In einem Artikel im New Yorker vom 7. April 2016 bricht Richard Brody eine Lanze für die Spätwerke von Regisseuren. Das Publikum neige dazu, das frühe Werk eines Regisseurs zu überschätzen und dann oft mehr vom selben zu wollen. Späte Regisseure, die von Hollywood nicht mehr viel zu erwarten hätten, würden sich frei machen von den Zwängen der Industrie und neue Sichtweisen präsentieren. Der Zuschauer möge sich nur öffnen für neue Facetten im reifen Regisseur.
Als Beispiele führt Brody unter anderem „Marnie“ von Hitchcock an, den er für „größer“ hält als „Psycho“ oder „Vertigo“, sowie die Chaplin-Filme „Monsieur Verdoux“, „Rampenlicht“, „Ein König in New York“ und „Die Gräfin von Hongkong“, die allesamt ihre stummen Vorgänger und auch den „Großen Diktator“ überträfen.
Nun scheint der Gedanke nicht einmal verkehrt zu sein, dass man sich im Alter emotional und geistig von bestimmten Zwängen befreien kann, aber ist das auch immer der Fall?
Eigentlich beweisen gerade die Fälle Chaplin und Hitchcock das Gegenteil. Chaplin hat das Medium des Tonfilms nie wirklich geknackt. Die Dialoge sind oft steif, sie tragen weder zur dramatischen Steigerung bei, noch verschärfen sie die Komik. Man schaue sich nur einmal „Rampenlicht“ an. Im Grunde knüpft Chaplin an sein Lieblingsgenre an – die melodramatische Komödie, die er in Filmen wie „Lichter der Großstadt“, „Zirkus“ oder „The Kid“ großartig gemeistert hat. „Rampenlicht“ ist voller dramatischem Leerlauf. Man spürt, dass Chaplin auch die Entwicklung des Films verschlafen hat. In den 50er Jahren lässt er tatsächlich aufs Stichwort den Telegrammboten auftauchen, was man eigentlich in der Zeit nur noch in B-Movies macht. Die Tonfilmkomödien jener Zeit müssen sich an den Screwball-Filmen messen, an Billy Wilder und Frank Capra. Aber Chaplin ist in seinen Tonfilmen viel zu sehr damit beschäftigt, seine Botschaften jedem dick aufs Brot zu schmieren, statt sie unterschwellig zu servieren. Er vergisst, dass man auch im Tonfilm lieber zeigen, statt erzählen sollte. Und wenn es rührend werden soll, greift er auf die schlimmsten Klischees der dreißiger Jahre zurück. In „Monsieur Verdoux“ bemüht sich Chaplin immerhin noch formal und stilistisch um andere Wege. Vielleicht ist es sogar sein bester Talkie. „Der Große Diktator“ ist Chaplins Sündenfall. Natürlich war klar, dass die Zeit des Stummfilms vorbei ist, und Chaplin hat ihm ja lange noch erfolgreich getrotzt. Aber für seine Tonfilme hätte er sich etwas anderes einfallen lassen müssen, sich einen Drehbuchschreiber engagieren oder mehr Zeit in kernige Dialoge investieren, statt in plot-getriebene Phrasen. Oder eben die Chuzpe haben, den Stummfilm fortzuführen. Rowan Atkinson hat uns ja in den 90ern ein Revival des stummen Narren geschenkt.
Bei Hitchcock, der ebenfalls wie Chaplin als britischer Immigrant Hollywood eroberte, liegt die Sache noch etwas anders. Er betrieb seit den 30er Jahren dasselbe Geschäft – Suspense, und in den späten 50ern gelangen ihm mit „Psycho“ und „Vertigo“ formale Meisterwerke, die auch inhaltlich von den Schemen abwichen, mit denen er üblicherweise spielte. Der Hitchcock-Überfilm, in dem sich sämtliche anderen Filme von ihm wiederfinden, ist sicherlich „North by Northwest“. „Marnie“ ist sicherlich kein krasser Bruch wie Chaplins Diktator, es ist sicherlich sogar ein guter Film, aber „Marnie“ hat große Schwächen, die man nicht wegwischen kann: So bekommt Hitchcock die von Sean Connery gespielte männliche Heldenrolle nicht in den Griff. Im Buch ist sie ja zwiespältig angelegt: Ein Mann, der Marnie ertappt, sie aber eigentlich wieder dominieren und missbrauchen will. Diese düstere Seite wird im Film völlig überzuckert, und seine charmante Erpressung quasi hingenommen. Die Küchen-Psychoanalyse kann man noch hinnehmen, die hat uns Hitchcock auch schon in Psycho zugemutet, aber dieser Film verliert sich stellenweise im Taumel des Nicht-Wissen-Wohin. Dennoch ist der Meister immer noch Herr seiner Suspense-Instinkte und schafft Szenen, die uns entsetzen lassen.
Was dann kommt, ist ein langsamer Sinkflug von Hitchcocks Niveau. Vor allem in „Familiengrab“, seinem letzten Film, versucht Hitchcock dem Humor mehr Raum zu geben. Heraus kommen platte Slapstick-Szenen, die nicht witzig sind, und schon gar nicht zeigen sie den feinen Humor des Meisters aus seinen früheren Filmen.
Wenn Brodys Theorie stimmen sollte (und viel spricht dafür, dass sie ganz und gar nicht stimmt), dann sind Hitchcock und Chaplin die falschen Kronzeugen. Beide Regisseure erschlafften in ihren letzten Jahren. Bei Chaplin geschah es früher, bei Hitchcock später.
Ich vermute sogar, dass die Limitierungen, die den Regisseuren gesetzt werden, entweder durch Studio-Produzenten, durch Budget-Begrenzungen und sogar durch drohende Zensur, diese dazu gezwungen werden, sich künstlerische Lösungen für ihre inhaltlichen Probleme zu überlegen. Bekannt ist der Stress, dem man dem jungen Francis Ford Coppola beim Dreh des Films „Der Pate“ aufnötigte: Man drohte ihm, Brando und Pacino zu streichen, beide erbrachten unter Coppolas sensibler und intelligenter Regie die besten Leistungen ihres Lebens. Das Budget war so eng bemessen, dass Pacino der einzige Schauspieler war, der nach Las Vegas und Sizilien geflogen werden konnte, was Coppola zu intelligenten Lösungen bei den Los-Angeles-Aufnahmen führte. Das ungeheure Budget und der Macht-doch-was-ihr-wollt-Ansatz beim dritten Teil der Trilogie hatte zur Folge, dass sich die Autoren und der Regisseur in eine wirre, blutrünstige Story verwickelten, bei der nichts mehr an die Stilisierung des ersten Teils erinnerte.
Tarantino kündigte kürzlich an, „Hateful Eight“ würde sein drittletzter Film. Er beschränke sich auf zehn Filme, denn im Alter von 60 Jahren sei die Zeit eines Regisseurs abgelaufen. Angesichts des Spätwerks von Chaplin und Hitchcock sicherlich eine weise Entscheidung.