Schmerzhafte Gruppengründung aus Workshops

(Ergänzung: Diese Gedanken habe ich bearbeitet und weiter ausgeführt im Buch „Improvisationstheater. Band 8: Gruppen, Geld und Management


Oft passiert es, dass sich ganze Workshop-Klassen selbständig machen. Das fühlt sich oft zunächst ganz gut an, da man den positiven Schwung aus den Impro-Kursen in die Gruppe mitnimmt. Aber dieser Automatismus schlägt manchmal zurück, da vieles unausgesprochen bleibt, über das sich eine Gruppe verständigen sollte. Eine Workshop-Gruppe ist etwas anderes als ein regelmäßig auftretendes Ensemble. Die Trennungen, die sich hier vollziehen, sind oft schmerzhaft, da man einander oft mag und gemeinsam in die Geheimnisse der Improvisation eingedrungen ist. Aber um wieviel schmerzhafter ist es, wenn man sich in einer bestehenden Gruppe von Mitgliedern trennen muss! Jede, wirklich jede Gruppe, die aus einem Workshop hervorgegangen ist, muss diesen Schritt früher oder später gehen. Geht man ihn während eines bestehenden Workshops, gerät die Chance, die kameradschaftliche Grundlage zu erhalten, zwar ins Wanken, wird aber nicht zerstört. Der Rausschmiss eines Mitglieds führt fast immer zu gegenseitigen Verletzungen. Zwei Fragen muss man sich hier stellen: 1. Will man mit dieser oder jener Person zusammen auf der Bühne stehen? 2. Kann diese Person das auch dauerhaft leisten? Nur wenn man beide Fragen herzhaft bejahen kann, sollte man die Personen aufnehmen. Dass man sich gegen einen Spieler entschieden hat, muss nicht einmal mit seinen Impro-Fähigkeiten zu tun haben. In einer mir bekannten Gruppe, flossen Tränen, als sich alle darüber im Klaren wurden, dass O., den alle mochten und der ein großartiger Improvisierer war, nicht in den Kreis der Spieler aufgenommen werden konnte, da seine kaputten Stimmbänder verhinderten, dass man ihn überhaupt im Publikum hätte verstehen können. Schließlich gab man ihm den Techniker-Job – eine Lösung, mit der alle gut leben konnten.

Ergänzung 2019: Diese Gedanken wurden später noch ausgeführt in Dan Richter: „Improvisationstheater. Band 8: Gruppen, Geld und Management“

Impro-Journalisten, wo seid ihr?

Journalisten neigen ja dazu, Impro-Shows zu ignorieren, wenn nicht gerade ein Festival ansteht, bei dem die Eröffnungsshow besprochen wird oder es in einer Kleinstadt nun endlich auch ein Improtheater gibt.
Die unangenehme Kehrseite dieser Journalisten-Ignoranz sind die ewiggleichen Rezensionen von Impro-Shows: „Das Publikum wälzt sich auf dem Boden vor Lachen, als sich in der zweiten Szene der Detektiv mit einer schizophrenen Katze auf dem Mars eine Opern-Arien-Battle liefert…“ Fast immer beziehen sich die Journalisten in ihren Rezensionen auf absurde Situationen. So gut wie nie verstehen sie die Mechanismen der Improvisation, was letztlich dazu führt, dass sie kein Beurteilungs-Instrumentarium dafür haben, ob eine Impro-Show gut oder schlecht war. Sie gleichen Richard-Wagner-Fans auf einem Hip-Hop-Konzert. Sie erkennen nicht, ob die Spieler gut zusammengespielt haben, ob sie ein Händchen fürs Narrativ haben. Sie wissen nicht die Feinheiten des improvisierten Bewegungs-Ablaufs zu schätzen. Komisches Timing und Narrativ sind ihnen wurscht. Hauptsache „Fünf-vier-drei-zwei-eins! Und alles war improvisiert.“
Falls es da draußen einsame Journalisten mit Impro-Kenntnis gibt, verzeiht mir bitte diese Tirade. Ich bin auf eurer Seite.

Erwiderung auf Brody zur Frage „Last Film, Best Film?“

In einem Artikel im New Yorker vom 7. April 2016 bricht Richard Brody eine Lanze für die Spätwerke von Regisseuren. Das Publikum neige dazu, das frühe Werk eines Regisseurs zu überschätzen und dann oft mehr vom selben zu wollen. Späte Regisseure, die von Hollywood nicht mehr viel zu erwarten hätten, würden sich frei machen von den Zwängen der Industrie und neue Sichtweisen präsentieren. Der Zuschauer möge sich nur öffnen für neue Facetten im reifen Regisseur.
Als Beispiele führt Brody unter anderem „Marnie“ von Hitchcock an, den er für „größer“ hält als „Psycho“ oder „Vertigo“, sowie die Chaplin-Filme „Monsieur Verdoux“, „Rampenlicht“, „Ein König in New York“ und „Die Gräfin von Hongkong“, die allesamt ihre stummen Vorgänger und auch den „Großen Diktator“ überträfen.
Nun scheint der Gedanke nicht einmal verkehrt zu sein, dass man sich im Alter emotional und geistig von bestimmten Zwängen befreien kann, aber ist das auch immer der Fall?
Eigentlich beweisen gerade die Fälle Chaplin und Hitchcock das Gegenteil. Chaplin hat das Medium des Tonfilms nie wirklich geknackt. Die Dialoge sind oft steif, sie tragen weder zur dramatischen Steigerung bei, noch verschärfen sie die Komik. Man schaue sich nur einmal „Rampenlicht“ an. Im Grunde knüpft Chaplin an sein Lieblingsgenre an – die melodramatische Komödie, die er in Filmen wie „Lichter der Großstadt“, „Zirkus“ oder „The Kid“ großartig gemeistert hat. „Rampenlicht“ ist voller dramatischem Leerlauf. Man spürt, dass Chaplin auch die Entwicklung des Films verschlafen hat. In den 50er Jahren lässt er tatsächlich aufs Stichwort den Telegrammboten auftauchen, was man eigentlich in der Zeit nur noch in B-Movies macht. Die Tonfilmkomödien jener Zeit müssen sich an den Screwball-Filmen messen, an Billy Wilder und Frank Capra. Aber Chaplin ist in seinen Tonfilmen viel zu sehr damit beschäftigt, seine Botschaften jedem dick aufs Brot zu schmieren, statt sie unterschwellig zu servieren. Er vergisst, dass man auch im Tonfilm lieber zeigen, statt erzählen sollte. Und wenn es rührend werden soll, greift er auf die schlimmsten Klischees der dreißiger Jahre zurück. In „Monsieur Verdoux“ bemüht sich Chaplin immerhin noch formal und stilistisch um andere Wege. Vielleicht ist es sogar sein bester Talkie. „Der Große Diktator“ ist Chaplins Sündenfall. Natürlich war klar, dass die Zeit des Stummfilms vorbei ist, und Chaplin hat ihm ja lange noch erfolgreich getrotzt. Aber für seine Tonfilme hätte er sich etwas anderes einfallen lassen müssen, sich einen Drehbuchschreiber engagieren oder mehr Zeit in kernige Dialoge investieren, statt in plot-getriebene Phrasen. Oder eben die Chuzpe haben, den Stummfilm fortzuführen. Rowan Atkinson hat uns ja in den 90ern ein Revival des stummen Narren geschenkt.
Bei Hitchcock, der ebenfalls wie Chaplin als britischer Immigrant Hollywood eroberte, liegt die Sache noch etwas anders. Er betrieb seit den 30er Jahren dasselbe Geschäft – Suspense, und in den späten 50ern gelangen ihm mit „Psycho“ und „Vertigo“ formale Meisterwerke, die auch inhaltlich von den Schemen abwichen, mit denen er üblicherweise spielte. Der Hitchcock-Überfilm, in dem sich sämtliche anderen Filme von ihm wiederfinden, ist sicherlich „North by Northwest“. „Marnie“ ist sicherlich kein krasser Bruch wie Chaplins Diktator, es ist sicherlich sogar ein guter Film, aber „Marnie“ hat große Schwächen, die man nicht wegwischen kann: So bekommt Hitchcock die von Sean Connery gespielte männliche Heldenrolle nicht in den Griff. Im Buch ist sie ja zwiespältig angelegt: Ein Mann, der Marnie ertappt, sie aber eigentlich wieder dominieren und missbrauchen will. Diese düstere Seite wird im Film völlig überzuckert, und seine charmante Erpressung quasi hingenommen. Die Küchen-Psychoanalyse kann man noch hinnehmen, die hat uns Hitchcock auch schon in Psycho zugemutet, aber dieser Film verliert sich stellenweise im Taumel des Nicht-Wissen-Wohin. Dennoch ist der Meister immer noch Herr seiner Suspense-Instinkte und schafft Szenen, die uns entsetzen lassen.
Was dann kommt, ist ein langsamer Sinkflug von Hitchcocks Niveau. Vor allem in „Familiengrab“, seinem letzten Film, versucht Hitchcock dem Humor mehr Raum zu geben. Heraus kommen platte Slapstick-Szenen, die nicht witzig sind, und schon gar nicht zeigen sie den feinen Humor des Meisters aus seinen früheren Filmen.
Wenn Brodys Theorie stimmen sollte (und viel spricht dafür, dass sie ganz und gar nicht stimmt), dann sind Hitchcock und Chaplin die falschen Kronzeugen. Beide Regisseure erschlafften in ihren letzten Jahren. Bei Chaplin geschah es früher, bei Hitchcock später.
Ich vermute sogar, dass die Limitierungen, die den Regisseuren gesetzt werden, entweder durch Studio-Produzenten, durch Budget-Begrenzungen und sogar durch drohende Zensur, diese dazu gezwungen werden, sich künstlerische Lösungen für ihre inhaltlichen Probleme zu überlegen. Bekannt ist der Stress, dem man dem jungen Francis Ford Coppola beim Dreh des Films „Der Pate“ aufnötigte: Man drohte ihm, Brando und Pacino zu streichen, beide erbrachten unter Coppolas sensibler und intelligenter Regie die besten Leistungen ihres Lebens. Das Budget war so eng bemessen, dass Pacino der einzige Schauspieler war, der nach Las Vegas und Sizilien geflogen werden konnte, was Coppola zu intelligenten Lösungen bei den Los-Angeles-Aufnahmen führte. Das ungeheure Budget und der Macht-doch-was-ihr-wollt-Ansatz beim dritten Teil der Trilogie hatte zur Folge, dass sich die Autoren und der Regisseur in eine wirre, blutrünstige Story verwickelten, bei der nichts mehr an die Stilisierung des ersten Teils erinnerte.
Tarantino kündigte kürzlich an, „Hateful Eight“ würde sein drittletzter Film. Er beschränke sich auf zehn Filme, denn im Alter von 60 Jahren sei die Zeit eines Regisseurs abgelaufen. Angesichts des Spätwerks von Chaplin und Hitchcock sicherlich eine weise Entscheidung.

Klassenkameraden – DDR 1984 revisited

Klassenkameraden

Ich weiß nicht mehr genau, warum ich an jenem späten Abend im Jahr 1984 ausgerechnet im DDR-Fernsehen hängenblieb. Das passierte einem ja sonst nur, wenn sie eine Komödie mit Adriano Celentano zeigten oder auf den drei Westkanälen parallel das Aachener Springreitturnier, eine Dokumentation über belgische Dörfer und der Blaue Bock liefen.
Es war ein Krimi, und ich war überrascht davon, zu welchem Stil, welcher Spannung, welchem inhaltlichen Wagemut die Filmemacher fähig waren. Die Erinnerung an den Film verflachte natürlich im Laufe der Jahrzehnte. Ich wusste noch, dass er in Altenburg gedreht wurde, dass man einmal kurz Hitchcocks Foto sehen konnte, eine Zither zu hören war und dass der Film "Klassentreffen" hieß. Und ausgerechnet bei dieser Namens-Erinnerung spielte mir mein Gedächtnis einen Streich. Und so googelte ich immer wieder hoffnungsvoll aber ergebnislos nach der DVD. Im März dieses Jahres spuckte dann die intelligent gewordene Suchmaschine, die schon weiß, was man sucht, auch wenn man es selbst nicht weiß, das richtige Ergebnis aus. Der Film heißt "Klassenkameraden". Ich kaufte die DVD, und etwas scheu begann ich zu schauen. Man darf ja seinen Jugend-Thrills nicht trauen. "Lebendig begraben" zum Beispiel, ein Horrorfilm nach Poe, ließ mich damals im Sessel erstarren. Wie groß war dann in den Nullerjahren die Pappmaché-Enttäuschung mit Ray Milland, dem James Stewart für Arme!
Bei "Klassenkameraden" wurde ich auch überrascht, aber eher davon, um wieviel er besser war als ich ihn in Erinnerung hatte. Der Film ist vollgestopft mit Zitaten, Anleihen und Anspielungen. Ich springe jedes Mal auf vor Freude, wenn ich wieder ein kleines Detail entdeckt habe.
Den Krimi-Plot hatte ich völlig vergessen, aber auch der war für DDR-Verhältnisse sensationell: Der Betreiber einer Bar lässt Kurgäste ausrauben, durchsucht ihre Papiere und erpresst sie, wenn er Zweifelhaftes darin findet. Durch diese Machenschaften gelangt er an Beziehungen, die ihm für seinen Betrieb wichtiger sind als das Geld. Denn mit Geld allein kriegst du keinen Mazda und kannst dir die Bar nicht so luxuriös ausstatten lassen. Dass sich aus dieser Erpressungs-Idee ein Geschäftsmodell machen lässt, dass in der DDR Beziehungen "zu den höchsten Kreisen" wichtiger als alles andere sind, dass die Mazdas überhaupt in einem derartigen Zusammenhang erwähnt werden muss für die Polizeiruf-Produzenten ein glühend heißes Eisen gewesen sein, so dass sie es aus der Serie entfernten und in den Spätabend verbannten.
Natürlich kommt es zum Mord, und der aus Berlin einreisende ermittelnde Kriminal-Hauptmann ahnt nicht, dass einer seiner drei Klassenkameraden, mit denen er nach dem Krieg krumme Dinger gedreht hat, der Mörder ist. Und jetzt kommt Hitchcock ins Spiel. Das erste Zitat ist die Treppe im Bahnwärterhäuschen. Ähnlich wie Arbogast in "Psycho" oder Guy Haines in "Der Fremde im Zug" steigen die Beteiligten immer wieder die hitchcockmäßig aus der Froschperspektive ins Visier genommene Treppe empor, um jedes Mal oben überrascht zu werden. Und wie in Hitchcocks Kurzfilmen oder "Immer Ärger mit Harry" spielt der Autor und Regisseur Rainer Bär humorvoll mit Leiche und unseren Erwartungen. Ahnungslose junge Männer haben plötzlich den Toten auf der Rückbank ihre Autos und werden nachts von der Polizei angehalten. Wir fürchten, dass man sie nun drankiegt, aber es geht dem Polizisten nur um den linken Scheinwerfer des ollen Skoda, der als Running Gag auch später immer wieder ausfällt. Der Polizist drückt noch mal ein Auge zu und lässt sie weiterfahren, aber bevor sie den Motor anlassen können, kommt er noch mal zurück. Jetzt hat er sie! April, April, er weist sie nur noch mal im Onkel-Polizist-Ton darauf hin sich wirklich um den Scheinwerfer zu kümmern.
Und was ist das berühmteste Beweisstück in einem Hitchcock-Film? Natürlich das geklaute Feuerzeug aus "Der Fremde im Zug". Ähnlich wie beim Meister führt die Fährte dieses MacGuffin natürlich zum Falschen. Wie es sich in einem Hitchcock-Hommage-Film gehört, taucht der Meister im Film selber auf – im Schaufenster eines Fotoladens. Wenn wir aus der Froschperspektive das junge Mädchen auf Altenburgs nassen Straßen sehen, erklingt Zithermusik, und wer es bis jetzt nicht bemerkt hat, versteht jetzt, dass sich Bär auch bei Caror Reeds "Der dritte Mann" bedient. Das Timing der Verfolgungsjagd am Ende hat so gar nichts mehr mit den peinlich lahmen Polizeiruf-Lada-Fahrten zu tun. Expressionistische Schatten an den Häuserwänden, Schuheklackern auf dem Kopfsteinpflaster und ein Ganove zu Fuß auf der Flucht. Bär gelingt es, das bei Tageslicht etwas fade DDR-Altenburg zu stilisieren, so wie es Reed damals mit dem Nachkriegs-Wien gelang.
Aber womit ich gar nicht mehr gerechnet hatte, war eine kleine Anspielung auf "Der Pate". Schurke Grohmann im Brandoschen Hochstatus droht und krault dabei die Katze. Fast erwarte ich, dass er fragt: "Was habe ich dir getan, dass du mich so respektlos behandelst?"
Wie ein moderner New Yorker Koch mischt Rainer Bär die Rezepte und bringt etwas völlig Neues zustande. Einen DDR-Thriller. Als ostdeutsche Zutaten bringt er das Wertvollste ein, was die DDR-Filme überhaupt geleistet haben – die Milieu-Genauigkeit. Wir hören das ermüdende Geklacker der mechanischen Schreibmaschinen bei der Kripo. Die jungen Männer arbeiten in einer Schlachterei, und wir sehen ungeschönt die ganze Sauerei – vom Zerteilen der Rinderhälften bis zum Säubern des blutbeschmadderten Kachelbodens. Als der Zug in den einsamen Bahnhof einfährt, kriege ich eine regelrechte Geruchshalluzination beim Anblick des alten Zugs.
Rainer Bär ist inzwischen 76 Jahre alt. Es ist ihm sehr zu wünschen, dass man dieses kleine Meisterstück noch zu seinen Lebzeiten wiederentdeckt.