Ich gebe ja zu, es war schon ein bisschen beleidigend. Einen halben Tag nach Schließung der Wahllokale verdreifachte sich die Anfrage bei Google UK: „What is the EU?“ Wie ein Ehemann, der am Abend von seinen Kumpels überredet wird, nach 40jähriger Ehe seine Frau zu verlassen, und am nächsten Morgen, als er seine Koffer packt, fragt: „Wie heißt du noch mal?“
Aber sonst? Heiße Luft, heiße Luft, nichts als heiße Luft. Allein die Aufregung meiner Facebook-Friends in den vergangenen Wochen, ob die Briten nun gehen würden oder nicht. Als ob die ganze Aufregerei eine Auswirkung auf das Abstimmungsverhalten haben könnte. Der Aufgeregtheit dieser Facebook-Friends nach zu urteilen, die sich über die Briten echauffierten wie sonst nur über den Tod von Prince, Bowie und Lemmie, schien vom Ausgang des Referendums nichts Geringeres als ihr ganz persönliches Wohlergehen abzuhängen.
Oder sollten diese Friends alles Leute sein, die ihr gesamtes Vermögen in die britische Währung investiert hatten?
Hier die News, liebe Friends: Der Brexit hat für euch, wenn ihr nicht gerade das Pech habt, selber Briten zu sein, so gut wie gar keine Konsequenzen. Und in zwei Jahren wird das bei euch so wenig Emotionen wie heute das europäische Rettungspaket für Griechenland, vom Grexit ganz zu schweigen. Eure Aufregerei ist nichts als die emotionale Widerspiegelung des medialen Dramas, dem ihr euch nicht entziehen könnt.
Oder fürchtet ihr euch vor den zwei Minuten Verzögerung am Heathrow Airport, weil ihr euren Pass vorzeigen müsst? Ich rede von Heathrow! Wo du schon einen halben Tag brauchst, um vom Flugsteig 23 D zum nächsten Kaffeeautomaten zu kommen. Schon vergessen, dass man in Norwegen oder in der Schweiz durchaus auch nach dem Pass gefragt wird?
Vielleicht wird das eine oder andere britische Produkt jetzt teurer. Sehr wahrscheinlich aber nicht, oder glaubt jemand, dass bei den Ausstiegsverhandlungen nicht auch ein paar gegenseitige Handelsvergünstigungen beibehalten werden?
Ach, du hattest die Absicht, dich in Großbritannien niederzulassen? Das ist schon jetzt eine ziemlich waghalsige Angelegenheit. Und wenn du auch noch so verwegen bist, nach langem Aufenthalt die britische Staatsangehörigkeit zu wollen, kostet dich das mehrere tausend Euro und gegen den britischen Einbürgerungstest wirkt der deutsche wie ein „Wo-hat-sich-das-Häschen-versteckt“-Rätsel für Dreijährige.
Aber die Börse! Die Börse! Was soll nur aus der Wirtschaft werden!
Der Dax, so hören wir, erlebt einen schwarzen Freitag und stürzt um über fünf Prozent ab. Fünf Prozent! Wenn ich „Absturz“ höre, will ich einen Sprung von einer Klippe sehen, von einem Wolkenkratzer oder wenigstens aus dem dritten Stockwerk, aber nicht einen Hopser aus dem Fenster von Parterre. Mit diesen fünf Prozent, denen ja in der Woche zuvor ein ordentlicher Schub nach oben vorausging (in Spekulation auf ein entgegengesetztes Ergebnis), liegt diese Post-Referendum-Dax-Beule nicht einmal unter den Top 10 der Abstürze der letzten 30 Jahre. Aua-aua, Pflaster auf die Beule, fertig.
So. Und hier noch für alle Rest-Verzweifelten drei Vorteile des Brexit:
1. Die höheren Flugkosten werden gewiss einige englische Hooligans vom Festland fernhalten.
2. Endlich können wir Englisch als EU-Amtssprache streichen.
3. Die Schotten und Nord-Iren kommen, wenn sie sich vom Königreich gelöst haben, doch wieder zu uns zurück.
Alles halb so Brexit
Als einer deiner panischen Facebook-Friends sehe ich das natürlich anders. Ich fürchte, viele auf dem Kontinent ahnen noch nicht, wie sehr der Brexit auch die Rest-EU verändert wird. Da wird die britische Stimme für Freihandel, für Demokratie, für Bürokratieabbau und Budgetbegrenzung bitter fehlen. Schweden, Deutschland und die Niederlande stehen da nun ziemlich isoliert da.
Am Rande: Schweiz und Norwegen sind zwar nicht in der EU, aber Teil vom Schengen-Raum, daher gibt es dort in der Regel keine Passkontrollen. Und das UK ist bisher schon nicht Teil von Schengen, weshalb sich in Sachen Passkontrolle tatsächlich nichts ändern wird durch Brexit.
Bezüglich der Amtssprachen übrigens wohl auch nicht, da Englisch auch in Irland Amstsprache ist. Und einzige informelle Arbeitssprache in Brüssel ist ja ohnehin schon längst "broken English".
@Jens: Dass Schweiz und Norwegen Teil von Schengen sind, weiß ich ja auch. Im Grunde sind ja im Falle des UK schon heute die Grenzkontrollen schärfer, da sie eben kein Mitglied sind.
Irland kann ja gern auf Irisch und Malta auf Maltesisch ausweichen. (Oder wie deutlich sollte ich diesen kleinen Hieb machen?)
Dass die Vision, ein modernes Europa könnte vor allem auf einer allumfassendende Freizügigkeit der Produktivkräfte (Leute, die Arbeit suchen, aber auch Ideen, Kunst, Wissenschaft, Kreativität im weiteren wie im engeren Sinne) kürzlich einen schweren Rückschlag erlitten hat, und nun vermutlich leider einer nostalgisch-nationalistischen (Stichwort Anti-Globalisierung) Vorstellung von Dorfromantik, Tauschwirtschaft, share economy, Subventionswirtschaft und gnadenloser Umverteilung von Konsum aus den produktiven zu den unproduktiven Regionen führt, macht mich sehr pessimistisch. Im Falle der irrlichternden Engländer (denen ich so eine Entscheidung am allerwenigsten zugetraut hätte), hat sich hier offensichtlich die Kaste der Fischhändler durch ausreichende Lobby-Arbeit gegen die Forellen durchgesetzt. Erschreckend auch, dass gerade die Engländer unter so einem schlechten historischen Kurzzeit-Gedächtnis verfügen: Noch in der Mitte der 90ger Jahre (mit einer extremen Krise der englischen Bauwirtschaft und Bau-Boom im wiedervereinigten Deutschland) reisten wöchentlich tausende britische Maurer, Zimmerleute, Maler etc. Montag früh nach Berlin/Dresden/Leipzig, und Freitag abend mit gut gefüllten Brieftaschen wieder nach Hause. Und alle waren froh darüber, und niemand sah darin einen Anlass für Sorge, nicht die Deutschen und natürlich nich weniger die Engländer. Ich warte nur auf den Zeitpunkt, wenn in ein paar Jahren es wiedermal mit der britischen Wirtschaft nach unten geht (was immer mal passieren kann), und sich englische Arbeitssuchende dann wundern, dass der Zugang zum kontinentalen Arbeitsmarkt plötzlich blockiert ist. Das wäre, ehrlich gesagt, Sch….e, und absolut kein Grund für Häme (wie A.Merkel sagte), sondern langfristig ein Schaden für Ganz-Europa, und würde uns im weiteren Wettbewerb mit den USA und Asien noch weiter zurückwerfen (und dann gäbe es auch ganz schnell garnichts mehr zu verteilen in Europa, sondern nur noch Armut zu verwalten).