Aus der Theatersport-Forderung, die Spieler mögen nicht zu viel Zeit mit dem Suchen von Requisiten oder gar mit Überlegen verplempern, entstand die Konvention, die Jury fünf Sekunden einzählen zu lassen – eine Aufgabe, die später dem Publikum übertragen wurde. Keith Johnstone hat sich über dieses Ritual ambivalent geäußert. Ich denke, jeder, der es mal erlebt hat, wie ein ganzer Saal kraftvoll gemeinsam einzählt, hat diese Wucht schätzen gelernt. Es schweißt das Publikum zusammen, ähnlich wie applaudieren oder überhaupt jede gemeinsame Aktion. Ich sehe aber auch drei Nachteile: 1. Das Ritual ermüdet sich im Laufe des Abends. Der zehnte Countdown ist meist längst nicht mehr so kräftig wie der erste. 2. Wenn man nur wenige längere Szenen oder Storys spielt und wenn es dann auch keine Wettbewerbsstruktur als Format gibt, wirkt das Einzählen etwas künstlich. Wozu einzählen, wenn niemand etwas zu verlieren hat? 3. Einzählen versetzt unter Umständen sowohl den Spieler als auch das Publikum selbst unter Stress. Wenn etwa ein Spieler eine ruhige Szene beginnen möchte, die sich langsam, wortlos und aus kleinen Gesten heraus entwickeln soll, dann könnte er bei einem derartigen gewaltigen Count Down entmutigt werden und in sinnlose Hektik verfallen.
„Und alles ist improvisiert!“
Hat der Jazz-Pianist Keith Jarrett bei der Ankündigung seiner Konzerte je damit geprahlt, dass alles improvisiert sei? Oder, um ein Beispiel aus der Comedy zu nehmen: Auch Helge Schneiders Auftritte sind zu einem großen Teil improvisiert. Nirgends in seinen Shows wird das auch nur ansatzweise thematisiert, es versteht sich von selbst.
„Bevor ich anfange, möchte ich noch Werbung machen für meine Show…“
Eine große Unsitte ist es, in gemischten Shows vor dem Auftritt Werbung für das eigene Produkt oder die eigene Show zu machen. Wirb erst, wenn du etwas geleistet hast und du dir das Recht auf Werbung verdient hast.
Stalin und ich – Die Leninsche Zerfleischung der Minderheitler genannten Mehrheitler
Kapitel 3 – Der gefährlichste Feind des Zarismus
Am Ende des 19. Jahrhunderts war das zaristische System verfault. Die Reichsanmaßung einerseits war ungeheuer. Das Land umfasste 104 Nationalitäten. Die im 19. Jahrhundert dominierende Strategie, die Probleme an den ausfransenden Rändern des Reichs in den Griff zu kriegen, bestand darin, noch mehr zu erobern. Andererseits war das zaristische System nicht reformierbar. Von einem Parlament konnte selbst 1900 keine Rede sein. Alexander II. schuf einen Ministerrat, den Kotkin als "Totgeburt" bezeichnet, da die Minister keinerlei Unabhängigkeit hatten, sondern dem Zaren persönlich Rechenschaft leisten mussten. Die Treffen des Ministerrates unterliefen jeden Reformansatz, indem es den einzelnen Ministern nur darum ging, bei Entscheidungsfindungen am Ende nicht auf der falschen Seite zu stehen. An Einbindung der Bevölkerung in die politische Entscheidungsfindung war nicht zu denken. Dissens galt als gefährlich. Wer sich oppositionell äußerte, wurde verbannt. Als einziges probates Mittel, grundsätzlich etwas zu ändern, schien der Opposition das Attentat. Alexander II. erwischte es 1881. Alexander III. überlebte mehrere Attentate, eines in Anwesenheit seines Sohnes, des späteren Zaren Nikolaus II. Lenins Bruder wurde nach einem versuchten Anschlag hingerichtet. Das Ganze wirkte selbstverstärkend: Da Opposition für die Zaristen mörderisch wirkte, wurden derlei Ansätze sofort erstickt. Da aber jede Art von Opposition illegal war, erschien Militanz unausweichlich.
The inflexible autocracy had many enemies, including Iosif Jugashvili. But its most dangerous enemy was itself.
Die faktische physische Bedrohung des Regimes führte zur Gründung der Geheimpolizei Ochranka. Diese Geheimpolizei war in Europa keine Ausnahme, sie unterwanderte die linke Opposition, was zu Paranoia unter den Sozialdemokraten führte.
Das kommt einem aus der DDR-Opposition bekannt vor.
Das Russische Reich war zudem auch unfähig, die Herausforderungen der Moderne zu meistern oder auch nur anzugehen. Der zunehmenden Industrialisierung und Intellektualisierung stand die Weigerung des Regimes gegenüber, diesen Kräften, zumindest ein legales Ventil politischer bzw. wirtschaftlicher Artikulation zu leihen. Dazu kamen immer wieder Bauernaufstände.
In diese Situation gerät ein fähiger Politiker an eine wichtige Position – Sergej Witte. Er präferiert (wie später Stalin) eine forcierte Entwicklung der Schwerindustrie, und visierte Reformen in der Innenpolitik und eine "Realpolitik" in der Außenpolitik an. Allerdings standen diesen Ansätzen keinerlei politische Strukturen gegenüber. Nikolaus II. bevorzugte Geheimhaltung, spielte Minister gegeneinander aus, ja, ließ sie sogar über seine eigenen politischen Ziele im Unklaren. Als im Januar 1905 streikende Arbeiter ihrem "Väterchen Zar" eine Petition überreichen wollen, verdrückt der sich aus der Stadt, und die Polizei lässt die Demonstranten niederschießen – der Startschuss für die 1905er Revolution.
In dieser Zeit nimmt Dschugaschwili (der bis hier und auch auf den weiteren Seiten der Biografie eher wie ein Nebendarsteller wirkt) eine Kehrtwendung in vielen Positionen ein, vor allem verabschiedet er sich, nach Angriffen aus seiner eigenen Partei, von der Vorstellung, Georgien sollte nach einer Revolution nationale Autonomie erlangen. Er unterwirft nicht nur die georgische Sozialdemokratie, sondern das spätere Georgien Russland.
Schon im Jahr 1903 wurde die russische Sozialdemokratie gespalten. Man mache sich keine Illusionen: Auch die Menschewiken waren radikale Revolutionäre, die für die "Diktatur des Proletariats" standen. Aber sie standen für eine breite Arbeiterbewegung der Partei, während Lenin derartige Vorstellungen für illusorisch hielt: Eine revolutionäre Partei müsse ein professionelle Elite-Truppe sein. Die gegnerische Fraktion bezeichnet er als Minderheitler (die sie bis auf eine einzige Abstimmung nie waren).
Schon hier wird klar: Lenin will seine Vorstellungen durchsetzen. Demokratie, auch innerparteiliche, ist ihm ein Gräuel. Eine Massenpartei zur Erlangung der Macht – das könnte ja sonstwo enden. Aber auch seine innerparteilichen Gegner greift er derart scharf an, dass erkennbar wird: Er ist an politischer Auseinandersetzung oder Debatte nicht wirklich interessiert, kompromissfähig ist er kaum.
Das Regime zerfällt, es lässt die Sozialdemokraten verbannen oder vertreibt sie ins Exil. Und die zerfleischen sich darüber, ob die Revolution sozialistisch sein soll oder (gemäß Marx‘ Prophezeiung) zunächst bürgerlich sein sollte.
Der Zar lässt unterdessen Pjotr Durnowo zum Retter der Autokratie machen und untergräbt damit Wittes Ansätze. Auch Durnowo ist ein rücksichtsloser und talentierter Politiker. Aber sein Talent verschafft dem Zaren nur eine Atempause. Er stabilisiert das Regime kurzzeitig und verurteilt es somit zum Untergang.
It is impossible to know what would have transpired had Durnovó’s exceptional resoluteness and police skill not saved tsarism in 1905-6. Still, one wonders whether history of one sixth of the earth, and beyond, would have been as catastrophic, and would have seen the appearance of Stalin’s inordinately violent dictatorship.
Stalin und ich – neun Sozialdemokraten und ein Notizbuchträger
Die logistische Anbindung durch die Eisenbahn lässt radikale Ideen ins Land fließen, vornehmlich die beiden radikalen Strömungen, die im 19. Jahrhundert geboren werden und das 20. beeinflussen – Nationalismus und Sozialismus. Dschugaschwili ist zunächst für beides offen, aber sein älterer Freund „Lado“ führt ihn an den Marxismus heran. Sein Lesehunger nimmt ungeheure Ausmaße an und umfasst nicht nur, wie man denken könnte, die klassische marxistische Literatur, sondern auch die russischen Klassiker, Weltliteratur wie Hugo, Balzac, Thackeray und georgische Poesie. Für seine Gedanken trägt er nun ein Notizbuch mit sich herum.
Die Regeln des Priesterseminars, das ihm einst so viel bedeutet hat, unterläuft er nun immer häufiger, selbst als sein Freund Lado aus dem Priesterseminar entlassen wird.
Das Problem des Marxismus bestand nun aber darin, dass dieser in Russland unter Intellektuellen populär wurde, lange bevor es überhaupt ein Proletariat oder einen entwickelten Kapitalismus gab. Die Bauern konnten mit der Propaganda der „Volksfreunde“ (narodniki) nichts anfangen. Für die frühen russischen Sozialisten stellte sich Ende des 19. Jahrhunderts nun die Frage, ob man den Kapitalismus einfach überspringen könne oder seine Entwicklung in Kauf nehmen müsse. (Diese Frage zieht sich durch die Fraktionskämpfe der russischen Sozialdemokratie und findet letztlich sogar noch ein Echo in den Moskauer Prozessen.)
1898 wird dann auf dem ersten (illegalen) Parteitag die „Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands“ gegründet. Teilnehmerzahl – 9, in Worten: neun!
Nachdem er das Seminar immer mehr schleifen lässt und nicht zu den Abschluss-Examen erscheint, kommt, was kommen muss – Stalin wird entlassen. Aus dieser Zeit nimmt er mit:
– die ungeheure Selbstdisziplin, die man zweifellos in streng religiösen Zusammenhängen trainiert,
– das Vermögen, sich in Gedankengebäude zu begeben und
Diesen Punkt erwähnt Kotkin nicht, aber er liegt deutlich auf der Hand, wie man später noch sehen wird. Stalin (aber auch Lenin) sind radikal wie man es heute von religiösen Fundamentalisten kennt. Der Glaube, das Wissen um die hehre Wahrheit gepachtet zu haben, lässt jede unmittelbare Menschlichkeit erlöschen. Der Humanismus degeneriert zur abstrakten Formel.
Die Jacke
Freitag, 22. Mai 2015. Langform von Foxy Freestyle „Strangers In The Night“.
Ich lasse mir als Inspiration für meine Figur aus dem Publikum eine Jacke geben. (Das habe ich das letzte Mal wahrscheinlich vor 10 Jahren gemacht.) Ich ziehe die Jacke an und werde der Character. Ab diesem Moment spielt sich die Show (ein zweistündiges improvisiertes Stück) wie von allein. Selten war ich für einen Vorschlag aus dem Publikum so dankbar.