Im Stück „Die Maßnahme“ von Brecht singt der schurkische Spekulant:
Weiß ich, was ein Reis ist?
Weiß ich, wer das weiß!
Ich weiß nicht, was ein Reis ist
Ich kenne nur seinen Preis.
Diese entmenschlichte Haltung war mein Bild vom Spekulanten. Wenn mir vor zwanzig Jahren jemand gesagt hätte, dass ich irgendwann in Aktien investieren würde, hätte ich ihm wohl einen Vogel gezeigt. Börsenspekulation war für mich praktisch der Inbegriff der düsteren und kalten Seite des Kapitalismus.
Ich habe meine Haltung nicht schlagartig geändert. Vielmehr fügten sich ein paar Puzzleteile nach und nach zu einem neuen Bild.
Es begann natürlich mit den Rentenbescheiden der Deutschen Rentenversicherung, in denen es hieß, ich würde eines Tages von 150,- Euro Rente leben müssen. Später war von 300,- Euro die Rede. Inzwischen von 450,- Euro. Wenn es so weiter geht und ich weiterhin zwar gut von meiner Kunst leben kann, aber weder einen Erfolgsroman schreibe noch meine Impro-Kurse nicht auf Manager-Seminaren als Creativity-Bombe anbiete, werde ich als alter Mann mit 1.000 Euro knapp über dem Hartz-IV-Satz leben müssen.
Ich begann also im Alter von vierzig Jahren das zu tun, wozu mir Eltern und Oma immer geraten hatten: An die Rente zu denken. Aber würde mit meinem Geld auch kein Schindluder getrieben? Ich wurde auf eine ethisch akzeptable Möglichkeit aufmerksam: Einen „ökologischen“ Fonds. Fonds schienen mir eine finanziell eine feine Sache: Man zahlte jeden Monat eine bestimmte Summe ein, und wenn die Kurse des Pakets niedrig lagen, kaufte man mehr, wenn sie hoch standen, kaufte man weniger. Ich zahlte also monatlich in Fonds ein, die in Windkraft, Solarenergie usw. investierten. Es gab allerdings zwei Probleme: Nach vier Jahren hatte ich lediglich zwei Prozent Rendite (auf den gesamten Zeitraum gerechnet!). Da hätte ich bei einem ordinären Tagesgeldkonto mehr erwirtschaftet. Aber mindestens ebenso schlimm: Als ich in die Details der Fonds schaute, sah ich, dass sich darunter auch Firmen wie Tepco befanden. Tepco? Genau. Die mit dem AKW in Fukushima.
Etwa zur selben Zeit erfuhr ich von Smava. Bei Smava vergibt man, kurz gesagt, Kleinkredite an Private, die sich ein Auto kaufen wollen, das Haus sanieren oder den Grundstein für die Selbständigkeit legen wollen. Der Witz an der Sache wäre, dass man sich aussuchen kann, wen man für vertrauenswürdig und welches Projekt man für finanzierungswürdig hält. Die Zinsen waren OK, Smava hat ein Auffangnetz für Ausfälle eingerichtet, und als Darlehenssystem funktioniert es wunderbar. Leider erfährt man bei den meisten Projekten dann eben doch nicht, worum es geht. Da heißt es dann „Kredit-Projekt aus Nordrhein-Westfalen“ oder „Mein Projekt verwirklichen“. Und ob man da jemandem beim Hausbau unter die Arme greift oder bei der Finanzierung des protzigen SUV lässt sich eben nicht immer sagen.
Schließlich las ich das Buch von Susanne Levermann. Oder besser gesagt, ich las zuerst ein Interview mit ihr in der taz. Levermann war einst die erfolgreichste Fonds-Managerin in Deutschland. Dann warf sie das Handtuch und widmete sich sinnvolleren Dingen wie Mathe-Nachhilfe für Schüler. Aber mit ihrem Abgang von der Börse hinterließ sie noch ein Buch für Klein-Anleger: „Der entspannte Weg zum Reichtum“. (Ich wette um ein vegetarisches Abendessen, dass der bescheuerte Titel vom Verlag stammt.)
Dieses Buch besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil erklärt Levermann einigermaßen anschaulich, wie Aktien funktionieren, was man unter den unappetitlichen Fachbegriffen „EBIT-Marge“, Eigenkapitalrendite und anderen Kriterien der Aktien-Begutachtung zu verstehen hat. Ich muss gestehen, dass ich so manches davon wieder vergessen habe bzw. immer wieder mal nachschlagen muss, falls mich der Wissenshunger antreibt.
Aber das ist auch gar nicht so wichtig. Für den finanziellen Erfolg entscheidend ist der zweite Teil. Darin erläutert sie, auf welche dreizehn Punkte man beim Anlegen in eine Aktie achten sollte. Dazu zählen u.a. die bereits genannte EBIT-Marge und die Eigenkapitalrendite, aber auch die langfristige Entwicklung des Aktienkurses, die Eigenkapitalquote und das KGV. Für jeden Wert gibt es einen Plus- oder einen Minus-Punkt. Schließlich addiert man die Punkte, und anhand der Punktzahl wird entschieden, ob man die Aktien kaufen darf, halten soll oder verkaufen muss. Das ist, wie der Titel des Buches nahelegt, entspannter als es zunächst klingt, da sich die meisten Punktzahlen nur alle paar Monate ändern. Die größte Arbeit besteht eher darin, Aktien zu finden, die die erforderliche Punktezahl zum Kaufen überhaupt erreichen.
Das Levermann-System ist unter Börsen-Fans und Fachleuten bekannt und wird durchweg als seriös eingeschätzt. Man könnte sich nun wundern, warum, wenn es denn so super funktioniert, nicht auch alle machen. Das hat meines Erachtens mit zwei Dingen zu tun: Erstens ist, wie schon erwähnt, das Finden von Aktien, die den Levermann-Kriterien entsprechen, gar nicht so einfach. Zum Zeitpunkt, da ich diesen Text schreibe, sind es gerade mal vier von dreißig Dax-Unternehmen. Das per Hand auszurechnen, kann ein wenig mühsam sein. (Ich lade mir inzwischen die meisten Werte online in eine Excel-Tabelle.) Zum Zweiten widerstreben einige Levermann-Regeln der Intuition: Wenn zum Beispiel viele Analysten einen Large-Cap-Wert loben, gibt es Punktabzug, da man, so Levermann, davon ausgehen kann, dass diese Aktie gerade hochgejazzt wird. Viele Aktien-Anleger lieben aber diese Art von kühler quantitativer Regel und Kontra-Intuitivität nicht. Entweder sie zählen zu dauerhaften Aktien-Haltern, die ihre VW-Aktien mal von den Großeltern geschenkt bekommen haben bzw. zu jenen beklagenswerten Aktien-Opfern, die an ihrer damals erworbener Telekom-Aktie festhalten, weil der sagenhafte Verlust doch irgendwann man wieder eingespielt werden sollte. Oder sie checken stündlich die Kursverläufe ihrer Aktien, dröhnen sich mit Wirtschaftsnachrichten zu, kaufen und verkaufen täglich immer und immer wieder und sind im Grunde Lotterie-Spieler.
Levermann hält die Leser ihres Buchs dazu an, nicht allzu emotional mit ihrer Aktie verbunden zu sein, also zum Beispiel nicht die Aktie eines Unternehmens zu halten, nur weil man dessen Produkte mag oder weil man nicht wahrhaben will, dass man Geld verloren hat. Interessanterweise spielt bei Diskussionen zu Levermann der dritte Teil ihres Buches fast nie eine große Rolle. Dabei ist er für mich entscheidend gewesen, den ersten Schritt in die Aktienwelt überhaupt zu wagen. Es geht um die Frage der Ethik. Kann man mit seiner Geld-Anlage Gutes tun oder Schlimmes verhindern? Ich glaube inzwischen: Ja, man kann. Zunächst dachte ich, toll, dann investiere ich jetzt einfach in Öko-Projekte und lauter ethisch lobenswerte visionäre Unternehmen. Allerdings musste ich mich von dieser Illusion verabschieden. Denn so viele aktiennotierte Unternehmen dieser Art gibt es überhaupt nicht. Und es nützt ja auch nichts, in ein Solar-Unternehmen zu investieren und dabei Geld zu verlieren. Wenn ich spenden will, dann mache ich das anderswo.
Ich war aber daraufhin gezwungen, mir das Ethik-Problem genauer durch den Kopf gehen zu lassen. Die Frage, die ich mir dann stellte, lautete: Wie sieht eine Welt aus, in der ich gerne leben möchte? Gehören dazu Fahrradgangschaltungen, Webmaschinen und medizinische Geräte? (Drei Unternehmen, in die ich gerade investiere, produzieren genau das.) Ich habe mich also umorientiert von der Einschluss-Vision (nur Öko-Aktien) hin zu Ausschluss-Kriterien: Keine Rüstung, keine Automobil-und Zuliefer-Industrie, keine Immobilienfirmen, keine Firmen, die massiv Umwelt- oder Menschenrechts-Standards unterschreiten. Es gibt freilich Zonen, in denen es schwammig wird: Sind Maschinenbau-Unternehmen OK, die die Hälfte ihres Umsatzes als Automobil-Zulieferer machen? Sind Unternehmen OK, zu deren Kunden nicht nur aber auch das Militär gehört (also praktisch jedes größere Software-Unternehmen)?
Dass man Kriterien hat, ist auch keine Garantie dafür, sich nicht ungeheuer zu irren. So verließ ich mich gleich zu Beginn auf den „Dow Jones Sustainability Index“ und investierte in „Hewlett Packard“, was auch ordentlich Rendite abwarf, musste aber nach einem halben Jahr feststellen, dass dieses Unternehmen, von dem ich ungeprüft davon ausging, dass es Computer und Drucker produzierte, der zehntgrößte Rüstungskonzern der USA war, was anscheinend für die Kriterien-Aussucher des Dow Jones Sustainability-Index kein Ausschluss-Kriterium ist. Inzwischen kann ich in der Regel schneller beurteilen, ob ein Unternehmen Dreck am Stecken hat. Natürlich bleibt ein bisschen Unsicherheit bei dem einen oder anderen Unternehmen. Aber die hat man auch beim Tagesgeldkonto der Bank.
Am Ende muss natürlich jeder seine Kriterien selbst festlegen. Für mich zum Beispiel sind Pharma-Unternehmen nicht per se ein Ausschluss-Kriterium, da ich mindestens einmal pro Monat auf die Produkte dieser Branche angewiesen bin. Um im NAI gelistete Homöopathie-Unternehmen schlage ich allerdings einen Bogen. Bei einigen meiner Freundinnen dürfte es andersrum laufen. Man kann bei Aktien-Investitionen seine persönlichen Grenzen ziemlich klar ziehen, zumindest klarer, als wenn man seine Moneten in Festgeld bei einer Bank anlegt, die am Ende doch Finanz-Derivat-Abenteuer unternimmt oder in Rüstung investiert.
Um nun aber mal zu den harten Fakten zu kommen: Levermann verspricht in ihrem Buch eine Rendite von zehn bis zwanzig Prozent pro Jahr. Das ist ordentlich. Die besten Festgeldzinsen liegen in Deutschland gerade bei drei Prozent pro Jahr. Bei Smava bekommt man mit viel Glück sechs Prozent.
Für alle Leser, die sich auch nie so recht vorstellen können, wie Zinseszins funktioniert: Aus 10.000 Euro werden bei 15 Prozent jährlicher Rendite nach zwanzig Jahren gut 140.000 Euro. Nach vierzig Jahren über zwei Millionen. (Steuern sind hier unbeachtet.)
Ich wäre nach der Fonds-Enttäuschung schon über sieben Prozent froh gewesen. Tatsächlich wurden es bei mir 25 Prozent jährliche Rendite. Ich habe knapp drei Jahre (genaugenommen 33 Monate) gewartet, darüber zu schreiben. Schließlich beweist sich so ein System erst auf lange Sicht. 25 Prozent jährliche Rendite bedeuten für diesen Gesamtzeitraum 87 Prozent. Und ja: Es gibt durchaus Schwankungen. Im ersten Jahr waren es über dreißig Prozent, im zweiten Jahr sechs Prozent. Aber stets lag ich (oder besser: das Levermann-System) deutlich über den relevanten Indizes DAX, MDAX, SDAX, Dow Jones und Nasdaq. Im gleichen Zeitraum stieg der DAX nur um 19 Prozent.
Um auf Brecht zurückzukommen: Tatsächlich weiß ich manchmal nicht, „was ein Reis ist“. Aber durch die Beschäftigung mit dem Thema sind auch meine prinzipiellen Bedenken gegenüber der Börse ein wenig zurückgegangen. Ich glaube tatsächlich, dass sie grundsätzlich zu einer rationaleren Allokation von Mitteln beiträgt. Ich sehe auch, dass sie schlimme Verwerfungen zu verantworten hat. Aus den Marktbereichen, die das betrifft, versuche ich mich herauszuhalten. Und ich glaube, dass ich dadurch moralischer handle, als jemand, der seine Rente der Allianz-Versicherung oder einem x-beliebigen Fonds anvertraut.
Geht es noch entspannter? Vielleicht. Wikifolio bietet Aktieninvestment 2.0 an: Man legt einfach in Portfolios anderer Investoren an, deren Performance oder Kriterien einen überzeugen. Aber bisher habe ich dort kein Portfolio gefunden, dass sowohl meinen Rendite-Erwartungen als auch meinen ethischen Kriterien entsprach. Eine Ausnahme ist vielleicht mein eigenes.
Wikifolio Ethisch Investieren. Die aufmerksame Leserin wird bemerken, dass die Rendite nicht ganz so hoch ist, wie im Text oben angepriesen. Die Gründe dafür sind schnell genannt: 1. Ich habe das Wikifolio zum ungünstigsten Zeitpunkt eröffnet, nämlich im Dezember 2014, als die Aktienwerte fielen. 2. Der Anbieter (icke) zahlt eine tägliche kleine virtuelle Gebühr, die die Rendite schmälert. 3. Einige der wichtigsten Aktien meines eigenen Portfolios sind kleine nicht-deutsche Unternehmen der Euro-Zone, die aber bei Wikifolio nicht handelbar sind. Aber ich glaube, mit meiner jährlichen Wikifolio-Rendite von 20 Prozent bin ich durchaus im attraktiven Rahmen.