Erwiderung zu Tilman Baumgärtels „Teile und verdiene“
In der ZEIT vom 26.6.2014 nimmt Tilman Baumgärtel Unternehmen und Apps der „Sharing Economy“ unter die Lupe. Der allgemeinen Begeisterung von Nachhaltigkeit, partizipativem Wirtschaften und neuen Beziehungen stellt er sieben grundlegende Kritikpunkte gegenüber. Grundsätzlich kritisiert Baumgärtel, dass die neuen Produkte ihre Versprechen nicht halten, vielmehr unterliefen sie Rechtsvorschriften, kämen nur Reichen zugute und seien auch sonst irgendwie unmoralisch.
Eine Erwiderung Punkt für Punkt.
1. „Unternehmen unterlaufen Arbeitsstandards und Rechtsvorschriften“. Baumgärtel beschreibt das Problem am Beispiel von Mitfahr-Apps, deren Fahrer keinen Personenbeförderungsschein haben und deren rechtliche Konstruktion irgendwie fragwürdig sei. Baumgärtel scheint es entgangen zu sein, dass es Mitfahrzentralen schon seit Jahrzehnten gibt, und sogar eine ausgefeilte Rechtsprechung zur Problematik. Mitfahrgelegenheiten unterliegen rechtlichen Vorschriften. Dasselbe gilt für Ich-koche-für-dich-mit-Apps und Ich-leih-dir-meine-Bohrmaschine-Angeboten. Selbst wenn es Rechtslücken geben sollte (was bei der Fülle der Angebote durchaus anzunehmen ist), warum sollte man warten, bis die Lücke vom Gesetzgeber geschlossen würde? Das Internet selber ist in Rechtslücken gewachsen. Nach dieser Logik hätten wir in Deutschland immer noch kein Internet.
2. „Firmen bereichern sich an dem, was andere anbieten“
Formal gesehen hat Baumgärtel recht, aber wie sollte es anders gehen? Auch ein App-Entwickler muss bezahlt werden. Es stimmt, dass einige Unternehmen enorm gewachsen sind. (Letztlich kann man Ebay als einen der ersten Shared-Economy-Giganten bezeichnen.) Und es steht ja auch jedem frei, diese Vermittlungsdienste gratis anzubieten. Aber damit ist eben auch ein gewisser organisatorischer Aufwand und ein unternehmerisches Risiko verbunden.
3. „Es entsteht ein neues Prekariat aus Tagelöhnern“
Ich könnte Baumgärtel zumindest in seiner semantischen Kritik zustimmen, dass die Bezeichnung „Micro Entrepeneur“, den TaskRabbit für die Ikea-Regal-Zusammenschrauber und Einkäufe-Besorger gefunden hat, ein unangenehmer Euphemismus ist. Aber entsteht hier wirklich ein „neues Prekariat“? Dafür müsste man sich natürlich genauer anschauen, wer hier seine Dienste anbietet. Baumgärtel vermutet hier wahrscheinlich nicht zu Unrecht Arbeitslose, Studenten, Rentner und Hausfrauen, die er „bemitleidenswert“ nennt. Nehmen wir die Studenten. Als Student wäre ich in gewissen Zeiten froh gewesen, zu den Umzugs-Jobs der studentischen Arbeitsvermittlung eine Alternative gehabt zu haben. Ist denn die Lage irgendeines Arbeitslosen oder eines Studenten dadurch weniger prekär, dass sie dem um die Ecke wohnenden Lehrer mit zwei linken Händen das Ikea-Bett nicht zusammenschrauben? Aber Baumgärtel bezeichnet dieses Prekariat als „neu“. Sollte also ein Prekariat entstehen, wo vorher noch keines war? Wie soll man sich das vorstellen? Ikea muss seine im teuren Montage-Service angestellten Beschäftigten entlassen, die sich nun mit TaskRabbit über Wasser halten müssen? Vielmehr wird es doch wohl so sein, dass den prekär sich durchwurschtelnden Studenten, Künstlern, Rentnern ein paar Optionen mehr als bisher zur Verfügung stehen. Und wenn eine Rentner (was haben eigentlich die Hausfrauen in dieser Aufzählung verloren?) einen nützlichen Zusatz-Job findet – warum nicht? Bringt ihn das in die prekäre Situation? Und wenn wir schon bei Service sind – schlechter als einer Friseurin in einem „echten“ Angestellten-Verhältnis kann es einem ja kaum noch gehen. Es entstünde, so Baumgärtel am Beispiel von Putzkräften, „eine Schattenwirtschaft, die wenig mit dem ursprünglichen Ziel der Sharing Economy zu tun hat, ungenutzte Ressourcen durch gleichberechtigten Tausch zwischen Anbietern produktiv zu machen“. Das klingt wie das Jammern eines Fans, der die alten Platten seiner Band besser findet. Wer sagt denn, was das „ursprüngliche“ Ziel gewesen sei? Wer wirklich einen Tausch im Sinne von „Ich streiche deine Wände, wenn du auf mein Kind aufpasst“, im Kopf hat, begibt sich in Phantasie-Welten, die nicht einmal in der familiären Wirklichkeit Anschluss finden. Wenn das böse Geld zu irgendwas Nutze ist, dann ja wohl dafür, dass man nicht mit seinem geernteten Apfel warten muss, bis jemand vorbeikommt, der das begehrte Ei anbietet.
4. „Die Tauschwirtschaft nützt vor allem jenen, die selbst haben und besitzen.“
Am Beispiel der befristeten Wohnungs-Untervermietung zeigt Baumgärtel, dass in den USA ausgerechnet diejenigen mehr verdienen, die bessere Wohnungen anbieten (können). Und das findet er „verblüffend“. Aber was genau ist daran verblüffend? Wäre es nicht umgekehrt erstaunlich, wenn der Vermieter einer runtergekommenen Einraumwohnung in einer Gegend mit hoher Kriminalität mehr Geld verdienen würde als sein Pendant im Nobel-Viertel. Man kann und soll Segregation von Stadtvierteln kritisieren und bekämpfen. Aber in der Sharing Economy ist wohl der falsche Platz dafür. Wundert sich Baumgärtel auch darüber, dass er in Hotels und Herbergen der Londoner Innenstadt mehr zahlen muss als in Hackney oder Acton?
5. „Aus idealistischen Ideen wurden renditeorientierte Geschäftsmodelle“. Der fiese Google-Konzern habe gezeigt, dass „idealistische Ideen“ ins Böse kippen können. Und das drohe nun auch Plattformen wie couchsurfing.org. Tatsächlich ist aus couchsurfing.org ein großes Unternehmen geworden. Aber kurioserweise erzielt gerade diese Plattform bislang noch gar keine Einnahmen.
Tatsächlich erwähnt Baumgärtel auch die eigentliche Streitfrage, nämlich wem eigentlich die Rechte an den Quellcodes gehören, die gemeinschaftlich erschaffen wurden. Tatsächlich nähern wir uns da den Problemen des Übergangs zu einem renditeorientierten Unternehmen. Die Frage ist aber dennoch, ob dieser Übergang schlecht sein muss. Wer sagt, dass die „idealistischen Ideale“ auch eine bessere Wirklichkeit erzeugen? Auch Google, das von Anfang an gewinnorientiert arbeitete, hat sein hübsches Motto „Sei nicht böse!“ bis heute nicht aufgegeben.
Als sich Mitte der 90er Jahre die Mitfahrzentralen langsam durchsetzten, sank die Bereitschaft der Autofahrer drastisch, Anhalter mitzunehmen. Wie habe ich mich geärgert! Aber ich musste doch einsehen, dass ich für wenig Geld doch recht viel gewann: Nämlich die Planbarkeit der Reise und die Sicherheit zu wissen, zu wem man ins Auto steigt.
6. „Vertrauen wird ersetzt durch Kontrolle“
Baumgärtel beklagt hier, dass „die kommunitaristischen Werte, die die Sharing Economy propagierte“ im Schwinden begriffen ist, da Bewertungssysteme eingeführt würden, Haftpflichtversicherungen notwendig werden usw. Ja wie nun? Einerseits wird das Unterlaufen rechtlicher Bestimmungen beklagt, solange der Branchenzweig noch klein ist, und andererseits will man die rechtliche Absicherung auch nicht haben? Der Blick auf die krassen Einzelfälle (Betrug bei Handelsplattformen, Gewalt bei Mitwohngelegenheiten), die ja gerade erst zu rechtlichen Anpassungen führten, versperrt aber auch den Blick darauf, dass z.B. eine Plattform wie Ebay (die Baumgärtel seltsamerweise überhaupt nicht als erfolgreichstes Beispiel der Sharing Economy erwähnt) nach wie vor in großem Maße auf einer guten Balance von Vertrauen und Kontrolle beruht.
7. „Menschliche Beziehungen werden zur Ware“
„Die Tauschwirtschaft“, so schreibt Baumgärtel, „ermutigt uns dazu unser ganzes Leben als Kapital zu betrachten. (…) Aktivitäten, die auch einem guten Zweck dienen könnten – Handarbeiten für den Adventsbasar der Kirchengemeinde, Einkaufen für die gehbehinderte Nachbarin -, erscheinen in der Sharing Economy auf einmal als unrentabler Zeitvertreib.“
Was für Beispiele! Sollte der Adventsbasar der Kirche nicht einmal Geld einbringen? Ist nicht die Handarbeit für den Basar schon Handeln im Sinne ökonomisierter Rationalität? (Die sich allerdings teilweise traditionell dermaßen verselbständigt hat, dass niemand mehr fragt, ob jemand die in stundenlanger Arbeit gehäkelten Topflappen oder die ollen Bücher vom Dachboden jemand auch kauft.) Wer seiner gehbehinderten Nachbarin hilft, wird doch von den Optionen der Sharing Economy nicht davon abgehalten. Eher ist anzunehmen, dass hilfsbereite Menschen eben mehr in der Sharing Economy aktiv sind, als die, denen das nur als Kokolores erscheint.
466. Nacht
Der Bruder, der die fromme Frau des Juden hatte steinigen lassen, wird vom Krebs im Gesicht befallen;
die Frau, die sie geschlagen hatte, erkrankte am Aussatz, und der Schelm ward vom Siechtum heimgesucht.
Dem Richter wird nach seiner Rückkehr erzählt, seine Frau sei verstorben. Sie ist aber inzwischen ist in ihrer Zelle zu einer berühmten frommen Weisen geworden, bei der man um Rat sucht. Den drei Erkrankten wird ebenfalls geraten, sich an sie zu wenden.
Als die drei vor sie treten, sagt sie zu ihnen:
„Ihr Leute da, ihr werdet nicht eher von euren Leiden erlöst werden, als bis ihr eure Sünden bekennt.“
Erwartungsgemäß tun sie das auch.
Und alsbald ließ Gott, der Allgewaltige und Glorreiche, sie genesen.
Auch ihr Mann erkennt sie wieder.
Der Bruder des Richters aber und der Schelm und die Frau baten um Vergebung; und nachdem sie ihnen verziehen hatte, widmeten sich alle an jener Stätte dort der Anbetung Gottes und dem Dienst der frommen Frau, bis der Tod sie schied.
Diese Geschichte ist doch recht bemerkenswert, da die Juden hier nicht verächtlich gemacht, sondern sogar als fromm und gottesfürchtig beschrieben werden.
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Die Geschichte von dem schiffsbrüchigen Weibe
Einer von den Nachkommen des Propheten erzählte
Durch diese Rahmung soll der Geschichte wohl mehr Glaubwürdigkeit verliehen werden.
Er trifft eines Nachts beim Spaziergang um die Kaaba eine klagende Frau, neben der ein schlafender Knabe liegt. Sie berichtet, dass sie vor einer Weile an diesen Ort wallfahren wollte und schwanger war. Das Schiff, auf dem sie sich befand, geriet aber in einen Sturm, und sie rettet sich auf eine Schiffsplanke, auf der sie das Kind gebiert.
„Als es nun auf meinem Schoße lag und die Wellen mich peitschten“ –,
Da bemerkte Schehrezâd, dass der Morgen begann und hielt in der verstatteten Rede an.
Ich bin 100% d'accord. Man kann für die ursprünge solch einer "shared economy" noch viel weiter zurück und auch weit aus der urbanen, regulierten Umgebung gehen. In mehr dörflich geprägten sozio-ökonomischen Gesellschaften war und ist das ganz normal. Man muss sich bloss mal in bayerischen oder schwäbischen Dörfern/Kleinstädten umschauen, wieviele Dienstleistungen dort auf der Basis gegenseitigen Austausches erbracht werden. Dem einzigen, dem das wirklich schadet, ist der Finanzminister. Aber der Wirtschaft, den Verbrauchern und Anbietern von Dienstleistungen (in diesem Fall alternierend die gleiche Person), schadet das überhaupt nicht. Ich denke es ist immer ein Zeichen hoch entwickelter Intelligenz, wenn sich die Beziehungen zwischen den Menschen natürlich ausbilden ohne den Zwang abstrakten Regularien folgen zu müssen. Das beste Beispiel war die bis letztes Jahr hoch-restriktive Politik des Bahnmonopols im deutschen Fernverkehr. Zum Glück ist das (durch die Weiterentwicklung der Idee von Mitfahrzentralen) durchbrochen worden, und Auswüchse einer totalen Regulierung bleiben in zukunft aus, wie bei der Bahn mit Streiks von einer Minorität von Lokführern, die dem ganzen Land ihre Bedingungen aufzwingen konnten.
Die Gechichte vom schiffbrüchigen Weibe könnte auch aus den täglichen Nachrichten von Mittelmeer-Flüchtlingen stammen.