Es wird Weihnachten. Man denkt an Geschenke oder ans Schenken. Interessant, dass es bei Liebes-Paaren meist um den Mann geht, wenn sie nicht schon jahrelang verheiratet sind. Er schenkt ihr Dinge, die sie über seine Welt kennen sollte. Sie schenkt ihm Dinge, die zu seiner Welt passen. Männer sind anscheinend nur ungenügend in der Lage, sich in die Welt der anderen hineinzuversetzen oder es kostet sie größere Mühe.
Sa, 9.12.06
P. fragt an, ob ich mit ihm ein Werbevideo improvisieren will. Unerwartet.
Eine Pressemitteilung von Papenfuß & Freunden wird diskutiert.
Lesebühnen haben Probleme:
1. Lesebühnen sind so überflüssig wie ein Kropf.
2. Sie publizieren regelmäßig banales Zeug.
3. Alle Versuche, das Lesebühnenkonzept in seiner ursprünglichen Funktion als Praxis der Revolte gegen den Literaturbetrieb aufrechtzuerhalten, sind heute reaktionäre Utopien.
4. Lesebühnen kultivieren das Bild des schreibenden Dilettanten, etwa mit einer inhaltsleeren Geschichte über den Versuch, eine inhaltsleere Geschichte zu schreiben.
5. Lesebühnen sind erfolgreicher als Lesungen, weil Lesebühnenautoren beim Schreiben ans Publikum denken.
Daher haben sich verschiedene Künstler aus dem Umfeld Art Pub Wallywoods, Baiz, Bornholmer Hütte, Luxus, Pieper und Teuber, Seifen und Kosmetik, Torpedokäfer, WC und ZK entschieden, darauf aufmerksam zu machen und zwei Lösungen anzubieten:
1. Am Montag, den 11. Dezember und am 8. Januar (und fortan an jedem 1. Montag des Monats) wird im Art Pub Wallywoods die Käsebühne "Achim Wendels Rumpelofen" stattfinden. Es lesen Velimir Kaminer, Jochen Schmitz, Stone und Urahne; Gast am 11.12.: Tone Avenstroup.
2. Ab sofort erscheint jeden Monat ein Buch zum Thema. Das erste heißt "Schönhauser Allee" von Velimir Kaminer, das aus Rechtsgründen unter dem Namen Alexander Krohn veröffentlicht wurde. Die Bücher gibt es im Kaffee Burger, im Baiz und im Art Pub Wallywoods.
Da steckt so viel Dummheit drin, dass es einem schon wieder leid tun kann. Bei schätzungsweise 20.000 Texten, die von Lesebühnenautoren verfasst wurden, nur das Banale, das es natürlich auch immer wieder gibt, zu sehen, ist schon böswillig. Und was heißt banal. Ist ein Text automatisch "nicht banal", wenn er "politische" Themen aufgreift? Oder soll man banal als Gegensatz zu monumental verstehen? Dann greift dir Kritik auch fehl, denn Kurzgeschichten haben ihre eigene Logik, so wie auch eine Kleinst-Plastik nie monumental ist, sondern eben meist heiter. "Revolte gegen den Literaturbetrieb", damit hatten die wenigsten je was im Sinn. Die meisten wollten einfach nur Geschichten vorlesen. Den schreibenden Dilettanten kultivieren die wenigsten. "Beim Schreiben ans Publikum denken" ist auch nur eine Leerformel. Man könnte es nämlich auch umdrehen: Schreiben ist, wenn ich nicht lediglich Fingerübungen betreibe oder Tagebücher verfasse, immer auch Kommunikation. Ich schreibe ein Kinderbuch eben anders als einen Krimi. Dumm ist also, wer nicht daran denkt, für welche Situation er schreibt. Was aber setzen die Leute dagegen? Kalauer. Traurig. Es sind nicht die Lesebühnen, die Probleme haben. Sondern Papenfuß & Freunde haben ein Problem mit den Lesebühnen.
Familien-Geburtstagsfeier. Es funktioniert immer dann, wenn alle einigermaßen entspannt sind, keine zu hohen Erwartungen haben, aber dennoch freundlich und aufmerksam sind. Bei Nils hab ich endlich einen Stein im Brett – mit Fratzenschneiden.
Kantinenlesen kommt an diesem Abend nicht so recht ins Rollen.
Kein Eintrag bei Jochen.
So, 10.12.06
Wieder mehrer Stunden Planung des Kantinenlesen: Wer kann/will mit wem? Wann hat wer Zeit? Welche Kombinationen sind zu häufig? Mindestens zwei Autoren sollten gute Laune garantieren. Maximal zwei ausgesprochene Experimente im Viermonatsrhythmus. Denjenigen hinterhertelefonieren, die sich nicht gemeldet haben und/oder die nicht den Lesebühnen-Mailverteiler lesen. Und dann gibt es doch immer Beschwerden, wie: "Ich hab doch vorletztes Mal schon mit XY gelesen." Oder "Ich will nicht zwei Mal im März, ist doch klar!"
Vom Workshop, den ich in einem Anfall von Besessenheit einerseits und Großzügigkeit andererseits erst 21.40 Uhr beende, fahre ich rasch mit dem Fahrrad nach Hause, steige dann ins Taxi, um noch etwas von Ninas Aufführung mitzubekommen. Chancen gering, da es schon 20.30 Uhr beginnen sollte. Komme zum letzten Akt – "Edelweiß", was ich auch schon in der Chaussee gesehen habe. Dann gehe ich, nachdem ich etliche ihrer Beglückwünscher abgewartet habe, auf sie zu und bedanke mich für alles bei ihr, da sie mir doch den größten künstlerischen Input dieses Jahres gegeben hat.
Partyangewohnheiten auf der After-Show-Party. Unmögliches Verhalten, sich mit dem Rücken direkt vor jemanden zu stellen. Oder: "Mal kurz" wegzugehen und dann nicht wiederzukommen. Da ich aber auch kein großes Gesprächsbedürfnis habe, ist mir das auch ganz recht. Jemand aus dem Contact-Workshop, bei der ich mir wirklich Mühe gebe, zu fragen, kommt schon bei den Antworten ins Schleudern und stellt sich und ihr Leben als dermaßen öd und fad dar, dass jeder Normaldenkende von Langeweile ergriffen sein müsste. Dabei ist das, was sie tut, durchaus interessant, nur eben für sie nicht. Warum sollte man sich dann als Fremder dafür interessieren?
Wieder schöne Koinzidenz: Jochen ebenfalls auf einer Party und beobachtet dieselbe Angewohnheit bei einer früheren Flamme:
"Es kann auch passieren, daß sie mitten im Gespräch die Gläser füllen geht und verschwunden bleibt. Später findet man sie draußen im Garten mit einem Bekannten, und sie zeigt mit dem Finger auf das Glas, das sie für einen irgendwo abgestellt hat."
Jochen "erörtert endlos einer Verflossenen [s]einen traurigen Zustand (…), worauf es heißt, ich würde wie immer nur von mir reden." Erst in der vergangenen Woche habe ich verstanden, was einen eigentlich als Zuhörer bei Monologen stört. Es ist gar nicht so sehr das Monologisieren, sondern das Gefühl, dabei nicht wahrgenommen zu werden, nicht einmal als Adressat der Mitteilung. Gibt es Pausen, Rückkopplungsformeln und -gesten, kann man auch längeren "Erörterungen" recht mühelos und interessiert folgen.
Romantische Erinnerungen an die Rykestraße. Auch ich habe hier das erste Mal mit zehn eine Altbau-Wohnung gesehen, in der wirklich alles faszinierend war: Eine geschmackvoll eingezogene Zwischenetage im Wohnzimmer auf der das Ehebett stand, man gelangte auf einer flachen Treppe dahin. Ein kleines Jugendzimmer eines Vierzehnjährigen, der nicht nur West-Comics besaß, sondern sogar rare Sonderausgaben der Digedags-Amerika-Serie, die ich verschlang. Eine aus Gründerzeitstücken zusammengebaute Klo-Spülung, ein Emaille-Schild mit dem Hinweis, dass der Durchmesser des Klo-Rohrs nur 5 Zentimeter betrage. Ich brachte das Ganze zum Überlaufen und die vierzehnjährige Tochter der Familie hasste mich dafür, dass sie es war, die die Brühe wegmachen musste. Ich telefonierte stundenlang mit allen Ansagen aus dem Telefonbuch (bei uns hatten nur die Genossen Telefone). Und sie hatten eine Höhensonne aus dem Westen. In manchen Situationen hätte ich meine Familie eingetauscht für diese Exoten. Aber der Unterschied war dann doch nicht so krass wie in "Das Leben der Anderen".
Aber auch die Nostalgie geht mir zu weit. Die Häuser verfielen damals, Taubenzecken in den Dachgeschossen und manchen Häusern. Es gab den Fleischer, die Synagoge und das war’s an sozialem Leben auf der Rykestraße. 1989/90 arbeitete ich dann dort in der Filiale eines Außenhandelsbetriebes. Meine Chefin meinte, ich solle eine andere Jacke tragen. Wenn das die Handelspartner sähen. Hätte sich je ein Handelspartner in die Abrechnungs- und Buchhaltungsstelle des Betriebs in der Rykestraße verirrt, so hätte in die Straße wohl mehr geschockt als meine Jacke. Im Frühjahr 1990 kamen dann Busse voller Touristen, die immer wieder dasselbe Motiv aufs Kor nahmen. Srezki- Ecke Hufelandsstraße – die verkommene und die zu Tode renovierte Straße.
Ohne Gedächtnis keine Identität. Erinnerungen an Luft, Duft und Licht. J.S.: "Professor Brichot" gedenkt auf diese Art des alten Salons der Verdurins, vor ihrem Umzug in die neue Wohnung."
Den Tod von Elstir und Madame de Villeparis erwähnt Proust/Marcel beiläufig.
Verlorene Praxis sei: "Ein Fis spielen, bei dem Enesco, Capet und Thibaut vor Neid erblassen." Es ist nie das Fis, es ist das Fis an der richtigen Stelle, und es ist das Wissen, dass es in einer bestimmten Sequenz auf das Fis ankommt. Nicht nur Ausdruck, sondern auch Timing.
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Mo, 11.12.06
Spätes Aufstehen bei Steffi in der WG. Das letzte Mal, dass ich hier übernachte? Am Abend sehe ich: Es ist T.s Geburtstag. Was ich nie vergessen werde, da bei ihm meine Monats- und Tageszahl (12/11) vertauscht sind.
18 CDs vom Rolling Stone für 4,50 verkauft. Jemand freut sich jetzt. Blur von Blur für 1 Euro. Das war meine erste selbstgekaufte CD. Geschenkt bekam ich die erste 1992: Apparatschik. Ich hatte mich bis 1999 gegen den Kauf eines CD-Players gesperrt. Und jetzt sehe ich es nicht ein, mir meine Wohnung mit CDs vollzustellen, wenn die CD-Haltbarkeitsgarantie, mit der sie einem in den 80ern dieses Medium schmackhaft machen wollten, ein Hohn ist, Ich glaube, sie haben damals CDs mit Marmelade beschmiert. Bei 128kB pro Sekunde der mp3s hören nur noch trainierte Experten in bestimmten Frequenzen den Unterschied. Bei 164 niemand mehr.
Jochen schlägt schon jetzt Gestaltung des neuen Hefts vor. [Nachtrag 2008: Es wird noch über 1 Jahr dauern, bis es dann fertig ist.]
Meine Fratzenschneide-Aktion hat wohl dauerhafte Wirkung: Uta sagt, mein Neffe erkundigt sich nach mir und verlangt von seiner Mutter "komisches Gesicht" zu spielen.
Jochen über die Frage, ob man Proust-Leser so identifizieren könne, "wie Charlus ‚Invertierte‘ ausmachen kann"? Nach einem knappen halben Jahr kennt Jochen erst drei Komplettleser persönlich. Was verbindet solche Menschen? Es ist ja mehr nur als dass sie etwas gemeinsam kennen würden. So bin ich seit über zwanzig Jahren auf der Suche nach Menschen, die so wie ich den polnischen surrealistisch angehauchten Film "Ich habe mein Tantchen geschlachtet" gesehen haben, der mal zwei Tage im Babylon lief. Man findet weder diesen Film, und auch Spezialisten für osteuropäische Kinematographie zucken nur mit den Schultern oder schauen mich an, als wolle ich sie veräppeln, was ich ihnen bei einem solchen Filmtitel ja auch nicht übelnehmen könnte. Die Lektüre der Recherche geschafft zu haben, ist da noch etwas anderes, der Wille zum Durchhalten, die unbestreitbare Leistung, sich durch solch einen Wälzer durchgearbeitet zu haben, die Zweifel, ob es sich denn nun wirklich lohnen würde, sich auch noch durch die zehnte Salonparty durchzurackern, ob es denn ein Lektüregewinn wäre, die Gebäckbeschreibungen zu überspringen usw. Trügen Proustleser zum Zeichen ihrer Leistung so wie Bungee-Springer "I-did-it"-T-Shirts, könnten sie sich, so wie Langstreckenläufer im Park, bei Begegnungen nickend oder mit einem erhobenen Finger grüßen. Vielleicht wären T-Shirts ein zu banales Kleidungsstück. Ein Federhut schiene angemessener.
Die Lektüre des vierten Bandes lässt die anderen verblassen. J.S.: "Der Charlus des ersten Bands ist inzwischen ein anderer für mich, wir sind gemeinsam alt geworden." Wäre also Jochen auch für Charlus ein anderer? Charlus deutet eine Jugendaffäre mit Swann an. Durch nebenbei eingestreute Informationen müssen ganze Episoden, ja vielleicht das ganze Buch neu interpretiert werden. J.S.: "Immer mehr Gründe sammelt man, das Buch noch einmal von vorn zu lesen."
Man intrigiert gegen Charlus, um Morel zu veranlassen, sich von Charlus zu trennen. Weshalb noch mal?
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Di, 12.12.06
Müde stehe ich auf. Mit den Gehwegarbeiten, die man hier alle 1-2 Jahre für nötig hält, sind sie diesmal wohl fertig, wenn ich ausgezogen bin. [Nachtrag 2008: In meiner neuen Straße haben sie noch kein einziges Mal den Gehweg aufgerissen.]
Fahre mal ausnahmsweise ohne Rucksack und Taschen los. Genieße die Freiheit, nicht schleppen zu müssen. Wie wäre es, ohne all den Besitz zu leben? Ohne die Bücher, die Platten, die ganzen Unterlagen und Erinnerungsstücke, die man wahrscheinlich sowieso kaum noch mal benutzt?
Kistenschleppen. 6 Kisten in den Polo, Kleinkram. Als wir es in der neuen Wohnung ausgeladen haben, beginnt M., uns gutgelaunt zuzutexten. Ich weiß nicht, was ich da noch tun soll. Ist es meine Unfähigkeit, mich auf sie einzustellen, was S. ja so gut vermag? Oder ist es ihre Unfähigkeit, mal zuzuhören und der Situation eine Chance zu geben?
Als wir Nils abholen, bekommt er wieder einen Schreikrampf aus Angst vor mir. Das Fratzenschneiden vom Sonntag hatte doch kein dauerhaftes Vertrauen geschaffen. Er ist ein Kind, denke ich, warum solle ich es ihm da übelnehmen. Und der zweite Gedanke, der mich seit Wochen verfolgt: Wir sind ja alle nur Kinder mit unseren Ängsten, Nöten, Frustrationen. Wenn wir ekelhaft zueinander sind, sind wir in dem Punkt eben noch nicht erwachsen geworden. Und soll man diesen Kindern böse sein? Aber dieser Gedanke wird schon Minuten später auf die Probe gestellt, als mich R. zutextet, so wie vorher M.
Ein labiles Bücherregal geht an einen Platten-Freak für 1 Euro weg.
Sch. hatte schon nach 1/2 Jahr Impro-Kursen keine Probleme damit, sich als "Schauspieler" zu bezeichnen, was sich prompt auszahlte. Warum auch? Das war es, was er tat. Vielleicht hab ich mir da manchmal mit meiner Bescheidenheit zu oft ein Bein gestellt? Es dauerte Jahre, bis ich mich als "Autor" bzw. "Schauspieler" bezeichnete. Vielleicht auch, weil ich diese Etikettierungen mindestens so albern fand wie den österreichischen Titel-Fetischismus ("Frau Magister").
Es ist alles eine Frage der Perspektive, wie man die Welt wahrnimmt. Selbst der Polnischreiseführer lädt ein, die Kennenlern- und Flirtlektionen als tragisches Dramolett zu lesen. So wie für den Frisch- und Glücklichverliebten die Welt bunter und lebenswerter erscheint, so sind dem Traurigen dieselben Zeichen Symbole des Verhängnisses. Es ist schwer, aber es funktioniert auch in die umgekehrte Richtung: Die Zeichen der Welt als Symbole des Glücks lesen und so die Depression bekämpfen. Ist zumindest gesünder als Tabletten. Natürlich auch anstrengender, und Jochen würde wahrscheinlich sagen, seine Depressionen gehörten schließlich zu ihm, warum solle er sich um sie betrügen. So wie die Katarrhe zu ihm gehören.
Charlus erwischt der Verrat auf falschem Fuß und er ist nicht mehr in der Lage zu reagieren. J.S.: "Rührend, wie die Königin von Neapel noch einmal erscheint, um ihren vergessenen Fächer zu holen, die Szene überblickend, sofort alles durchschaut, die Verdurins durch Nichtachtung straft und ihrem armen, alten Vetter den Arm reicht."
Unklares Inventar: Die Königin von Neapel. Hab ich was verpasst? Klingt ein bisschen wie die Schneekönigin, die auf einmal herbeigerauscht kommt.
Marcel kehrt heim und weiß doch, dass er zuhause bei Albertine mit Denken aufhört. Die hellen Streifen der Fensterläden wie "das leuchtende Gitterwerk, das sich hinter mir schließen würde und dessen unverbiegbaren goldenen Stäbe ich für eine ewige Knechtschaft selbst geschmiedet hatte."
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Mi, 13.12.06
Wache sechs Uhr schon auf. Der Umzug lastet wie ein großes Gewicht auf mir – ich kann kaum etwas tun, ohne diese Last mitzuspüren. Die gute Laune der anderen raubt mir fast die Nerven.
Und die Deckenlampe für 6,50 Euro. Ein Großteil meines Hausrats hab ich damals aus dem Nachlass der verstorbenen Mutter einer Kollegin meiner Mutter geschenkt bekommen: Couch, Teller, Kanne und eben die Deckenlampe. Wie lange hab ich diese jedem Geschmack höhnenden Gegenstände besessen?
Neues Angebot: Die Bö solle nur noch einmal pro Monat spielen. Als ob das das Problem lösen würde.
Zuhause in die Sauna. Der Betreiber liegt selber drin. Versucht ein Gespräch, das ich schon antizipiert hatte. Ich antworte einsilbig, so dass er nach vier Fragen merkt, dass ich nicht zu den Sauna-Quatscher gehöre.
Zwei Freunde (Schwule?) kommen dazu. Man muss sich konzentrieren, um zu entspannen. Positiv denken.
Fahre dann doch noch mal ins Zebrano und sehe die letzten 20 Minuten der Show. Steffi hervorragend.
Beim Kerzenauspusten zum Geburtstag hat sich Jochen offenbar das Falsche gewünscht: "Gestern haben wir unser letztes Gespräch geführt, das sich immer noch anfühlte wie ein Gespräch zwischen Liebenden, nur dass sie danach vermutlich erleichtert war. Und heute kam mit der Post mein neuer Vertrag."
Koinzidenz: Am selben Tag macht Marcel Schluss mit Albertine. Man könnte schlussfolgern, dass vielleicht Proust-Leser zum Schlussmachen einladen.
Die bekannten Proustiaden. J.S.: "Er lügt, um sie zu halten, und weil er lügt, geht er davon aus, dass auch sie lügt. Aber lügt sie wirklich, oder ist er nur unfähig, ihr zu vertrauen?" Da liegt der Hase im Pfeffer. Wer Vertrauen bricht, kann einerseits kein Vertrauen erwarten. Andererseits ist er selber auch nicht mehr in der Lage zu vertrauen. Vertrauen aber ist die Grundlage dauerhaft erfolgreicher Kommunikationssysteme, wie wir zurzeit (Ende 2008) am Wirtschaftssystem schön beobachten können: Teilsysteme kollabieren, und reißen vor allem deshalb andere Bereiche mit sich, weil das Vertrauen schwindet. Ähnliches lässt sich von Zeit zu Zeit auch bei anderen Kommunikationssysteme beobachten: Politik und Recht (Korruption) und eben auch die intime Kommunikation der Liebe. Hingegen verfügt z.B. das Kommunikationssystem Wissenschaft offenbar über genügend Immunkräfte, die regelmäßige Vertrauensverluste verhindern.
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Do, 14.12.06
Langsam geht es besser. Ich beginne mit dem Packen.
Eine angebliche Komikerin und Improvisiererin, die aber jedem konstruktiven Angebot auszuweichen scheint, bis sie schließlich lediglich das Kantinenlesen als Probebühne für die Generalprobe für ihre Prüfung benutzen will. Oder sollte ich etwas missverstehen?
Habe jetzt ein Google-Account.
Uli fährt für mich bei meinem Umzug.
Tube hilft mir beim Einrichten meines Blogs. Was der mir schon in Computer- und Softwarefragen geholfen hat, übersteigt meine Fähigkeiten zu Dankbarkeit.
Und dann gibt es noch jene Agentur, die sich vor fünf Jahren mal um meine Sachen kümmern wollte. Stattdessen bekomme ich jetzt deren Newsletter mit Ankündigungen von Shows diverser Komiker, die ja in ihren Augen profitabler sein müssen als ich.
Den Abend beschließt ein wieder außergewöhnlich schöner Chaussee-Abend.
Die Geschichte von "Lutze", dem Krebsforscher in London, scheint so haarsträubend, wenn ich sie nicht selbst fast so erlebt hätte. Aber meine Akropolis war Ghana, mein Athen polnische Kleinstadt Wroclawek, mein Irish Pub war Torun. Und die Tamilin war bei mir eine Irin, von der mir ein scheußlicher Schnappschuss geblieben ist.
Die Drohung, sich zu trennen, nimmt dann Marcel doch zurück. Man hätte es ahnen können – zu sehr scheint er dieses Spiel, in dem er immer der Leidende bleibt zu brauchen.
J.S. "Er sieht sich aber in guter Gesellschaft mit Nationen, die sich mit Krieg bedrohen, um Zugeständnisse zu erzwingen, während keine der beiden Seiten weiß, ob die andere wirklich ernsthaft zum Krieg bereit gewesen wäre, wenn man nicht eingelenkt hätte."
Die Liebe überhaupt unter solchen Gesichtspunkten zu sehen, geschweige denn sie wie im Gefangenen-Dilemma-Spiel praktizieren zu wollen, die Habsucht dominieren zu lassen, widerspricht dem Lieben völlig. Marcel hat die Liebe schon jetzt wieder verloren.
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Fr, 15.12.06
Wollen wir bei unserem Umzug auf Ökostrom umsteigen? Wann wenn nicht jetzt? Wenn man sich erst mal eingerichtet hat, wird jede Änderung anstrengend.
Von der Schreibmaschine von 1941, die ich von Tante Hedwig geerbt hatte, trenne ich mich nun auch. Sollte ich sie etwa aufheben, bloß weil ich auf ihr im Grundstudium noch meine Seminararbeiten geschrieben habe?
Meine Frage, ob wir nun doch bei der Chaussee auf komplette Rauchfreiheit umsteigen, löst eine Diskussion aus, die nach zwei Jahren im Grunde immer noch nicht beendet ist, obwohl man inzwischen sogar juristisch keinen Spielraum mehr hätte.
Jochen beginnt seinen Eintrag mit sechzehn Zeilen Zusammenfassung der Kunstgeschichte, die schon in dieser Kürze ein knackiger Lesebühnentext wären. Aber Jochen wäre nicht Jochen, wenn er der Sache nicht noch einen Dreh geben würde, eineinhalb Seiten Werbung für Sophie Calle, deren Countup to Happiness man Jochen in seiner Lage wünschen möchte.
Erstaunliches bei der Lektüre:
– Marcel hat schon mit "Der Arbeit" (d.h. wohl: dem vorliegenden Werk) begonnen.
– Die verstorbenen Cottard und Elstir leben wieder
– Der Gedanke einer Fußnote taucht eine Seite später im Fließtext wieder auf.
Ich würde mich fragen, ob Proust zeitgenössische Autoren parodiert oder ob sein Verlag bei jemandem in der Kreide stand, der seinem schwachsinnigen und offenbar analphabetischen Sohn unbedingt den Job als Lektor zuschustern wollte.
Da Albertine nicht mehr "zur Flucht gerüstet" scheint, verliert sie für Marcel an Attraktivität. Erinnert an das Lied von Stereo Total "Wie soll isch misch nach dir sähnen, wenn du stets bei mir biest."
Marcel erklärt Albertine, das Wesen der Kunst bestehe darin, "dass die große Schriftsteller immer nur ein einziges Werk geschaffen oder vielmehr ein und dieselbe Schönheit, die sie der Welt bringen, gebrochen durch verschiedene Medien, uns vor Augen geführt haben." (M.P.) Deshalb die vorangestellten Reflexionen? Oder doch Koinzidenz?
***
Sa, 16.12.06
Stehe mit Kopfschmerzen auf. Kann nicht weg, da ich auf die Lampenkäuferin warten muss. Ich sehe mich in meiner Wohnung um. Womit ich mir in den letzten achtzehn Jahren meine Wohnungen verhunzt habe, ist eigentlich auch schrecklich. Punker-Attitüde gepaart mit Omahaftigkeit. Hauptsache billig. Andere haben auch bei aller Billigkeit darauf geachtet, dass die Dinge nach etwas aussehen. Wie habe ich all die beneidet, die mit dreißig Mark auf den Flohmarkt gingen und zielsicher das herausfanden, was in ihre Wohnung passt. Bei mir leidet alles, was mit optischem Vorstellungsvermögen zu tun hat. Aber auch hier helfen keine Ausreden mehr – ich muss es in die Hand nehmen, trainieren.
Schöner Freestyle Rap Workshop mit Ben von den Ohrbooten. Wenn er kein Popstar geworden wäre, hätte er das Zeug zu einem großartigen Lehrer, der es allein schon durch seine positive Art versteht, andere mitzureißen.
Ein Bö-Brainstorming kommt nicht zustande, die Hälfte der Besetzung fehlt. Man versucht, ein paar Pfähle einzurammen. Z bekommt gleich bei kleineren Themen einen Rappel, wenn sie das eigene Universum übersteigen, und man fragt sich, ob Zickigkeit auf der Schauspielschule als Pflichtfach gelehrt wird. Es führt, und das sehe ich wieder und wieder, zu gar nichts, wenn Fragen als Prinzip diskutiert werden statt konkret.
Am Abend ein eher ruhiges Kantinenlesen. Aber Robert Naumann strahlt über allen.
Kein Eintrag bei Jochen.
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So, 17.12.06
Breche das Schreiben ab, weil ich im Hinterkopf schon einen Brief formuliere, der, wie ich glaube, nicht länger warten kann. Maile ihn noch Steffi mit der Bitte, zu prüfen, ob er angemessen ist. Wir diskutieren dies, aber auch Umzugskleckerkram. Später kann ich nicht mehr die Schreib-Energie aufbringen.
Bücher, Akten, Platten und CDs des Wohnzimmers sind nun fast vollständig eingepackt, in ca. 30 Kisten. Ich spüre einen kleinen Schmerz im unteren Rückenbereich. Dabei trage ich die Kisten fast immer vorbildlich aus den Beinen heraus.
Noch kein Weihnachtsgeschenk. Weder für Nils noch für Steffi, die ja immer ordentlich vorlegt mit Selbsterschaffenem, während ich froh bin, wenn ich ein passendes Buch finde.
Auch das Albino-Känguru, das ich damals als letzten Liebesbeweis geschenkt bekam, muss weg. Es ist völlig verrottet und riecht schon nach Chemie.
Moderiere die Workshop-Show. Krawatte ist bereits in irgendeiner Kiste. In der Anzugsjacke, wie ich zu spät sehe, ein Loch.
J.S.: "Lieber verwandelt man [Achtung, Jochen benutzt "man" in seinen Texten synonym zu "ich"] sich in ein Mahnmal seiner Leiden und widmet sein Leben wie der letzte Überlebende eines Völkermords dem Gedenken an die missachteten Gefühle." Die Überwindung des Leidens scheint ihm ein Verrat an seinen derzeitigen Gefühlen. Wir können beobachten: Haben, Horten, Festhalten, Konservieren statt Handeln, Geben, Loslassen, Entwickeln.
Marcel und Jochen scheinen immer mehr zu verschmelzen. Oder ist es die Interpretation, die wir geliefert bekommen? Marcel bewundert Albertine, die mit Golfschlägern an der Bibliothek lehnt. Sie trägt Schuhe, "die er ihr herstellen lassen hat. Was sie natürlich auch nicht endgültig zu seinem Besitz macht, aber es ist nur konsequent für den Liebenden, über die Kleidung des Geliebten bestimmen zu wollen." (J.S.)
Es ist nicht mehr als die Liebe der Katze zur Maus. Sie liebt nicht die Maus, sondern das Haschen. Das halbtote Tier wird dann auch immer wieder angestoßen, damit es sich zu fliehen versucht, um dann um so sicherer wieder in ihren Klauen zu landen.
Man könnte es auch radikal anders herum betrachten: Marcel hasst in Wirklichkeit Albertine, "ein gezähmtes Wild, ein Rosenstock, dem ich Stab und Stütze, das Spalier gleichsam, lieferte." Würde er sie sonst belügen? Würde er ihr sonst derart misstrauen? Wie pervers, einen geliebten Menschen einsperren zu wollen.
He who binds himself to joy
Doth the winged life destroy:
But he who kisses the joy at it flies
Lives in Eternity’s sunrise
(William Blake)
Den Menschen besitzen zu wollen, ist nicht ein Ausdruck von Liebe, sondern von Gier und Angst. Angst, der Kitzel könne versiegen. Es ist der alte Irrtum, Liebe sei ein emporschießendes Gefühl, das an die Anwesenheit des Menschen gekoppelt ist. Was für ein Quatsch das ist, müsste Marcel ja schon erkennen, als ihn Albertine durch ihre Dauerpräsenz nur noch anekelt. Von nix kommt nix. Liebe erstickt, wenn wir auf das Gefühl warten. Sie muss wie ein Feuer genährt werden, durch liebendes Handeln.
***
Mo, 18.12.06
B. gratuliert schon zu Weihnachten. Wie immer bin ich in Sorge, auf welcher Seite des Therapeutentisches er gerade sitzt, aber wenn er Mails schriebt, kann es ja noch nicht so schlimm sein. (Oder nicht mehr.)
Der Vertrag mit der Band ist nun fertig, und ich versuche, nicht daran zu denken, was geschieht, wenn aus irgendeinem bescheuerten Grunde niemand zu Silvester den Weg ins RAW findet.
Abendessen in N.s indisch-nepalesischem Restaurant. Sehr schön, wo ich doch indische Küche nicht so vertrage und bei der obligatorischen Salat-Imitation schmunzeln muss. Gedanken zu einem Austausch und Kooperation zwischen Stegreifbühne und Bö.
Jochen auf dem Konzert bei Morrissey: "Eine Stimme zu besitzen, die man gegen keine andere austauschen könnte, was ist das Pendant dazu beim Schreiben?" Dasselbe?
"Wenigstens kann man Lieder immer wieder singen, während mir noch kein Text gelungen ist, den ich nicht nach einem Dutzend Vorträgen satt gehabt hätte." Ja. Wenn "Satisfaction" ein Gedicht wäre, säße Jagger inzwischen wahrscheinlich in der Nervenheilanstalt.
Marcel versucht, Albertine mit dem Eintreffen seiner Mutter, neuer Kleider und der Besichtigung venezianischer Glaswaren zu überreden, die Abreise zu verschieben. Wohin eigentlich?
"Solange sie da war, hatte ich das Gefühl, ich könne der Zukunft gebieten." Nicht nur die Vergangenheit und die Gegenwart – auch die Zukunft will Marcel fesseln, einsperren, statt sich dem Neuen, dem Leben, dem Überraschenden hinzugeben. Die Suche nach der verlorenen Zeit? Hier geht sie verloren. Im Einsperren, Konservieren. Im Festhalten. Anstatt die Zeit zu leben.
Albertine öffnet nachts das Fenster, was tut Marcel? Legt er sich eine Decke über? Zieht er sich eine Schlafmütze auf? Bittet er sie, das Fenster zu schließen, "da ich mich vor Luftzug fürchtete"? Nein, er wandert "die ganze Nacht im Korridor auf und ab in der Hoffnung, ich werde durch das Geräusch meiner Schritte die Aufmerksamkeit Albertines auf mich lenken und erreichen, dass sie mich mitleidig zu sich rief." (M.P.) Oder man muss Proust wirklich als Komiker verstehen, wie Jochen meint? Dann wäre diese Passage die erste, die mich das glauben lässt. Sie erinnert schon an Woody Allen.
Jochen Schmidt verweigert dermaßen konsequent die Rechtschreibreform, dass er sich nicht nur, wie auf jeder Seite zu sehen ist, der ß/ss-Reform sondern sogar deutlichen und unumstrittenen Fortschritten entzieht. Statt fetttriefend schreibt er fettriefend. Wer aber waren die, die "Fett" riefen? Oder war da doch der Lektor schuld?
Er wacht auf, und der von draußen hereinströmende Benzingeruch eines Automobils lässt ihn von Venedig träumen. Er schellt nach dem Hausmädchen, das ihm berichtet, dass Albertine fort ist. Für immer.
Ende des fünften Bandes
***
6. Band: Die Entflohene
Di, 19.12.06
Anscheinend halten es einige Kultur- und Politprofis für völlig normal, jeden, mit dem sie einmal Mailkontakt hatten, in den persönlichen Reklameverteiler aufzunehmen. Bei meinen Viagra-Lieferanten und Penis-Verlängerern habe ich ja noch Verständnis.
Jochen macht uns auf Veränderungen im Wikipedia-Artikel zu den Lesebühnen aufmerksam. Seit ausgerechnet S. den ersten Artikel verfasst hat ("politische Texte, die im Stehen gelesen werden"), kann eigentlich jeder nur noch rumdoktern. Meiner war fast fertig, aber wer bin ich, dass ich die Arbeit anderer in die Tonne trete? Wahrscheinlich ist das das Problem vieler Wikipedia-Artikel. Wenn einer erst mal einen größeren Text mit Struktur angelegt hat, kann man den Murks kaum noch verändern.
Erfahre nun vom hausinternen Silvester-Konkurrenzprogramm des RAW. Und so auch von Musikrichtungen, deren Namen ich noch nie gehört habe, deren Konstruktion aber immerhin eine Klangwelt im Kopf entfaltet: tech-house, breakcore, dubstep. "Mehr als 30 DJs/Live Acts auf fünf Floors". Unser Floor bleibt unerwähnt, weil wir einen eigenen, für RAW-Verhältnisse unverschämt hohen Eintritt von 8 Euro verlangen. Zu Silvester!
Für 2,50 Euro ist die Schreibmaschine weggegangen! Berufe, die ich zum Glück nicht ergriffen habe. Heute: Internet-Händler.
Jochen legt uns seine Arbeitspläne für die Vorweihnachtszeit offen, deren demütigendstes Element in der Pflicht besteht, das Ende einer hirnverbrannten Weihnachtskrimifortsetzungsgeschichte zu schreiben. Neben Kinderverpflichtungen, Chaussee-, taz-, Tagesspiegel-, Proust-Texten, Lateinaufgaben, Geschenkbesorgungen, findet sich auch: "beim Umzug vom Kollegen helfen". Ein Glück, dachte ich bei der original Blog-Lektüre, dass ich da noch in den Terminplan reinpasse, und dann im zweiten Moment der Schreck: was, wenn mit "Kollege" jemand anders gemeint ist und er mich vergessen hat.
Meditationsvorschlag für die Feiertage: "sich mit einem Bier vor den Computer setzen, die Festplatte defragmentieren und beobachten, wie sich die kleinen Kästchen langsam sortieren."
Kann man die Proust-Bände auch, so wie etwa die Luhmann-Werke oder Winnetou I-III auch in beliebiger Reihenfolge ohne Informationsverlust lesen? Hat das schon jemand getan? Gibt es eine "innere Entwicklung" des Helden oder ist er wie Old Shatterhand von vornherein mit seinen Fähigkeiten ausgestattet und das Moralgehäuse ist fix und fertig, nur dass man sich Scharlih nicht als eifersüchtig Verzweifelnden vorstellen könnte.
Jetzt, da Albertine ihn verlassen hat, plant Marcel die Hochzeit. Er lebt jetzt anscheinend in einer Märchenwelt. Vielleicht sollte ich zur Abwechslung doch wieder in die Geschichten von 1001 Nacht wechseln. Aber das dauert noch 36 Jochensche Lektüretage.
***
Mi, 20.12.06
Jochen sucht bei den Lesebühnenkollegen dringend die Sopranos. Er würde "gutes Geld zahlen". Statt einer Antwort kommen die zu erwartenden Scherze, ob er mit "gutem Geld" D-Mark meine. Oder gar Ostmark.
Neue Typologie: Frauen, die die E-Mail-Adressen ihrer Männer benutzen und zu welchen Gelegenheiten sie diese Praxis beenden. Aus der Anfangszeit des E-Mailens stammt auch noch die Marotte, von vornherein eine Mail-Adresse für sie und ihn anzulegen. Die wenigen, die ich noch mit dieser Gewohnheit kenne, haben alle noch eine Snafu-Adresse. Die Adressen heißen dann ungefähr sybilmicha@snafu.de.
Weihnachtsgrüße von B. und C., die uns zu sich nach Liverpool einladen. [Nachtrag 2008: Wir folgen der Einladung 4 Monate später.]
J.S.: "Melancholie ist ja kein Defekt sondern die Konsequenz jeder geistigen Auseinandersetzung mit unserer Existenz." Ich würde dasselbe für Heiterkeit behaupten. Sich diese zu bewahren, statt im Heer der Melancholiker zu versinken bedarf einer geistigen Auseinandersetzung nicht nur mit unserer eigenen Existenz.
"Endlose Überlegungen eines frisch Verlassenen." Dies jetzt lesen zu müssen, nur wegen eines im Juli geleisteten Eides, muss schon hart sein. J.S.: "Die Sache ist gelaufen, will man ihm sagen, hak es ab." Doch auch Monate später trägt Jochen die Narben dieses Verlassenwerdens wie ein Indianer seine Kriegsnarben.
Marcel sendet Saint-Loup zu Albertines Tante, um die Hochzeit anzukündigen. Saint-Loup erschrickt beim Anblick von Albertines Foto. (Eine frühere Affäre?)
Über die Liebesökonomie von attraktiven/unattraktiven Partnern: Welche versteckten Qualitäten haben die unattraktiven? Sind die Partner der Attraktiven so oberflächlich, dass sie sich mit der schönen Oberfläche zufrieden geben? Mit Luhmann könnte man auch sagen, dass die Knappheit des Gutes Attraktivität in der Liebe nicht ökonomisch geregelt werden kann. Im Kommunikationssystem Liebe nimmt Ego Alter immer als ganze Person wahr, und nicht nur in einer spezifischen Rolle, wie es etwa im Wirtschaftssystem (Käufer/Verkäufer) oder im Rechtssystem (Kläger/Beklagter/Richter) der Fall ist.
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Do, 21.12.06
Während man überlegt, ob man Y., wegen seines erratischen Finanzgebarens verklagen, bemitleiden oder ihm die Adresse einer Drogenberatungsstelle zukommen lassen soll, lädt er einen schon zu seiner nächsten Show ein. Merke: Das Wichtigste bei einer Pointe ist das Timing.
Nach der „Chaussee“ noch schmell ein Hinweis-Schild basteln, damit die Robbe morgen vorm Haus Platz findet. Letzte Gänge durch die Wohnung, die mir mit kurzen Unterbrechungen über 15 Jahre ein Zuhause bot.
Selbständig lebensfähiger Text: "Das Land der ungebremsten Leidenschaften"
Albertine bemerkt die Anstrengungen Marcels, die Angelegenheit durch Saint-Loup und die Tante zu regeln und weist das zurück. Marcel antwortet "ausufernd", das kontraproduktive seines Handelns (anscheinend erstmals) erkennend. Dann wieder Zögern: Was wenn sie drauf eingeht? Das Bild elenden Zusammenlebens steigt wieder auf. Brief abschicken, doch nicht, oder dann doch. Ihr folgender Brief weist ihn noch mehr von ihr von sich, aber sein Jagdinstinkt ist dadurch natürlich wieder geweckt, diesmal versucht er es über die Eifersuchtsmasche. J.S.: "Er kündigt ihr an, mit Andrée leben zu wollen."
Eins ist klar: Albertine muss tatsächlich ein wenig einfältig sein und völlig unfähig zu Intrigen oder Tricks. Denn wenn sie Marcel wirklich loswerden wollte, müsste sie ihm doch nur einen öden, langweiligen, dümmlichen Brief schreiben, in dem sie ankündigt, sich auf die Hochzeit zu freuen, sie würde nun von immer bei ihm bleiben und ihn keinen Moment aus den Augen lassen usw. Das würde schon die entsprechende Gegenreaktion bewirken.
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Fr, 22.12.06
Umzug. Aus Humoristensicht ist alles dazu gesagt. Ich habe meine drei Texte zu dem Thema geschrieben, habe außerdem ca. 20 darüber gehört. Und habe versucht, aus den Fehlern der anderen zu lernen. Habe vorher im Prinzip alles Einpackbare eingepackt, alles Abschraubbare abgeschraubt. Die drei Ausnahmen werden mir dann prompt vorgeworfen. Es sind genügend Helfer da, so dass weder die Faulen noch die Fleißigen zu viel arbeiten müssen. Der Gehbehinderte schmiert Stullen. Die Robben&Wientjes-Karre genügt für eine Tour. Aber ausgerechnet mein Freund und Fahrer Uli ist heute etwas hektisch drauf, trotz jahrelanger Taxi-Erfahrungen. Und so detscht er den Wagen gegen einen PKW in der Karl-Kunger-Straße. Wenn es irgendein Auto wäre! Nein, es ist das Auto meiner Nachbarn, die das Malheur auch noch direkt mitanschauen können. Sie kennen mich noch nicht, aber ich bin schon jetzt bei ihnen unten durch.
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Die Diskussion über die Zahlungsmoral des Autoren-Einladers entwickelt sich zu einem Drama eigener Klasse. Der Ohrfeigen-E-Briefwechsel zwischen K. und M. ist schon Lesebühnen-Literatur.
Aus den geographischen Hinweisen kann man schließen, dass Jochen Geschenke bei Dussmann kauft, obwohl er eher von dem berichtet, was ihm selber wichtig wäre: Die Fernsehserien aus der Kindheit. Er spielt mit dem Gedanken, "bei den Sopranos einzusteigen, das wären noch mal neunzig Stunden Realitätsflucht, jetzt wo ich mit ‚Curb‘ durch bin. [Nachtrag 2008: Er wird sich dafür entscheiden und an die Sopranos noch ‚The Wire‘ dranhängen.]
Tip- oder Satzfehler oder gewollte Dopplung: "Was einen zur Zeit quält sind alle Formen von Formen in der Öffentlichkeit." Oder doch Formen von Erotik? Ich bin damals im Dezember 1996 auf dem Höhepunkt meines Liebeskummers mit einem russischen Rockerkumpel nach Prag geflohen, hatte aber vergessen, dass es natürlich auch in Prag Schaufensterpuppen gibt, die einen an sie erinnern.
Marcel schiebt einen Gedanken fort, den ich auch hatte, als ich litt: Hätte sie einen Unfall, würde ich jetzt weniger leiden.
Und schwupps! geschieht genau das. Albertine ist tot. Jochen meint, es sei eine "Wendung, die etwas nach Drehbuchseminar klingt." Man könnte es aber auch umgekehrt sehen: Die Exhibitionierung seines Wahns, der zeitweisen Dümmlichkeit Albertines, stehen nun erst in einem anderen Licht. Vor einer Verfilmung müsste dann immer stehen: "Nach einer wahren Geschichte".
Marcel versucht, sämtliche Erinnerungen hervorzurufen, und beschwört alle fünf Sinne, "wie bei Old Shatterhand, als er den sterbenden Winnetou in den Armen hält und an glücklichere Tage denkt." Hier spielt Jochen allerdings auf den Film an, diese Szene steht gar nicht im Buch.
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Sa, 23.12.06
Schlafen in Treptow. Hab ja erst mal nur die Matratze, die in Nils‘ früherer Schlafkammer liegt. Die Wohnung steht nun vollgerümpelt, mehr oder weniger so, dass ich mich darin noch praktisch bewegen könnte. Wenn nicht die Türen wären. Ins Schlafzimmer und ins Bad gelange ich nicht, ohne den Kopf einzuziehen. Die Tür meines Zimmers ist 1,94 Meter hoch. Vier Zentimeter Spielraum für Sohlen und den Schwung beim Laufen. Das soll’s jetzt sein? In meiner eigenen Wohnung in en kommenden Jahren gebückt laufen? In der Nach wache ich auf vom Autolärm. Und dabei schlafe ich hier mit geschlossenem Fenster auf der ruhigen Seite.
Weihnachtspost aus Beirut. L.s Kinder sollen Joseph und Maria beim Krippenspiel sein. Die Botschaft: Frieden. Es muss ein schönes Land sein, das da regelmäßig von Gewalt heimgesucht wird. Hatte man Libanon nicht sogar einmal die Schweiz des Nahen Osten genannt? Und ich habe es nie geschafft, sie dort zu besuchen.
Ist Kunst Sublimierung? Das Bild, das uns Freud vom Künstler hinterlassen hat, ist zu stark, als das Jochen nicht drauf anspringen würde. Kunst als Realitätsersatz, als Ersatz für einen geliebten Menschen. "oder reitet man sich nur immer tiefer rein, wenn man in der Vorstellung lebt, Leiden würden einen zu einem tieferen Menschen und damit auch zu einem besseren Autor machen?"
Ja.
Weitere Beschwörung der Erinnerungen und des Seelenleidens.
Jochen bricht diesmal bereits nach 14 statt der sonst üblichen 20 Seiten die Lektüre ab. Er "habe auch das Gefühl, dass ich mich vergifte. Sie heute anzurufen und wiederzusehen war natürlich ein Fehler gewesen."
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