In seinem Buch Free Play beschreibt Stephen Nachmanovitch zwei Formen von Spiel, die zueinander in gewissem Gegensatz stehen: Play und Game. Play bezeichnet das ungehemmte Spielen, das freie Moment des Spiels, das Kindliche, das Närrische. Ein Game hingegen bezeichnet die Grenzen des Spiels, die schon durch die Bezeichnung deutlich werden: Fußball-Spiel, Sinfonie, Versteck-Spiel, oder (im Fall von Improtheater) Einwort-Geschichte, ABC-Spiel, Harold usw.
Um Harmonie, Schönheit, Qualität zu erreichen, brauchen wir eine gewisse Balance zwischen beidem. Ein Game, das nicht spielerisch betrieben wird, wirkt hölzern und fad. Man stelle sich ein Fußballspiel vor, bei dem der Hauptfokus der Spieler darin besteht, nur ja keinen Fehler zu begehen, den Ball nie ins Aus zu schießen, nie ins Abseits zu geraten usw. – das Spiel würde unendlich langsam und vorsichtig wirken, ohne Schmackes. Oder man stelle sich vor, statt eines Dirigenten würde man ein Metronom vor das Sinfonieorchester stellen. Große Künstler wissen oft sehr genau um die Regeln ihres Genres, an denen sie sich abarbeiten und die sie auch gezielt übertreten. Mein Lieblingsbeispiel in der dramatischen Kunst ist der Filmklassiker „Psycho“. Nach der ersten Szene denken wir, wir hätten es mit einem Liebesfilm zu tun, später führt uns Hitchcock auf die falsche Fährte eines Krimis, und erst nach einer Dreiviertelstunde wissen wir, dass wir in einem Horrorfilm sind. Und vor unseren Augen verschwindet die Heldin des Films, als die Geschichte erst richtig losgeht.
Das Game setzt uns Grenzen, an denen sich unsere freigelassene Kreativität abarbeiten kann. Fehlen diese Grenzen, wird das Spiel konturlos, schwammig, und man fragt sich: Was soll das? Kinder bemerken schon früh, dass „einfach so“ spielen langweilig wird. Auf dem Spielplatz werden deshalb immer wieder Regeldiskussionen geführt. Man stelle zwei Spieler, die noch nie Improtheater gespielt haben, auf die Bühne, und sage ihnen: „Fangt mal an.“ Nur in den seltensten Fällen, wird da etwas sinnvolles entstehen. Die Genialität von Spolin und Johnstone besteht nämlich darin, durch extreme Beschränkungen selbst Impro-Anfänger zu kreativen Glanzleistungen zu bewegen. Ein gut ausgebildeter Impro-Spieler hat gelernt, seine Kreativität auf verschiedene Wege immer wieder zu kanalisieren. Er erkennt in freien Szenen ein Game, sobald es in der Luft liegt. Er erkennt den Stil der Story, das Tempo der Szene, den Wechsel von Status, die sprachliche Ebene, usw. usf. Interessant ist hier, die historische Entwicklung der recht freien Form „Harold“ zu beobachten. Es ist eigentlich erstaunlich, wie formal streng diese Langform von Del Close in den 70er Jahren entwickelt und später beschrieben wurde . Heutzutage spielt den Harold im Grunde jeder, wie er will. Übriggeblieben ist lediglich, dass ein einziges Wort als Inspiration für eine Langform gewählt wird.
Vor den sehr frei orientierten Harold-Shows von Foxy Freestyle brainstormten wir manchmal noch über die gestalterischen Möglichkeiten, die sich einbauen ließen: Monologe, Gesang, Tanz usw. Wir waren nicht unzufrieden mit unseren Harolds, aber dennoch gab es immer wieder Abende, bei denen das Publikum (und wir selber) auch mit der Schulter zuckten. Neben großartigen Harolds wirkte das Ganze doch manchmal wie eine formlose, leicht unkonzentrierte Jamsession, die wir freilich immerhin mit einem grandiosen Finale zu enden vermochten. Irgendwann beschäftigten wir uns mit dem Thema Surrealismus und beschlossen dann, einen Harold in diesem Stil aufzuführen. Es war, als hätte die stilistische Beschränkung unsere Fesseln gelöst, als könnten wir erst jetzt unsere Fähigkeiten formvollendet einbringen.
Sowohl als Einzelspieler als auch als Gruppe braucht man immer wieder die Neujustierung: Brauchen wir mehr Game oder mehr Play. Mehr Spiel oder mehr Spielen.
Spielfreude und Die Kraft der Grenzen