebiet Frankfurter Allee Süd. Schöner, grüner ist es hier geworden, aber fremd. „Lauter Russen“, denke ich und in meinem Jogging-Dschumm erschrecke ich mich nicht vor dem Gedanken. Eine größere Schleife heute durch die Parkaue. Dahinter treffe ich eine frühere Kollegin, die ich das letzte Mal vor zwei Jahren gesehen hatte, da war sie schwanger und zog ins Ruhrgebiet um. Überlege kurz, ob ich meinen Lauf unterbreche, es wäre nicht schlimm, jetzt nur kurz zu winken. Aber ich bleibe stehen. Kurzer Smalltalk. Ich frage, wie es dem Kind und dem Freund geht. Vom Freund getrennt, das Kind war eine Fehlgeburt. Schwierig, jetzt einfach weiterzujoggen. Vorsichtig steuere ich das Gespräch in harmlosere Gewässer, verabschiede mich und laufe über die Proskauer und Simon-Dach-Str. zurück in die Libauer.
Mail von Jochen an Chaussee: Er will mit dem Disco-Auflegen verschnaufen und mag drumnbass.
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Jochen über Bücher in den Regalen der Eltern, die man nie las. Ich erinnere mich an Balzac, Strittmatter und Prus. Von letzterem ist „Pharao“, und mein Vater glaubte, dass es dieser Autor sei, dem sich Jochen nun zuwende.
Prousts Überlegungen zur Rekonstruktion der Wirklichkeit beim Erwachen kann ich nur erahnen. Wenn man neueren Studien und Prognosen glaubt, wird dereinst jeder Dritte von uns tagtäglich und andauernd damit beschäftigt sein, herauszufinden, wo er ist, was er hier soll und wer die ganzen Leute sind.
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19.7.06
Mail von Jochen: Link zu einem Blog-Eintrag, in dem mich jemand lobt.
Schwimmen im Prinzenbad. Durchsage, man solle seine Kleidungsstücke nicht unbeaufsichtigt lassen. Als ich auf dem Wasser zurück zu meinen Sachen komme, kommentiert ein Türke sarkastisch, es sei wohl schon blöd, wenn man allein schwimmen gehe. Mache ihn instinktiv für das Verschwinden meines Geldes und meiner Uhr verantwortlich, die dann aber auf wunderbare Weise sich doch anfinden.
Morgens korrigiere ich den Text eines Impro-Schauspielers, den ich sehr schätze, mittags sehe ich die Performance eines Improvisationslehrers, abends schaue ich den Improvisationskollegen im Zebrano zu. Drei Enttäuschungen, und jedes Mal stehe ich vor dem Problem, Feedback abgeben zu müssen. Morgens erbeten, mittags erwartet, abends notwendig.
Ich gestalte meine Website um.
Ich will eine Woche Erholungsurlaub in der Nähe von Berlin machen, finde aber nichts passendes
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Proust führt Gedanken über Tanten aus. Ich kann nicht mitreden. Ich hatte nie eine.
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20.7.06
Chaussee ohne Robert und Jochen. Ich singe anlässlich von Rudi Carrells Tod und am heißesten Tag des Jahres „Wann wird mal wieder richtig Sommer“.
Entscheide mich für Urlaub zuhause, den ich so für mich definiere, dass ich die Auftritte zwar noch mitmache, aber nicht ans Telefon gehe und keine E-Mails beantworte.
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Jochen reist nach „Alt-Lipchen“ . Warum er diesem Ort ein so seltsames Pseudonym zuschustert, ist mir nicht klar. Vielleicht eine Gewohnheit, weil ihm seine erste große Erzählung Glück gebracht hat. Vielleicht aber auch ein Anflug von Größenwahn: Die schönen Texte, in denen das Dorf auftaucht, werden eines Tages so berühmt, dass Massen dorthin pilgern. Das gälte es zu verhindern.
Sollen beschreibende Zeilen übersprungen werden?, fragt sich Jochen bei ausschweifenden Beschreibungen Prousts. Ich frage mich, wie die meisten Leser des Proust-Blogs, ob man nicht überhaupt die Zeilen zu Proust überspringen soll.
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21.7.06
Ich wache so auf, wie ich eingeschlafen bin – nackt auf der Decke. Selbst nachts ist es zu heiß. Erinnere mich an Ghana. Wenn es möglich war, hat man einen Ventilator angestellt, der auch die malariaübertragenden Mücken vertrieb. Meistens jedoch lag man ohne Ventilator unterm Moskitonetz.
Nach dem Morgenjoggen Pause. Zum Plötzensee, angeblich kann man da gut baden. Eine Enttäuschung. Es gibt an der Südseite ein großes Strandbad ohne Schatten, der Rest ist Landschaftsschutzgebiet, wo man nicht baden darf und wegen der steilen Abhänge auch kaum kann. Finde dann aber eine halbwegs nutzbare Stelle: Handhabbare Schräge, genug Schatten. Springe sofort rein. Unglaublich warmes Wasser. Selbst beim Abtauchen nur wenig Kühlung. 10 Minuten schwimme ich hin und her. Liege auf dem Rücken und drifte, Fußschläge, wie im Trance. Nach ein oder zwei Minuten sehe ich mich um, und habe kurzzeitig die Orientierung verloren wie im Halbschlaf.
Fahre ins Nikolaiviertel, das ich – ich kann mir nicht helfen – mag. Im „Nussbaum“ beginne ich Feuchtwangers „Jüdin von Toledo“. Zwanzig Seiten.
Am Abend beginne ich noch einmal mit Rushdies „Mitternachtskindern“.
Weder Rushdie noch Feuchtwanger werde ich weiterlesen.
Am Nachmittag im Kalender ein Termin mit einer Bettina notiert. Unklar.
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Jochen sympathisiert mit der hypochondrischen Tante Marcels. Wäre auch seltsam, wenn er das nicht täte.
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22.7.06
Wache nachts auf. Diesmal noch in Tagesbekleidung. Was war los? Die Hitze scheint wie eine bewusstseinsverändernde Droge zu wirken.
Gibt es eine Dissertation über die Rolle von Hitze in der Literatur. Erinnere mich an „Abbitte“ von McEwan und „Satanische Verse“ von Rushdie. Beides in England. In beiden Fällen trägt sie zur Eskalation bei.
Beschränke meinen Urlaub auf Reduzierung der Kommunikation.
Notiere lange Reflexionen zur unbefriedigenden Situation meiner Improtheater-Aktivitäten.
Das Trinkwasser wird beim Joggen warm.
Am Abend Kantinenlesen. Volker Strübing rettet die Show.
In der Ecke vom Schusterjungen hockt der ehemalige Betreiber des Restaurant „S.“ und lächelt mit einer Mischung aus Verschmitztheit und Verzweiflung. Wird man eines Tages selbst irgendwo so sitzen, beglotzt von Leuten, die einen früher mal nett ansprachen? Krass exponiertes Versagertum gepaart mit Verzweiflung und schlechter Laune stößt ab.
Wer wird der letzte Überlebende der Lesebühnen? Irgendwann werden wir jährlich jemanden zu Grabe tragen. Stephan? Jung, aber behindert. Jochen – fit, aber ständig krank?
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Jochen rekapituliert die Wirkung MZ-fahrender Jugendlicher, die ich ähnlich wie er abwechselnd als Indianer oder Dummköpfe wahrnahm.
Proust liebt Abenteuerromane. Mein Trash sind die 1001 Nächte.
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23.7.06
Ich habe am Abend zuvor in der Kantine das Netzteil meines Laptop liegengelassen. Was schreibt man, wenn man weiß, dass die Batterien gleich alle sind? Was schreibt man, wenn man weiß, dass die eigenen Batterien gleich alle sind? Schreibt man dann überhaupt noch? Wägt man jedes Wort ab, weil es das letzte sein könnte?
Gedanken zu einem Roman, der in den 40ern spielt. Wo haben die Bauarbeiter auf Kleinbaustellen vor der Erfindung der Dixie-Klos hingekackt?
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Jochen findet einen Brief der Architektin des Hauses und des Gartens in „Alt-Lipchen“, in dem er sich gerade aufhält. Es gibt Berufe, die ich nie hätte ausüben wollen (z.B. Arzt – zu eklig), andere hätte ich nie ausüben können. Letztere haben fast alle mit räumlichem Vorstellungsvermögen zu tun.
Bloch kann nicht beantworten, ob es gerade geregnet hat, da er nur im Geistigen lebt. Die Geringschätzung des Körperlichen hat mich, als ich 17 war, auch bei Hamlet fasziniert. Pubertäres Erwehren gegen den Körper. Dies zu überwinden, kann eine der anspruchsvollsten Aufgaben des Erwachsenwerdens sein. Gerade für Intellektuelle, die in der Lage sind, sich diese Haltung schönzureden.
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24.7.06
Mail an Reinhard Kleist, von dem ich einen kleinen Cartoon gesehen habe, der mich sofort begeistert hat. Ich frage ihn, ob er an einer Zusammenarbeit interessiert ist. Er antwortet nicht. Ich weiß noch nicht, dass er schon berühmt ist und an CASH arbeitet.
Wäge Pro und Contra ab, mit Steffi zusammenzuziehen.
Stelle fest, dass beim PC-Crash Anfang des Jahres ein halbes Jahr Tagebuchnotizen verlorengegangen sind.
Blättere in einem ungarischem Buch zu Autogenem Training, das ich mir 1988 gekauft hatte.
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Schauspielerempfehlungen von Proust: Weniger historische Lektüre als die konkrete Umgebung, in seinem Falle „Launen alter Damen in der Provinz.“
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25.7.06
Mail von Jochen ans U-Boot: Bittet um Tausch für Kantinentermin. Er reist ja nach Odessa.
Fühle mich seit Tagen verbittert, der Urlaub bringt wenig. Ich schreibe mir alles von der Seele. Auch das hilft nichts.
Anruf von meiner alten Ami-Freundin Rebecca, die gerade wieder in Berlin weilt und mit der der Autor von „Schmidt liest Proust“ für mehrere Monate liiert war. Damals wetteten mein Schwager und ich beim ersten Gespräch zwischen den beiden, ob sie zusammenkämen. Was ich nicht ahnte – meinen Schwager hielt es dann auch nicht lange bei meiner Schwester.
Mit Rebecca, ihrem Mann Gogo und dem Kind Merlin ins Prinzenbad. Gut, wenn man auch nach Jahren wieder leicht an Freundschaften anschließen kann.
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Jochen: „Der Ort, an dem man ein Buch liest, verändert den Eindruck…“
Ich lese dieses Buch vorm aufgeklappten Laptop. Ist schließlich keine Klo-Lektüre. Vielleicht noch fürs Bett. Reich-Ranicki liest angeblich immer am Schreibtisch.
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26.7.06
Mail von Jochen an die Chaussee, dass er am 10.8. gegen 20.30 Uhr direkt vom Flughafen komme.
Höre drei Mozart-Divertimenti für Klarinetten und Fagott. Und ich kann bei fast jedem beide Stimmen mitsingen. Ich hab sie mal gespielt, und kann mich einfach nicht erinnern, in welchem Zusammenhang und mit wem.
Bin gezwungen, ein unangenehmes Gespräch mit einem Herrn H. von meinem Lieblings-Radiosender zu führen. Es geht darum, auszuloten, welche Art von Kooperation beim Festival meines Lieblings-Radiosenders mit dem Kantinenlesen möglich sei. Nachdem seine Maximalforderung, unsere Lesung einfach abzublasen, nicht fruchtet, schlägt er vor, dass eine Band und vier der Radio-Autoren auftreten sollen, und wenn wir unbedingt darauf bestehen, dann eben auch einer von den Lesebühnen. Ich gebe mich so kompromissbereit wie möglich. Aber wie ich später erfahre, lügt mir H. die Hucke voll.
Probiere Poppers autogenes Training aus.
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Jochen wieder in Berlin. Er gibt einen 50-Runden-Lauf auf. Strecken von mehr als 15 km laufe ich nicht mehr im Stadion. Es ist einfach zu frustrierend.
Proust vergleicht den Nachmittags-Mond mit einer Schauspielerin, die erst später auftreten wird. In den 1001 Nächten wird die Tänzerin mit dem Mond verglichen. Wie banal.
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27.7.06
Mail von Volker an die Chaussee, dass er eine blog-basierte Startseite nicht hinkriegt. Als ich anderthalb Jahre später mit großem Aufwand die verschiedenen Wünsche der Enthusiasten zu einem Kompromiss zusammenfasse und diesen vorstelle, wird der zwar zunächst von allen goutiert, später ist er Auslöser von Streits und schlechter Laune.
Jochen trägt Auszüge aus dem Proust-Blog bei der Chaussee vor. Es funktioniert nicht so recht. Dafür ernten meine drei am Lennonschen „In His Own Write“ orientierten Nonsense-Miniaturen großen Beifall. Dass auch ich unter diesem Missverhältnis leide, ahnen weder Jochen noch Publikum.
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Umfangreiche Naturschilderungen stellen Jochens Lesegeduld auf die Probe.
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28.7.06
Mail von Jochen aus Odessa: „bis jetzt alles okay hier, heiss und schwuel.“
Entwerfe eine Impro-Langform, die ich „4.000 Hubschrauber“ nenne.
Erster Auftritt auf dem Badeschiff mit der Lokalrunde. Open Air funktioniert besser als gedacht.
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Jochen erreicht am frühen Morgen Odessa und wird in einem 30 Jahre alten Wolga durch die Innenstadt chauffiert. Frage mich, ob es einer der ganz alten Wolgas ist, bei denen die vordere Sitzbank durchgehend war.
Die Herzen Prousts und Schmidts hängen an „Dingen und Wesen“ der Kindheit. Selbst der schlimmste architektonische DDR-Schrott ist nicht sicher vor Jochens Nostalgie. Dabei hat er doch so ein gutes Auge für die Gegenwart, deren Schönheit sich ihm aber vermutlich erst erschließen wird, wenn sie abgerissen wird.
Von Swann, nach dem das erste Buch benannt ist, erfahren wir nun zum ersten Mal.