Ähnlich wie vor zwei Jahren steht ein großes Aufräumen und Ausmisten ins Haus. Im Gegensatz zu Jochen kann ich meine Wohnung nicht als Archiv des eigenen Lebens betrachten, auch wenn es zu einem solchen quasi ungewollt und automatisch wird. Aber wenn man zwischendurch immer wieder mit seinen Gedanken mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart hängt und die Zukunft aus Mauern von Gegenständen verdeckt wird, die einem als Teenager oder Twen etwas bedeutet haben, dann nimmt einem das regelrecht die Luft zum Atmen und Handeln. Natürlich ist all das auch "Material", aber als künstlerisches Material existiert es ja in meinem Kopf weiter. Wir wissen, dass Kleinkinder von massenhaften Beschenkungen regelrecht erschlagen werden. Warum sollte das bei uns anders sein? Bertolt Brecht: "Des Flüchtlings dritte Regel: Habe nichts!" (Was mögen die anderen gewesen sein, fragte ich mich immer.)
Mindestens so beeindruckend wie die bibliotheksartigen Zimmer sind doch die fast buchleeren Wohnungen jener Menschen, die jedes Buch, das sie gelesen haben, jemandem verschenken, von dem sie glauben, es interessiere ihn. Bücher, die ein Jahr lang ungelesen in der Wohnung verweilen, werden ebenfalls verschenkt oder weggeworfen. Zu einer solchen Radikalität kann ich mich nicht entscheiden, nur ein paar drittklassige Ostbücher fallen der Auräumwut zum Opfer. Wieviel das Wert ist, erkennt man an den niedrigen Preisen bei Ebay für Bücherpakete. Aber ich weiß ja heute noch nicht, welche Bücher ich aus irgendeinem Grund in zwei Jahren wieder in die Hand nehmen will.
Teil des Aufräumprogramms 2009: Ordner entmisten. Darunter den Ordner "Dokumenty", tatsächlich in kyrillischen Buchstaben beschrieben. (Ein Ratgeberbuch, zum Thema aufräumen, das mir in diesen Tagen in die Hände fiel, rät genau dazu: Ordner nicht mit langweiligem "To do" oder "Ablage XIV" beschriften, sondern knackige Bezeichnungen). 1990 habe ich ihn angelegt, als meine Kiste zu klein wurde für all die Papiere von Uni, Vermieter und Versicherung. Wie optimistisch von mir zu glauben, das würde in den kommenden Jahren genügen. Bei meinen Eltern, die bei mir wie bei den meisten anderen sicherlich auch, die Erwachsenenwelt repräsentierten, standen schließlich keine Ordner rum. Inzwischen brauche ich jeweils mehrere Ordner für Geschäftliches, Versicherungen, Bankenkorrespondenz, Miete und Strom, Korrespondenz mit Verlagen, Veranstaltern und Kollegen. Aus dem Dokumenty-Ordner entferne ich:
– Mietvertrag mit Videothek
– mehrere Überweisungen
– Registrierungsbescheid des DPMA
– Negativdiagnose des Krankenhauses
– Vorbereitungsblatt zur Untersuchung
– mehrere Zahnarztrechnungen
– kuriose Rechnung über 0,00 Euro der großzügigen Firma "Derby Cycle", die mir eine gestohlene Fahrradpumpe gratis ersetzt.
– Kreditkarteninfo
– Info über ein ergonomisches Telefon
– mehrere Praxisgebührquittungen
– Bestätigung eines Nachsendeauftrags 2006
– Info der DiBa über "Zinsanpassungen"
– Ablehnungsschreiben des Senats zum Antrag auf ein Autorenstipendium 2005
– Auftrag für Stampit (die mir immer noch Geld schulden)
– unangenehme Korrespondenz mit einer Inkasso-Firma
– Nachricht über Verfahrenseinstellung wegen meinem geklauten grünen Nishiki
– mehrere Schreiben zur Höhe des Dispokredits mit der Sparkasse. (Nach dem letzten wechselte ich die Bank.)
– Schreiben der Einkaufsgemeinschaft "Wurzelwerk e.V."
– Korrespondenz mit Finanzabteilung von amnesty international
– Buchungsunterlagen meiner Amerika-Reise 2003
– Unterlagen und Korrespondenz zum Einbruchdiebstahl in Malta (Laptop, Geld, Fotoapparat, u.a.)
– Info-Briefe der Hausrat/Haftpflicht-Versicherung
– Antrag auf Einsicht in Stasiunterlagen (Vom Amt bekam ich später eine Kopie einer Vorgangsnummer mit dem Jahr 1986 und der Aufschrift "Lbg. grün", wobei Lbg wahrscheinlich für Lichtenberg steht. Außerdem der Name eines ausreisenden Mitschülers. Ob ich den ausspionieren sollte? Oder er mich?)
– Korrespondenz mit dem Bundesverwaltungsamt über Bafögrückzahlung
– Reklame der Telekom
– Telekomabrechnungen von 2001
– Online-Banking-Vereinbarung mit der Sparkasse
– Vordrucke über Bescheinigung von Nebeneinkommen des Arbeitsamts
– Laborrechnung für den Test
– Bibliotheksausweise: Ibero-Amerikanisches Institut, Lichtenberg, FU – JFK-Institut für Nordamerikastudien, FU, HU, Staatsbibliothek, Seumestr., Friedrichshainer Phonothek
– Anleitung zur Einkommensteuererklärung 1999 (??)
– Absage von Salbader 2001
– Zusage für Werbezuschuss für Kantinenlesen vom Beckverlag
– Fischotterschutz-Werbung
– Einladung nach Moskau von 2000
– Meldekarte Arbeitsamt
– Info über Kabelanschluss
– Verschiedene Briefe der GEZ
– Rechnungen von Bewag, Gasag, Vattenfall
– Kündigung der AOK
– Kopie Arbeitsvertrag von 1989
– diverse Schreiben der AOK
– Zeugniskopien
– Alte Mietverträge und -erhöhungen. (Den ersten mit der Miethöhe von 28 Mark = 7 Euro hebe ich allerdings auf.)

***

Fr, 19.1.07

Teil des Aufräumprogramms 2007: Schallplatten und Kassetten wegwerfen, auch wenn’s schmerzt. Welche Mühe ich mir 1988 gemacht habe, an "London Calling" von The Clash ranzukommen und mir zu "überspielen" und dann auch noch die kompletten Texte Wort für Wort abgeschrieben. Aber es hilft ja alles nichts, die Erinnerung an den Nachmittag, an dem ich mir auf der Wachstube bei der NVA eilig den Text von "Lost in the supermarket" abschrieb wird ja nicht dadurch intensiver, dass ich dieses karierte holzige Papier behalte. Und meine Liebe zu "The Clash" hat von Jahr zu Jahr abgenommen. Irgendwann wäre die Wohnung voller riesiger Objekte, die reinen Erinnerungswert und überhaupt keinen Gebrauchswert mehr haben. Die Vergangenheit wird so zu einem riesigen Ballast, der einem im wahrsten Sinne die Bewegungsfreiheit nimmt. [Nachtrag 2009 – Jochen Schmidt, Falko Hennig und sicherlich auch Marcel Proust dürften das anders sehen, aber die Nostalgiestrahlung von Gegenständen beraubt uns oft des Blickes auf die Gegenwart oder die Zukunft. Der Gegenstand verklärt die Vergangenheit, und selbst wenn er für uns damals Leid symbolisierte, steht er heute für das schöne Damals, und das Heute wirkt nur Grau.]
Der Kompromiss sieht nun so aus: Schallplatten bei Ebay versteigern, Kassetten wegwerfen, die entsprechenden CDs bei Ebay kaufen, die Musik entmaterialisieren und die CDs wieder verkaufen.
Am heutigen 19.1.07 kaufe ich bei Ebay und Amazon
– "London Calling" von The Clash
– "The very best of" von Buddy Holly
– Billy Bragg: "Victim of geography"
– Einstürzende Neubauten: "Halber Mensch
– Eros Ramazotti: "Tutte Storie"
– Prince: "Grafitti Bridge"
– Ton Steine Scherben: "Keine Macht für niemand"
– Johnny Cash: "The greatest years"
– Buckshot Lefonque: "Music evolution"
– Janis Joplin: "Anthology"
– Men at work: "Cargo"
– The Beatles: "Yellow Submarin"
– Billy Bragg: "William Bloke"
– Edith Piaf: "The Golden Greats"
– AC/DC: "Powerage"
– The Cure: "Staring At The Sea"
– Ofra Haza: "Yemenite Songs"
– Nena: "Wunder gescheh’n"
– Nena: "Bongo Girl/Eisbrecher"
– Sade: "Diamond Life/Promise"
– Einstürzende Neubauten: "Zeichnungen des Patienten O.T."
– The Pogues: "Rum, Sodomy & the Lash"
– Stevie Wonder: "Innervisions"
Ab 1980 habe ich meine ersten Kassettenrekorderversuche auf dem Gerät meiner Eltern unternommen. Bis dahin hatte ich nur ein paar Schallplatten. 1984 durfte meine Oma das erste Mal nach Westberlin, und ich beauftragte sie, mir eine Bob-Marley-Platte zu besorgen. Der praktische Vorteil: Den Namen dieses Interpreten konnte auch meine des Englischen nicht mächtigen Oma problemlos aussprechen. Bis zur Wende hatte ich aber, von der einen oder anderen DDR-Lizenzplatte abgesehen, meine gesamte Musik auf Kassetten (man bedenke: Eine 60-Minuten-Kassette kostete 20 Mark). Ab 1990 behielt ich meinen Kassettenfanatismus bei. Bis auf wenige Platten – vor allem Tom Waits und Rolling Stones – besaß ich fast nur Kassetten. Bis ich mir 1999 (im Alter von 30 Jahren!) einen CD-Player kaufte, den ich inzwischen kaum mehr benutze, weil ich nun völlig auf mp3s umgestiegen bin. Und jetzt? Wird das das definitive Format bleiben? Man möchte es hoffen. Jede Formatumstellung ist ja wie ein großer Umzug.

*

Lob von Kriegsfilmen, Madame Bovary, La piscine und Ironija sudby.
"Im Moment scheint mir, daß mir auf ähnliche Weise mein Vergnügen an französischen Eifersuchtsdramen schwinden könnte." Ich müsste ihn mir erst erarbeiten.
Zu Ironija Sudby: "Ach, Liebespaare, ihr seid so öde in euerm vorhersehbaren Glück, die eigentlichen Helden sind die Betrogenen, denen niemand aus dem Publikum die Frau gönnen würde!" Wieder der Proustsche Blick: Die Liebe hat einen oder sie hat einen nicht. Aber die Paare sind eben nicht vorhersehbar in ihrem Glück, bis auf die Frischverliebten vielleicht. Alle anderen werden ohne aktives Tun nicht lange über die Runden kommen, da es keine Liebe ohne Lieben gibt. Allerdings haben wir es in diesem Fall ja wirklich mit dem klassischen Fremdgeh-Schema zu tun. Die Frau sucht das, was ihr der Mann nicht geben kann, hier Poesie. Aber sie wird sich eines Tages auch freuen, wenn er im nächsten Jahr nach der Banja wieder schön besoffen an einem unbekannten Platz auftaucht, womöglich gar erfroren oder überfahren.

*

Die den Schriftsteller umgebenden Personen sind für Proust und Schmidt "Material". Unklar für beide, wenn sie sich beschweren, da man sie "nur" als Material betrachtet habe. Das ist natürlich eine spezifische Schwierigkeit des Künstlers, rechtzeitig umzuschalten, d.h. im direkten Umgang das Künstler-Ich abzulegen, und dann man selbst zu sein, vor allem wenn es um den direkten Zugang geht, also in Familien-, Freundschafts- und Liebesbeziehungen. (Als Kunde, Klient oder in der Sphäre des Politischen schadet man in der Regel weder sich selbst noch dem Gegenüber, wenn man noch auf "Kunst" gepolt ist.) Sonst aber muss man das wohl genauso lernen, wie ein Psychologe, von dem man ja auch nicht andauernd analysiert werden will. Oder ein Frauenarzt, der beim Sex immer nur daran denken muss, dass er mit einem Gynäkologenstuhl jetzt besser dran wäre oder ein Geschäftsmann, der jede seiner Handlungen nach Kosten und Nutzen abwägt oder ein Politiker, der in der Familie immer darauf achtet, die richtigen Machtkoalitionen zu schmieden usw. usf. Was aber macht man, wenn man am Schreibtisch sitzt? Mit seinem Ezra-Roman, der ja vorhersehbare juristische Folgen hatte, hat der "Schriftsteller", dessen Namen man nicht mal mehr in einem Blog erwähnen will, uns allen die Zukunft versaut.
M.P.: "In Wirklichkeit ist jeder Leser, wenn er liest, ein Leser nur seiner selbst. Das Werk des Schriftstellers ist dabei lediglich, eine Art von optischem Instrument, das der Autor dem Leser reicht, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können." Man spürt den regelrechten Zwang zur Selbstinszenierung. Aber vielleicht ist das auch üblich in der Zeit, da der Geniegedanke schon am abklingen ist, man aber als Künstler dem Rezipienten doch noch nicht über den Weg traut.

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Sa, 20.1.07

Anfragen der Potsdamer Uni an die Chaussee einerseits (150 Euro, falls einer von uns kommt) und an ausgewählte Einzelne von uns (350 Euro) andererseits. Kann man den Organisatoren das vorwerfen? Sie haben eben auch ihren Geschmack oder glauben, dass bestimmte Autoren "teurer" sind als andere. Vielleicht wissen sie nicht einmal, dass wir zusammengehören. Oder sie sind durch ihre BWL-Kurse schon völlig verdorben.
Hingegen eine freundliche Anfrage der TU Freiberg. Auch wenn es nur wenig Geld gibt, ist man viel eher bereit, da man das Engagement spürt, dem keine Hinterfotzigkeit im Nacken sitzt.
Wir bekommen ständig Post für eine schon lange Mitbewohnerin meiner Schwester – Rechnungen, Mahnungen, Gerichtsaufforderungen. Sie geht nicht ans Telefon. Und "PIN" kennt keinen Nachsendeauftrag.

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Erstaunliche Behauptung: "Wir hatten nämlich auch zwei Stunden BRD im Geographie-Unterricht." Das hat in meiner Erinnerung allein in der 6. Klasse mindestens drei Monate gedauert – Ruhrgebiet, Niederrheingraben, Alpen, Nordsee, politische Geographie. All das komischerweise bevor die sozialistischen Bruderstaaten in Osteuropa drankamen. Vielleicht folgte man da ja noch dem Unterrichtsaufbau aus der Vorkriegs-Volksschule, zumindest deutet mein alter Atlas von 1934 darauf hin.
J.S.: "Der Blick vom Hof des Admiralspalasts auf den S-Bahn-Bogen war dann überraschend schön, weil die Perspektive ungewohnt war. Gleich um die Ecke habe ich früher immer auf die Straßenbahn Nr.22 gewartet, dort sind jetzt nur noch ein paar Gleisreste. Das Geräusch der um die Kurve biegenden S-Bahn war tröstlich, es ist schön, daß es noch Geräte gibt, deren Geräusche man nicht attraktiver für die jugendlichen Konsumenten machen kann."
War es nicht eine Straßenbahn, die da um die Kurve quietschte? Eine der schön alten, natürlich. Am meisten machte es Spaß, in der Kurve, wenn die Bahn langsam fuhr und einen der Fahrer nicht sehen konnte, auf die Wagontürschwelle zu springen und bis zur Haltestelle mitzufahren. Wir wurden zuvor von Professor Nietsch bei der MSG in die Wahrscheinlichkeitsrechnung eingeführt, aber was wir hinterher anstellten, hätte uns mit hoher Wahrscheinlichkeit das Leben kosten können, denn auch bei der S-Bahn fuhr ich mit, sprang in den U-Bahn-Schacht, kletterte auf einen Schornstein. Ich bekomme heute nasse Hände, wenn ich daran denke. Die aktuelle Gehirn und Geist meint dazu, dass wir, je sicherer wir uns fühlen, sozusagen als Ausgleich den Kick suchen.

*

Ein Treffen mit alten Bekannten. Proust lässt einen wieder im Unklaren über die verstrichene Zeit, seine Bekannten von damals sind steinalt geworden. Über sein eigenes Altern schweigt Proust (wenn wir Jochen glauben wollen) sich aus. So erscheint er ohne Alterung, wie man es von Comicfiguren kennt.
Aber heißt dieser Band nicht "Die wiedergefundene Zeit"? Wir finden sie wieder auf den früher schönen Gesichtern.

19.-20.1.07
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