Gestern aus Versehen 15 Seiten "zu viel" gelesen. Wie konnte das geschehen? Schmidt liest Proust beginnt auf Seite 15. Am ersten Tag las ich zwanzig Seiten, also bis Seite 35. Am zweiten Tag dachte ich nicht lang nach und glaubte, nun "wieder 35 Seiten" bearbeiten zu müssen. Erst als ich fertig war und mich wunderte, warum es so lange gedauert hatte, bemerkte ich das Versehen.
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Sa, 12.8.06
R. kommt betrunken zum Kantinenlesen und kippt allein während der ersten Showhälfte zwei Wodka und zwei große Bier. Seinen letzten Text muss er abbrechen. Ab wann darf ich etwas sagen? Ich organisiere und moderiere zwar die Show, aber es ist eine gemeinsame Veranstaltung der Lesebühnen. Manchmal wünsche ich, jemand anders würde all diese organisatorischen Dinge und die Verantwortung übernehmen, ich könnte mich zurücklehnen und mich wie alle anderen aufs Vorlesen und Rummäkeln beschränken.
Versuche M. ein neues Projekt schmackhaft zu machen und frage, wie weit ich dabei auf ihn bauen könne. Er erzählt nur, wozu er derzeit nicht in der Lage ist.
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Jochen zögert, nach der Rückkehr von einer größeren Reise den Zustand der Wohnung zu verändern, die ja ein Zeugnis davon abliefert, wie man gelebt hat, bevor man abgereist ist. Bei mir völlig anders. Ich bin, nachdem ich Stapel von alter Wäsche, Post, Zeitungen und mitgebrachtem Plunder errichtet habe, jedes Mal tagelang damit beschäftigt, diese Berge abzutragen. Von den Aufgabenbergen ganz abgesehen. Ein bekanntes Sachbearbeiter-Phänomen: Der Aufgabenberg zerstört den Erholungseffekt innerhalb von zwei Tagen.
J.S.: "Die Tragik der mit einem reichen Innenleben Ausgestatteten, sie stehen im Gespräch immer als Idioten da, nur weil sie sich nicht unter ihrem Niveau ausdrücken wollen. Entweder, man liest nur noch ab, was man schriftlich vorformuliert hat, oder man schweigt. Gut reden können doch nur die, denen ihre Gedankengänge nicht ständig die Sätze verkomplizieren." (Man finde die beiden Kommafehler.) Sie stehen nicht nur wie Idioten da, sie sind auch welche. Gedanken zu formulieren muss trainiert werden, sage ich mir jede Woche, wenn ich meine Ähms bei den Anmoderationen höre.
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So, 13.8.06
Ich schaue morgens dem strömenden Sommerregen zu. Erwäge, auf dem Balkon zu frühstücken, entscheide mich dann aber dagegen.
Lade Chaussee-Filmchen bei Youtube hoch. Schon jetzt ahnt man, wie unmodern diese Technologie bald sein wird. Das Hochladen dauert selbst mit DSL ewig, die Qualität ist miserabel. Von 2006 bis 2008 ändert sich nichts daran, außer dass Google Youtube übernimmt, dabei lässt Google-Video die längeren Filmclips zu. Aber gegen die Vernetzung der Youtube-Community kommt auch Google nicht an.
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Welche Rolle spielen die Zitate in einer wissenschaftlichen Arbeit? Jochen hält es für zumutbar, dem Professor statt des Exzerpts das gelesene Exemplar mit den Anstreichungen zu geben: "Dass ich alles für ihn abgetippt hatte, war doch nur ein Zugeständnis an universitäre Gepflogenheiten gewesen."
Warum hat Swann Odette geheiratet, warum hat er sie je geliebt? In literarischen Werken und im Film habe ich mich das häufig gefragt: Warum liebt Paula den Spießer Paul? Warum liebt Alexis Sorbas den betulichen Engländer Basil?
Proust: "Zweifellos begreifen nur wenige Menschen, welchen rein subjektiven Charakter das Phänomen der Liebe besitzt (sic!) und wie sie sich gern aus Elementen, die in ihrer Mehrzahl aus uns selber stammen, eine deutlich von derjenigen, die im wirklichen Leben den gleichen Namen trägt, unterschiedene Ersatzperson schafft."
Die Liebe so dinglich zu begreifen führt bei Proust offenbar zu all dem Leid. Solange wir die Liebe als Sache verstehen, als Phänomen, das uns erfasst und uns verlässt, ist sie wahrlich eine Grippe. Erst wenn wir zu lieben in der Lage sind, wenn wir verstehen, dass Liebe uns nicht überfällt, sondern Aktivität braucht, sind wir vielleicht in der Lage, sie ansatzweise zu erfassen. Oder anders gesagt: Von nüscht kommt nüscht.