Kapitel 4 – Konstitutionelle Autokratie
Das 1905 erschütterte Regime pendelt nun verzweifelt zwischen kleinen politischen Zugeständnissen und noch härteren Sanktionen gegen politische Oppositionelle. Ein neuer Beinahe-Bismarck wird aus dem Ärmel geschüttelt: Stolypin, der einerseits von links und rechts für die Verteidigung der politischen Reformen (darunter auch Bodenreformen für die Bauern) angegriffen wird, andererseits unterdrückt er revolutionäre Bewegungen härter als alle seine Vorgänger und setzt dafür auch rechtliche Verfahren außer Kraft. Tausende werden in Schnellverfahren zum Tode verurteilt. Aber Stolypin erkannte, woran es dem russischen Staatsorganisation mangelte. Sein Leben sollte nicht mehr lange währen. 1911 erliegt er den Folgen eines Attentats, nicht wissend, dass er die Voraussetzungen geschaffen hatte, auf denen ein ihn tausendfach überbietender Gewaltherrscher einmal aufbauen würde.
Im Grunde glich Stolypin Stalin: Beide sahen die Bauernschaft als Hort des Aufruhrs und gleichzeitig wussten sie, dass die Agrarstrukturen überkommen waren: Kleine Kommunen, in denen kleinflächige Streifen bewirtschaftet wurden. Beide wussten, dass es höchste Zeit war, die Landwirtschaft zu industrialisieren. Aber die Lösung, die sie wählten, hätte unterschiedlicher nicht sein können. Stolypin setzte auf die Mittel- und Großbauern, auf günstige Kredite. Stalin hingegen konnte, wie man später sehen wird, nicht über seinen ideologischen Schatten springen. Die Großbauern und auch die Mittelbauern waren ihm immer suspekt. Privateigentum konnte er nicht dulden, sonst wäre ja die Revolution umsonst gewesen. Seine Lösung würde später heißen: Forcierte Kollektivierung im großen Stil und physische Eliminierung der „Kulaken“.
Kotkin beschreibt Stolypin als Radikalen:
Technocrats generally saw „politics“ as a hindrance to efficient administration. In that regard, Stolypin’s idea of incorporating peasants – at least the „strong and the sober“ among the peasantry – into the sociopolitical order on equal terms with other subjects was radical.
Aber nicht nur die Bauern sollten in ein politisches Gemeinwesen integriert werden. Stolypin entfernte auch die Schranken für Juden. Und er versuchte, religiöse und bürgerliche Rechte zu etablieren und (ganz wie Bismarck) eine Arbeiter-Unfall und -Krankenversicherung einzuführen.
Politisch bedeutender als die zersplitterte und verfolgte Linke waren die Schwarzen Hundertschaften und der „Bund des Russischen Volkes“ – ein illiberale, zaristische und natürlich nationalistische Vereinigung mit dem Leitspruch „За Веру, Царя и Отечество“. Ganz im russisch-mystischen Sinne erstrebten sie eine Einheit von Volk und Zar. Verfassung und Parlament hielten sie für Schnickschnack. Dumm nur, dass der Zar soeben die Duma ins Leben gerufen hatte.
Politisch bedeutender als die zersplitterte und verfolgte Linke waren die Schwarzen Hundertschaften und der „Bund des Russischen Volkes“ – ein illiberale, zaristische und natürlich nationalistische Vereinigung mit dem Leitspruch „За Веру, Царя и Отечество“. Ganz im russisch-mystischen Sinne erstrebten sie eine Einheit von Volk und Zar. Verfassung und Parlament hielten sie für Schnickschnack. Dumm nur, dass der Zar soeben die Duma ins Leben gerufen hatte.
Wenden wir uns nun den Sozialisten und Stalin zu. Die russischen Sozialdemokraten halten ihren Parteitag in Stockholm ab. Stalin, als der einzige Bolschewik unter den kaukasischen Delegierten, wendet sich sowohl gegen Lenin (!) als auch gegen die Menschewiken. Er lehnt sowohl die Verstaatlichung (Lenin) als auch die Kommunalisierung des Landes ab. Er fordert (man höre und staune), dass die Bauern das Land in die eigenen Hände nehmen.
Die Änderung dieser Position wird später Millionen das Leben kosten.
Aus Stockholm kehrt er zurück mit Anzug, Hut und Pfeife.
Only the pipe would last.
Zurück aus Stockholm beginnt Dschugaschwili mit der Veröffentlichung einer Artikelreihe unter dem Titel „Anarchismus oder Sozialismus?“, die den späteren Stil und die spätere Denkweise vorwegnehmen: Marxismus ist nicht mehr nur ein soziologischer und philosophischer Ansatz, er ist eine Weltanschauung, er erklärt alles.
His ideational world – Marxist materialism, Leninist party – emerges as derivative and catechismic, yet logical and deeply set.
Ab 1907 publiziert er nur noch auf Russisch und er lässt seine ersten antisemitisch gefärbten Angriffe gegen die Menschewiken los.
Die Mehrheit des 5. Parteitags beschließt ein Verbot der „Expropriationen“ (lies: Raubzüge) gegen Unternehmer. Der „Mehrheitler“ Lenin unterliegt in der Abstimmung und setzt sich darüber hinweg. Am 12. Juni 1907 werden zwei Postkutschen einer Bank in Tiflis ausgeraubt. Man kann davon ausgehen, dass Stalin zu den Verschwörern gehörte.
Da der Raubzug einen Verstoß gegen einen Parteibeschluss darstellte, stand Stalin vor einem Parteiausschluss. Er entwich nach Baku und entzog sich dem Urteil. Die damit einhergehenden Gerüchte, ein simpler Krimineller zu sein, würden ihn seitdem verfolgen.
In Baku beginnt er mit der Agitation unter den Erdöl-Arbeitern.
Unter den Stolypinschen Standgericht-Gesetzen war das eine lebensgefährliche Tätigkeit. Selbst Trotzki lobt Stalin später gegenüber Lenin für seinen Mut und seine Loyalität.
Da der Raubzug einen Verstoß gegen einen Parteibeschluss darstellte, stand Stalin vor einem Parteiausschluss. Er entwich nach Baku und entzog sich dem Urteil. Die damit einhergehenden Gerüchte, ein simpler Krimineller zu sein, würden ihn seitdem verfolgen.
In Baku beginnt er mit der Agitation unter den Erdöl-Arbeitern.
Unter den Stolypinschen Standgericht-Gesetzen war das eine lebensgefährliche Tätigkeit. Selbst Trotzki lobt Stalin später gegenüber Lenin für seinen Mut und seine Loyalität.
Diesen Mut und diese Selbstverleugnung kleinzureden oder wegzudiskutieren, um Stalin als machthungriges Monster darzustellen, würde die Angelegenheit nicht nur zu einfach machen. Es macht auch blind für die Dynamik diktatorischer und despotischer Macht. Denn letztlich rechtfertigte sich Stalins Macht vor sich selbst und vor Millionen Untertanen durch die Gewissheit, auf der richtigen Seite zu stehen, durch das Wissen, sein eigenes Leben zum Wohle der Arbeiter eingesetzt zu haben.
Im Dezember 1907 stirbt Stalins erste Frau, und kurz darauf wird er inhaftiert und verbannt. Er flieht ein Jahr später über Petersburg wieder nach Baku, wo ihn die Ochranka kurze Zeit später wieder verhaftet.
Stolypins Bemühungen, das Reich zusammenzuhalten, indem er auch den nationalen Geist (mit der russischen Orthodoxie als Kitt) zu wecken versucht, werden untergraben, erstens von den russischen Nationalisten selbst, die am liebsten alle Minderheiten aus dem Reich drängen wollen, und zweitens vom Zaren, den sein Minderwertigkeitskomplex zwickt, wenn er andauernd von den Leistungen seines Chefs des Ministerrats liest:
„Zähle ich denn gar nicht? Bin ich denn ein Niemand?“
Nikolaus II. schürt Intrigen und zerstört auf diese Weise selbst kleinere politische Anstrengungen.‘
Stolypin erliegt 1911 dem Attentat eines von der Ochranka bezahlten Anarchisten, und Lenin kooptiert Stalin in Abwesenheit ins Zentralkomittee.
Stolypin erliegt 1911 dem Attentat eines von der Ochranka bezahlten Anarchisten, und Lenin kooptiert Stalin in Abwesenheit ins Zentralkomittee.
Stalin was loyal and could get things done.
Je mehr der unfähige Autokrat Nikolaus II. an der Autokratie festhält (er beschneidet die bereits zugestandenen legislativen Rechte der Duma), umso mehr fällt sie in sich zusammen.
The hemophilia [of the tsarevich], an unlucky additional factor piled on the autocracy’s deep structural failures, was actually an opportunity to face the difficult choice that confronted autocratic Russia, but Nicolaus II and Alexandra, fundamentally sentimental beings, had none of the hard-boiled realism necessary for accepting a transformation to a genuine constitutional monarchy in order to preserve the latter.
Der größte Zerstörer der zaristischen Autokratie war der Autokrat selbst. Bar jeder politischen Basis blieb die politische Polizei sein Hauptmittel. Es brodelte an jeder Ecke des politischen Spektrums. Selbst die Monarchisten erwogen ein Attentat. Dass es an der radikalen Linken (wenn auch nicht gerade den Bolschewiki) sei, der Autokratie den erlösenden Todesstoß zu versetzen, hätte zu dem Zeitpunkt aber noch niemand ahnen können:
If anyone alive had been informed during the Romanov tercentenary celebrations of 1913 that soon a fascist right-wing dictatorship and a socialist left-wing dictatorship would assume power in different countries, would he or she have guessed that the hopelessly schismatic Russian Social Democrats dispersed across Siberia and Europe would be the ones to seize and hold power, and not the German Social Democrats, who in the 1912 elections had become the largest political party in the German parliament? Conversely, would anyone have predicted that Germany would eventually develop a successful anti-Semitic fascism rather than imperial Russia, the home of the world’s largest population of Jews and of the infamous Protocols of the Elders of Zion?
Die Rechten waren nicht in der Lage, eine Politik zu formulieren, die die Massen Russlands inkludierte. Die Herrschenden hatten ohnehin jeglichen Bezug zur Realität verloren. Die Linke hingegen war völlig zersplittert: Von der Regierung zerrieben und in hoffnungslosem Fraktionalismus aufgespalten.
And yet, within a mere decade, the Georgian-born Russian Social Democrat Iosif „Koba“ Jugashvili, a pundit and agitator, would take the place of the sickly Romanov heir and go on to forge a fantastical dictatorial authority far beyond any effective power exercised by imperial Russia’s autocratic tsars or Stolypin. Calling that outcome unforeseeable would be an acute understatement.
Stalin und ich – stets auf der richtigen Seite, stets zum Wohle der Arbeiter