Pressemeldungen zufolge ist der Verlauf von Marx‘ Kapital in den letzten Monaten stark angestiegen. Im Jahr 2006 wurden davon weniger Exemplare verkauft als vom Buch Chaussee der Enthusiasten. Bildung kann ja nie schaden, aber wer hier rasche Erkenntnis erwartet, ist schief gewickelt. Im Band I werden ja zunächst die Produktionsprozesse und die Mehrwerttheorie erklärt. Die ganze Frage des Finanzkapitals, des Bankensystems usw., also gerade das, worum es im Moment geht, wird im III. Band behandelt. Und hier ist es ausgerechnet der Abschnitt V, welcher vom über 70jährigen Friedrich Engels aus Marx‘ Skizzen, umständlichen Berechnungen usw. zusammengefriemelt werden musste. Angeblich hat Engels an diesem Abschnitt allein drei Jahre gesessen, da er aber im Winter wegen seiner Augenschwäche nicht daran arbeiten konnte, musste er jedes Jahr von vorn beginnen, die Krakeleien von Marx neu diktieren, die so entstandenen neuen Manuskriptseiten neu ordnen und dann feststellen, dass es besser sei, einfach selber alles von vorn zu beginnen. In seinem Alter keine leichte Aufgabe: "So arbeiten die Meynertschen Assoziationsfasern mit einer gewissen fatalen Bedächtigkeit." Und wenn wir schließlich beim entscheidenden Kapitel "Kredit und fiktives Kapital" angekommen sind, was müssen wir da als erstes lesen? "Die eingehende Analyse des Kreditwesens und der Instrumente, die es schafft (Kreditgeld usw.) liegt außerhalb unseres Planes." Pech gehabt. Dennoch tut die Lektüre mal wieder gut, auch wenn sie bei der Analyse der Geldfunktion hakt. Da empfiehlt sich schon eher Luhmanns "Wirtschaft der Gesellschaft", obgleich man auch hier den ideologischen Gips ein wenig abklopfen muss. Denn es ist natürlich nicht allein das politische System, das in der modernen Gesellschaft überfordert wird, auch dem Wirtschaftssystem wurde zu viel zugemutet: Wieviele Ökonomen braucht man um eine Glühlampe einzuschrauben? Keinen, der Markt wird’s schon richten.
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Mo, 1.10.06
Volker will einen Monitor geschenkt haben. Ich tippe auf Film-Arbeiten. Für diese Anfrage hätte man ihm vor 10 Jahren einen Vogel gezeigt.
Mein Neffe Nils, der heute Geburtstag hat, fürchtet sich immer noch vor mir. Er hat schon gesagt: „Dan nicht“, als die Rede davon war, dass ich kommen soll. Das Auto, das ich ihm dann schenke, versteckt er unter seinem Bett. Ein richtiger Charakter ist er geworden. Sehr auf Freude angelegt, manchmal auch ein wenig Angst. Echte Wutausbrüche habe ich noch gar nicht bei ihm gesehen. (Die sollten erst später kommen.) Er zählt an seinen Fingern bis neun, dann kommt die zwölf. Allerdings benutzt er die Finger willkürlich, eher rhythmisch. Vor seinem imaginären Feind "Schnapp" hat er noch Angst. Eduard kam auf die Idee, dass dieser nicht mehr durch Uta, sondern durch Nils selber weggeschickt werden solle. Schnapp machte sich rar, bis es vor kurzem noch einen Höhepunkt gab: Die komplette Schnapp-Familie Mama Schnapp, Papa Schnapp, Oma Schnapp tauchten auf. Und eine imaginäre Wespe!
Treffen mit D., den ich so lange nicht mehr gesehen habe. Glücklicherweise mehr als nur ein Update der letzten Jahre. Um Freundschaften zu pflegen braucht man gemeinsame freudige Erlebnisse.
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Wer muss sich wie im Treppenhaus verhalten? Wird Jochen von der Nachbarin eher zurechtgewiesen als die Parterrebewohner, weil diese aggressiver wirken? Würden ihn weniger Leute kennen, wenn er im Parterre wohnte und dann nur schnell in die Wohnung huschte? Meine Erfahrung sagt mir das Gegenteil. Je weiter unten man im Haus wohnt, umso mehr kennen einen die Leute. Ich kenne die privaten Details der jetzigen Parterrebewohner besser als die meiner Nachbarn, ich weiß, was sie beruflich machen, worüber sie sich ärgern, woraus sie Freude ziehen, wer von ihnen raucht und die Folgen ihrer unheilbaren Krankheiten.
Marcels Großmutter wird sterben. "Ich begriff, dass meine Mutter diesen [Gesichts-] Ausdruck seit Jahren für einen ungewissen Schicksalstag schon vollkommen fertig in sich trug." – Ist es das, was Marcel ständig enttäuscht? Die permanenten Authentizitätserwartungen, die niemand erfüllen kann, am wenigsten er selber?
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2.10.06
Noch ein Bekannter, der mich ohne zu fragen in seinen Newsletter-Verteiler aufgenommen hat. Wenn es ein Freund oder ein Feind wäre, könnte man ihn bitten, das zu unterlassen. So aber sähe es so aus, als interessiere man sich nicht für ihn.
Der neue Titel für die Dunkeltheater-Show wird vom Veranstalter ignoriert. Später werden sie uns vorwerfen, nichts vorgeschlagen zu haben.
Quälende Organisation der Weihnachtsfeier. Fußballspiele, Jobs, Familiäre Verpflichtungen machen es schwierig, aber dennoch sollte es "spontan" sein, nicht so verplant, sonst wäre es unnatürlich. Um einen Satz von weiter oben zu zitieren: "Die permanenten Authentizitätserwartungen, die niemand erfüllen kann, am wenigsten er selber"
Kündige meine Wohnung, in der ich nun mit kurzen Unterbrechungen seit November 1991 gewohnt habe – 15 Jahre!
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Romananfang J.S.: "Oft bestellte er im Restaurant dasselbe wie seine Freunde, nur um sicherzugehen, dass sie nichts Besseres bekamen als er."
Blutegelbehandlung der Großmutter. Diese ist ja nun ziemlich aus der Mode gekommen, zumal sie vor allem im 19. Jahrhundert übertrieben wurde. Dabei war sie gar nicht mal so unzweckmäßig, da sich in den vom Egel eingespritzten Wirkstoffen auch Entzündungshemmer befinden. Merke: Der Egel ist die Aspirin der Vormoderne.
Würde des Doktors beim Geldempfang. Er "trat in denkbar bester Form wieder ab, indem er schlicht das Kuvert mit dem Honorar einsteckte, das man ihm übergab. Es sah dabei so aus, als habe er es überhaupt nicht bemerkt, und wir selbst fragten uns einen Augenblick, ob wir es ihm denn wohl gegeben hätten, mit einer so taschenspielerhaften Geschicklichkeit ließ er es verschwinden"
Das erinnert doch zu sehr an Wilhelm Busch, als dass ich mir das Bild verkneifen könnte:
"Der Doktor, würdig wie er war
nimmt in Empfang sein Honorar."
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Di, 3.10.06
Alle zwei Wochen bekomme ich eine "witzig" formulierte E-Mail mit einer Text-Kostprobe und der Bitte, eingeladen zu werden. Noch unangenehmer sind "Agentinnen", die sich dann als die Freundin oder Schwester des Autoren entpuppen, die fordern, dass ihr Klient beim Kantinenlesen auftritt und auf eine freundliche Absage pampig reagieren.
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Eine Liste von 18 Dingen, die Jochen glücklich machen. Davon
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fünf technische Errungenschaften
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vier medizinische Gegebenheiten, Umstände oder Gegebenheiten
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eine Personengruppe
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vier biographische Umstände
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ein Lebensmittel
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ein Kunstwerk
Überraschend taucht Albertine wieder bei Marcel auf. Er wünscht sich, sie zu küssen, aber "nichts verhindert so erfolgreich wie intensives Wünschen, dass die Sachen, die man sagt, auch nur im entferntesten denen gleichen, die man denkt."
Das ist ja nun mal eine erstaunliche Erkenntnis für ein Gemüt wie Proust. Die Konsequenz, das zu angestrengte Wünschen fahrenzulassen, sieht er aber nicht. Sich zu öffnen für die Überraschung. Handeln statt Wünschen. Es scheint fast, als wolle er enttäuscht werden.
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Mi, 4.10.06
Vor fünf Jahren bot mir die Agentin M. an, mich zu vertreten. Skeptisch gab ich ihr meine Telefonnummer und Mail-Adresse. Seitdem bekomme ich ihre Werbemails für Künstler, zu denen ich nicht gehöre.
Werde kurz nach 9.00 Uhr vom Telefon geweckt. Ein Anruf aus der WBM, um einen Termin zur Abnahme der Wohnung auszumachen. Fertige sie im Bett ab. Was kann sie dafür. Als ich im Büro gearbeitet habe, waren Anrufe auch das erste, was ich erledigt habe.
Stehe nach kurzer Ruhe auf und jogge zum Bäcker in der Lehmbruchstraße. Die Brötchen sind so gut dort – ein Jammer, dass ich das erst jetzt, so kurz vor dem Wegzug entdecke.
Will mit X darüber diskutieren, wie schwierig es ist, in der Improvisation auf immernegative Figuren zu reagieren. X geht beleidigt, ohne zu antworten.
Zuhause noch ein Streit um Kleinigkeiten. Am Ende schlafen wir aber friedlich ein. Meine Tage sollten schöner sein.
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Eine Liste von sechzehn Dingen, die Jochen unangenehm sind. Davon
– sechzehn Unannehmlichkeit physischer Natur
Die Pankowerin schreibe, sie sei es möglicherweise nicht wert. (Da müssten eigentlich schon die Alarmglocken läuten.)
Marcels Gedanke, es fehle einem ein Organ zum Küssen, inspiriert Jochen zur Idee für ein Sachbuch: "Die Welt der Liebkosungen", mit allen in der Tierwelt vorkommenden Sabber-, Rüttel- und Stupsvarianten und den dazugehörigen Spezialorganen. Beim Menschen in Ermangelung einer Kussvorrichtung eben die Lippen.
Sie hatte "getan". Unklar, ob Marcel und Albertine nun Sex hatten oder nur einander geküsst. Vielleicht ergibt sich ja das eine aus dem anderen zwangsläufig und braucht von Proust gar nicht erst erwähnt zu werden, so wie ein amerikanisches Mädchen ganz selbstverständlich mit dem Jungen "zusammen" ist, wenn sie miteinander im Kino oder Eisessen waren.
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Do, 5.10.06
Der Japaner fragt nach den LPs. Ein weiterer Ebay-Käufer, der sich meine CDs billig gesichert hat, kommt, um sie persönlich abzuholen. Er begutachtet schamlos meine Wohnung und fragt, ob ich nicht noch andere Dinge zu verkaufen habe.
Volker kündigt eine lange Geschichte an, die "kein Brüller" sei, ist sie dann aber doch.
Preiserhöhung bei der Chaussee von drei auf vier Euro. Die Show dann sensationell gut. Keine Beschwerden über zu hohen Eintrittspreis, durchweg gute Texte, sehr witzige Ansagen, die Bö zu fünft plus Andrés fabelhaft, ein Ereignis. Im Verlauf der nächsten Monate verlieren wir ungefähr 5 % der Zuschauer. Ob das mit dem Eintrittspreis zu tun hat, wissen wir nicht. So viele Zuschauer wie an diesem Abend haben wir bis zum 3.1.2008 nicht mehr.
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J.S: "Ich war nach der Wende enttäuscht, als ich erfuhr, dass es bei der Stasi keine Aufzeichnungen über mich gab." Ich auch. Es gab nur ein Kärtchen über einen Vorgang mit der Referenz zu "E." Wahrscheinlich der E. aus der Parallelklasse, der noch zu EOS-Zeiten einen Ausreiseantrag gestellt hatte. Aber den kannte ich gar nicht richtig. Interessant hätte ich es aber auch gefunden, wenn ich als IM geführt worden wäre, den man heimlich abgeschöpft hat. Oder gab es so was nur in der Phantasie Gysis?
Jochen kennt die Autonummer des Familien-Trabis noch auswendig. Ich sogar von zweien: "IM 51-89" und "IW 96-44". Ich war der Einzige in der Familie, der bemerkte, dass die Summen der beiden zweistelligen Zahlen dieselbe ist 51+89=140 und 96+44=140. Zauberei! Ich kannte auch alle 44 Namen aus unserem Haus. Heute bekomme ich nur mit Mühe die der Bewohner vom Parterre zusammen.
Die drei Lieben – Albertine, Madame de Guermantes, Gilbertes – mit denen Marcel auf verschiedene Weise und gleichzeitig zu tun hat, scheinen ihn zu überfordern. Er vergleicht sie mit den Skizzen eines Malers, der auf dem Weg zum vollkommenen Werk ist. Als sei die Skizze "nur die Skizze", als sei sie, da sie einem anderen Werk dient, weniger wert.
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Fr, 6.10.06
Mail von B., die gern mit uns auftreten würde und dies in den folgenden Monaten immer wieder von sich behauptet, aber nie Zeit hat.
M. will ein Klassentreffen organisieren.
Die Aymara in den Anden deuten nach hinten, wenn sie die Zukunft bezeichnen wollen, da man sie ja nicht sehen kann.
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J.S.: "Nichts ist so langweilig, wie die Zeitung von heute. Dagegen ist die Zeitung von gestern ist eine berauschende Lektüre und Fernsehen von gestern eine verstörende Erfahrung."
Jochen hat seinen Fernseher eingemottet. "Das Fernsehen hat seinen besten Zuschauer verloren. Und ich glaube, es hat sich nie ganz davon erholt."
M.P.: "Die Ideen, die mich heimgesucht hatten, verflüchtigten sich jetzt rasch. Sie sind wie Göttinnen, die zuweilen geruhen, einem einsamen Sterblichen an der Biegung des Weges sichtbar zu erscheinen, sogar in seinem Zimmer, in das sie, während er schläft, im Türrahmen stehend, ihm ihre Verkündigung tragen. Doch sobald man zu zweit ist, verschwinden sie; Menschen, die stets in Gesellschaft leben, bekommen sie nie zu Gesicht."
Dazu J.S.: "Scheußliche Wahrheit, wie ein erbarmungsloser Urteilsspruch für jeden, der vorhatte, sich durch Schreiben auf die Menschen zuzubewegen." Die darauffolgenden Sätze des Blogs sind im Buch hinweglektoriert: "Aber Isolation muss ja auch nicht die einzige denkbare Methode sein. Vielleicht gibt es auch geselligere Arbeits- und Denkformen."
Warum?