Di, 9.1.07

Allmählich lichten sich die Kistenstapel, und so erscheint mein Zimmer grau, im Gegensatz zu Steffis, wo ein lebensfrohes Orange dominiert.
M im Krankenhaus. Wir drücken die Daumen. Was sonst könne wir jetzt tun?
B. in Berlin. Nicht viel Zeit, um die wichtigsten Informationen abzugleichen. Freundschaft braucht auch immer gemeinsames Erleben. Wenn man nur vom Alten zehrt, dünnt die wärmende Decke aus. Diskutieren über Religion. Ein ungünstiger Zeitpunkt. Er ist ein großer Fan von Benedikt. „Deus caritas est“. Ich will ihm ja nichts kaputtmachen, aber gegenwärtig geht mir beim Thema Kirche das Messer auf.
Sch.s Übersetzungen, den ich als Fachmann gebeten hatte, wirken bizarr; das, so denke ich, hätte ich besser hingekriegt. Vier Monate habe ich darauf gewartet. Wie ihm sagen, ohne ihn zu verletzen?
Anfrage, ob die Website Jurtenland meinen Pfadfindertext benutzen darf. Erstaunlich.
Wurschtelnde Mails, wie wir nach Neubrandenburg kommen, wer was wie ausdrückt, was eindeutig und was missverständlich sei.

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Vielleicht braucht ja Jochen tatsächlich die Katastrophen und Depressionen, um schreiben zu können. Die Dichte der herausragenden Texte nimmt in Schmidt liest Proust gegen Ende deutlich zu. Hat er seine Antenne für negative Empfindungen derart sensibilisiert, so dass das Schöne nur noch als Vergangenes wahrgenommen oder als Utopie projiziert werden kann? Die zum Haare sträuben aufregende Geschichte eines Draufgängers, der mit dem SV-Ausweis durch die Sowjetunion reist, ist für ihn nur erzählenswert, weil er sich fragt, ob „sie“ lieber solch einen Mann hätte haben wollen. Man könnte es natürlich auch als erzählerischen Trick auffassen – das lyrische Ich wird doppelt interessant durch den Vergleich mit solch einem Typen.

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Saint-Loup auf Fronturlaub. Ästhetische Betrachtung á la Jünger, ob die Kriegsflugzeuge beim Starten oder beim Landen besser aussehen. Und Jünger war eben nicht der Erste. Vielleicht wäre Proust als Soldat der französische Jünger geworden? Oder ist es überhaupt die gleiche, ästhetisierende Sichtweise, nur von der anderen Seite, nämlich des Daheimgebliebenen? J.S./M.P.:“Madame Verdurin betrachtet den Krieg im übrigen „als eine Art von gigantischem ‚Langweiler'“, der ihr ihre Getreuen abspenstig macht.“

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Mi, 10.1.07

Schöner Auftritt an der Hochschule Neubrandenburg. Die Organisatoren müssen einen ihrer Professoren auch auftreten lassen, sonst hätte es wohl nicht mit der Finanzierung geklappt. Irgendwie hatten sie nicht recht verstanden, dass wir dort weder eine Unterkunft haben noch selber mit dem Auto zurückfahren. Recht unkompliziert ist die Lösung: Man fährt uns nach Hause. Auf der Landstraße überrollen wir einen Fuchs. Es fühlt sich harmlos an, wie eine Schwelle, und doch ist jetzt ein Leben vorbei. Man ist müde, einige wurden aus ihrem Schlummern geweckt, und man grinst ein wenig verstohlen, wie Kinder, die ein Tier getötet haben.

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Jochen über die Entstehung der „Weltchronik“ ist ein Lob auf Falko Hennig und dessen Erfolglosigkeit. Einer von Falkos Lieblingstexten “ Wiedersehen in der Hölle – Stefan Meiser“ ist fast eine Eigensatire. J.S.: „Seine Chronik ist ein Lebensroman von Katastrophen, Zumutungen und Selbstbeschwörungen zur Arbeit, sie enthält aber auch herrliche Beschimpfungen, Drohbriefe und Krankheitsbeschreibungen. Die tröstliche Komik des Lamentos ist hier zu bewundern.“
Dass die Weltchronik gescheitert ist, ist wirklich sehr, sehr schade. Es wäre zu einfach, es an der Pointe festzumachen, dass Jochen es ja hätte wissen müssen, wenn er sich mit ihm zusammentut, aber das wäre unfair, denn die beiden haben in das Projekt mehr Arbeit und Geld hineingesteckt als in sonst eine Veranstaltung. Es scheiterte dann wahrscheinlich weniger an den Absagen der Promis, von denen man sich Zulauf versprach, sondern wie so oft am Detail – dem inkompetenten Techniker, dem mangelnden Timing, der Fahrigkeit auf der großen Bühne. Der Abend, den ich erlebt hatte (mit Gaststar Katrin Passig) war eigentlich sehr schön und sogar aufregend, aber wenn man im großen Babylon sitzt, erwartet man schon, dass das Licht im Zuschauersaal abgedimmt wird…

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Cottard ist zwei Mal gestorben und zwei Mal wiederauferstanden.
Charlus behauptet, die Herrscher Österreich-Ungarns, Deutschlands, Bulgariens und Griechenlands seien alle „so“, was ihre Allianz begründet.

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Do, 11.1.07

Fast mechanisch tippe ich die Worte „Open Space Project“ in die Tastatur. Schon gehen bei mir die Assoziationen los: Ein völlig neues künstlerisches Projekt, das improvisatorische Fähigkeiten auf allen Ebenen miteinander verschmelzen soll. Etwas völlig Neues starten, das auch wirklich trägt, anstatt sich mit Pillepalle rumzuschlagen. [Nachtrag 2009: Ein wirkliches Improvisations-Institut wäre ja der Traum, vielleicht mit einem ähnlichen Anfangs-Drive wie bei Compass, und eben auf allen künstlerischen Levels und in allen Disziplinen. Genaugenommen ist ja sogar der Blues Brothers Film eine Folge dieses Schwungs der späten 50er. Aber man stößt eben doch hauptsächlich auf Leute, die in „Strukturen“ arbeiten: Theaterprojekte, Förderanträge, Schulkooperationen usw. Staub statt Witz. Immerhin haben wir heute Foxy, was mehr Möglichkeiten eröffnet als jedes Impro-Projekt zuvor.]
Bei meinem Text komme ich nicht über die ersten drei Wörter hinaus. Jochen hingegen macht allein aus dem Umstand, dass er bei dem Auftritt (aus seiner Sicht!) nicht so gut ankam und wir auf dem Rückweg den Fuchs überfahren haben fast eine Story!
Zum Mothers-Little-Helpers-Managment, die auf einem Schiff auf der Spree sitzen. Es ist dunkel. Schneeregen. Finde es nicht und werde nass. Nach 20 Minuten Herumirren im Park habe ich es. Das Schiff voller Musikerdevotionalien. Goldene Platten der Ärzte, Plakate, massenhaft Presseausweise und VIP-Plaketten vergangener Konzerte. Normalerweise würde ich ihm das Geld geben, mir die Rechnung geben lassen und verschwinden, wärme mich aber erst mal auf und überbrücke mit Smalltalk.
Eigentlich eine angenehme Show, aber ich verzettele mich mit meinen Ansprüchen und denen der anderen: Auflegen, weil Robert Musik vergessen hat, mp3 rippen für Jochen, Bohni will eine DVD zeigen, ich will parallel meinen Joggingfilm zeigen, den Doppelbildschirm nutzen und an die Wand projiziert in Word Kommentare schreiben. Mein Laptop fängt an, mir leid zu tun.

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Jochen wie gesagt über seinen scheinbaren Misserfolg. Für eine kleine Depression genügt bereits,

  • dass er nur den zweitstärksten Applaus bekommen hat oder
  • dass ein absichtlich pointenarmer Text leises Schmunzeln statt schenkelklopfendes Lachen hervorgerufen hat oder
  • dass unter den zehn Frauen, die nach der Lesung das Gespräch mit ihm gesucht haben, nicht diejenige dabei war, von der er sich das gewünscht hatte oder
  • dass sie, falls sie doch dabei war, sich dadurch diskreditiert, dass sie „an Ostern“ sagt.

Seltsamerweise liebt er es, sich gewohnheitsmäßig mit dem Faecke-Zitat „Erfolg ist immer ein Mißverständnis“ (oder ist das von Müller?) zu trösten. Natürlich kann es ein Missverständnis sein, aber es ist dem Künstler auch möglich, mit den verschiedenen Vorkenntnissen inhaltlicher oder formaler Art zu spielen, wie man eben z.B. bei Mozart sehen kann: Viele Werke locken einen mit einfachen, fast kindlichen Motiven und man wird regelrecht ins Mozartsche Universum der Dissonanzen hineingerissen, um später wie ein aus dem Trance Erwachter, sich die Augen zu reiben und „War was?“ zu fragen. Ähnliches gilt natürlich auch bei Goethe, vor allem seinen Gedichten. Aber hier findet man auch das Gegenbeispiel: „Faust 2“, den man zwar immer wieder versucht aufzuführen, der aber eigentlich als Theaterstück nur im Kopf funktioniert, wenn überhaupt.
Nicht nur, ist das Glas halbleer, es tut einem leid, dass er nicht einmal das halbe Glas genießen mag.

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Charlus macht Marcel beim Spaziergang durch Paris darauf aufmerksam, wie unattraktiv die Stadt aus schwuler Perspektive geworden sei.

9.1.-11.1.06
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