Hallo Herr Richter,
ich bin über das Forum der Webseite www.impro-theater.de auf Ihre Person hingewiesen worden. Dort wurden Sie als guter Improvisationstheoretiker genannt, der mir bei meiner Fragestellung vielleicht weiterhelfen könnte.
Aktuell schreibe ich an meiner Magister-Abschlussarbeit im Fach Kommunikationswissenschaft zum Thema „Spielen bis die Tränen kommen? Zur Rekonstruktion von emotionalem Erleben in virtuellen Spielen.“. In diesem Zusammenhang versuche ich herauszuarbeiten, wieso Videospiele nicht (besonders gut) in der Lage sind, mitfühlende Emotionen, wie z. B. Mitleid beim Spieler zu wecken. Das dies empirisch der Fall ist, lässt sich anhand von Statistiken belegen.
Vom strukturellen Aufbau sind Videospiele meiner Meinung nach in gewissem Rahmen mit Improvisationstheater bzw. explizit deren Darstellern(!) zu vergleichen. Beide pendeln zwischen einem Darstellen für Andere (und sich selbst) und einem Rezipieren der Anderen (eventuell auch sich selbst?) hin und her. Beide agieren in einem gewissen vorgegebenen Rahmen (physikalische Grenzen des Aufführungsraums, Ziel der Aufführung), gemessen an ihren eigenen Fähigkeiten mit großer Freiheit. Beide wissen zu Beginn der Aufführung bzw. des Spiels nicht „wohin die Reise geht“. Was die Bühne für den Schauspieler, ist die virtuelle Welt für den Videospieler. Dieser Analogieschluss ließe sich noch weiter aufblähen.
Hier ergibt sich der Kern meiner Frage, den ich am besten in Form eines Beispiels skizzieren kann. Vorgabe ist notwendigerweise, dass es sich um eine traurige, tragische „Aufführung“ handelt, deren Publikum entsprechend mitarbeitet – als reines Gedankenexperiment.
Angenommen, Sie spielen eine beliebige Nebenfigur, an Ihrer Seite eine Schauspielkollegin, in der Rolle einer jungen Mutter, durch Publikumseinwürfe kommt es zur Tragödie: Verkehrsunfall, der den Tod ihres Kindes zur Folge hat – und wieder durch Publikumseinwürfe nun in tiefer Trauer am Grab des jüngst verstorbenen Kindes zu stehen hat.
Was würden Sie sagen, fühlt Herr Richter in diesem Moment? Fühlt er keine sonderliche Veränderung seiner eigenen Gefühlslage als private Person? Lässt ihn die momentane, gespielte Situation seiner Schauspielkollegin „kalt“? Oder berührt ihn das gespielte Leid der Mutter auch als private Person über die Grenzen seiner Rolle hinaus? Nehmen wir an, seine Rolle würde nun vorsehen, Mitleid für die trauernde Mutter zu empfinden, schauspielert Herr Richter innerhalb seiner Rolle nun die Symptomatik des Mitleids (Gestik, Mimik, etc.) – mit dem Ziel eines klassischen Schauspielers, dem Zuschauer diese Emotion zu zeigen? Hat dabei aber stets im Hinterkopf, dass es sich um eine schauspielerische Situation handelt?
Die klassische Theaterlehre hat die Frage natürlich bereits zu genüge diskutiert, in wie fern ein Schauspieler sich die Gefühlslage seiner Rolle zu eigen macht oder nicht. Konsens scheint zu sein, dass er dies eben nicht tut. Vor dem Hintergrund Gemütslage A im Sekundenbruchteil gegen Gemütslage B zu tauschen. Besonders gut sichtbar bei monologisch-schizophrenen Charakteren, gespielt von einem geistig gesunden Schauspieler. Oder eben der Prämisse, dass ein Schauspieler einen Mörder glaubhaft verkörpern kann ohne selbst Mörder oder die Erfahrung des Mordens gemacht haben zu müssen.
Aber gerade im Improvisationstheater werden klassische Barriere durchbrochen. Der Improschauspieler arbeitet ohne Drehbuch, weiß also nichts von eventuellen, vom ihm geforderten Gemütslagen. Er steht im sprichwörtlichen Sinne nackt auf der Bühne, ohne einstudierte Handlungsvorgaben oder Ablaufpläne, ohne vorgegebenen und einstudierten Text. Er wird von den Veränderungen, Verbindungen und Emotionen die ihm selbst und seine Mitstreiter vom Publikum auferlegt werden, „kalt erwischt“. Es gibt ein überraschendes Moment, wie sonst nur in alltäglicher Kommunikation der Fall.
Genau genommen müsste man die Frage nach der Gefühlslage des Improvisationsschauspielers erweitern, denn was fühlt die Schauspielerin, die im obrigen Beispiel die junge Mutter spielt? Die zunächst auf positive und durch und durch erfreuliche, Glück-versprühende Weise die werdende und dann seiende Mutter spielt – die also als schauspielernde Person selbst rezipiert, wie sich ihre eigenen Rolle entwickelt. Das die plötzliche Katastrophe von ihrer Rolle tiefe Trauer als Reaktion verlangt (unterstelle ich hier, für den Erhalt des Beispiels) ist nachvollziehbar. Aber was fühlt die Schauspielerin? Konnte sie sich als junge Frau mit der von ihr verkörperten Rolle und dem sich im Spiel ergebenen Glück identifizieren? Ist sie also – zumindest für einen Bruchteil eines Moments – ebenso von der Katastrophe geschockt und empfindet Mitleid mit ihrer eigenen Rolle?!
Dies wäre im Grunde die Kernfrage: Kann ein Improvisationsschauspieler mit der eigenen Rolle Mitleid empfinden?

(Meine Antwort)
Hallo Jens Abel, vielen Dank für die Mail und die Überlegungen. In der Tat wurde diese Frage fürs Schauspiel schon oft besprochen. Sehr scharf und deutlich, wie ich finde, in der Abgrenzung von Brecht gegenüber Stanislawski. Ich sehe es so: Als Schauspieler brauchen wir eine Distanzierung, um überhaupt ins Spiel zu kommen, und zwar in dem Sinne, als dass wir ein spielerisches Verhältnis entwickeln können, was uns erlaubt, innerlich und äußerlich flexibel zu bleiben. Auf der anderen Seite müssen wir bereit sein, unser emotionales Gedächtnis zu aktivieren. Um das Mörder-Beispiel zu nehmen: Ich muss zwar noch keinen Menschen umgebracht haben. Aber es hilft der Rolle, wenn ich die Gefühlslage nachempfinden kann – Hass, Gier, Genuss oder was auch immer die Gefühlslage des Mörders ist. Das heißt aber auch, dass ich mit dieser Gefühlslage spielen kann, denn ich bin mir ja bewusst, dass ich auf der Bühne stehe. Und ich denke, dass wissen wir schon als Kinder, wenn wir Cowboy und Indianer spielen, dass wir unsere Mitspieler nicht wirklich erwürgen. Im Improtheater bezeichnen einige diese Distanzierung auch als „Drittes Auge“. Und hier brauchen wir die Distanzierung auch, da wir nicht nur improvisierende Schauspieler, sondern in der Regel auch gleichzeitig improvisierende Autoren des Stücks und improvisierende Regisseure sind (und noch auf einigen anderen Ebenen improvisieren). Die Schwierigkeit der meisten Improschauspieler besteht aber nicht in der Distanzierung, sondern in der Tiefe der charakterlichen Darstellung der Figur und diese auch durchzuhalten. Das durchzuhalten kann durchaus schwierig sein, da man, wie gesagt, ja auch noch mit ein paar anderen Impro-Bällen gleichzeitig jongliert oder aber, und jetzt kommen wir zu deiner Frage, weil man vom Angebot des Mitspielers stark überrascht wird. Das Aus-der-Rolle-Fallen äußert sich dann allerdings meistens als Lachen. Übrigens auch im Konventionellen Theater, wenn etwas außergewöhnliches passiert. Dass jemand auf der Bühne in Tränen ausbricht, weil er vom Drama überwältigt wird, habe ich so noch nicht erlebt, wenn wir erzwungene oder zugelassene Tränen, die „in der Rolle“ sind, nicht mitrechnen. Wenn das geschähe, würde ich sagen, der Spieler hat sich zu sehr in die passive Zuschauerhaltung fallenlassen statt die Mitspielerin zu unterstützen, was im Improtheater hieße, das Unglück der Mutter zu verschärfen. Im Übrigen ist meine Erfahrung, dass solch seltene dramatische Momente im Improtheater eher entstehen, wenn die Spieler Zeit und Raum haben, selbst ihr Materal zu entwickeln, statt durch andauernde Publikumsvorschläge wieder rausgeholt zu werden. Dann ist nämlich die Entwicklung oft gar nicht mehr so spannend, überraschend und dramatisch. Ich habe, vor einiger Zeit über das Thema schon mal in meinem Blog was geschrieben: Ich denke, dass diese Prozesse noch nicht wirklich psychologisch erforscht sind. Wie weit fühlen wir Trauer, wenn wir sie spielen. Läuft die Distanzierung im Nachhinein ab oder nicht doch eher parallel? Insgesamt vermute ich, dass Improspieler, und vielleicht Schauspieler überhaupt, ein spielerischeres Verhältnis zu ihren Emotionen aufbauen – so wie etwa Zen-Buddhisten. Eine Emotion ist dann nicht mehr etwas statisches, unwillkürliches, was einen überfällt, sondern man kann sich ihr nähern, sie betrachten, sie stärker zulassen, abwandeln usw. Ob ein Spieler von virtuellen Spielen eine solche Distanzierung systematisch aufzubauen vermag, möchte ich allerdings bezweifeln. Eher vermute ich hier für die meisten Spiele den gegenteiligen Effekt: Eine Wirtschaftssimulation lässt einen eben zum ehrgeizigen Händler werden, ein Mafiaspiel zum selbstgerechten Killer, um es mal plakativ zu formulieren. So weit zumindest meine Erfahrungen mit Computerspielen. Obwohl ich die strukturellen Parallelen auch sehe, behaupte ich, dass das Mindset beim Improspielen ein anderes ist als bei Computerspielen, da man zwar auch konstruiert und reagiert, aber vor allem das Schauspiel-Element als auch das Auf-den-anderen-eingehen beim Computerspiel weitgehend fehlt.
Dan Richter

Anmerkung: Dieser Briefwechsel wurde natürlich mit Jens Abels Einverständnis veröffentlicht.

Briefwechsel mit Jens Abel über die Frage der Einfühlung des Spielers
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Ein Kommentar zu „Briefwechsel mit Jens Abel über die Frage der Einfühlung des Spielers

  • 2010-07-11 um 14:31 Uhr
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    Einige Punkte die mir dazu auffallen:

    1. Es gibt ja einen historischen Streit in der Emotionspsychologie zwischen Cannon und William James, der sich zusammenfassen lässt mit der Frage: Was kommt zuerst: Die Emotion oder ihr Ausdruck? Die Frage erscheint zunächst komisch, aber jeder kann im selbstversuch feststellen, dass er, wenn er die zähne zusammenbeißt, die nase rümpft, die augen zusammmenkneift und scharf atmet, dann beginnt wut zu verspüren – und analoges zum lächeln und springen, zu angst, ekel, usw.

    Natürlich sind die erlebten Emotionen schwächer wenn sie "simuliert" werden, aber nichts desto trotz werden sie erlebt… Ansonsten ist das eine Frage des Grades, da stimme ich dir vollkommen zu.

    2. Meine Wahrnehmung ist nicht diejenige, dass virtuelle Welten wie Computerspiele keine Emotionen erzeugen können. Das Problem ist schlicht und ergreifend, dass sie das i.d.R. auch gar nicht wollen. Also Mitleid beispielsweise… Wundert mich nicht dass Shooterspiele oder so das nicht erzeugen. Aber wer schonmal ein erstklassiges Spiel wie Planescape Torment gespielt hat, ein Spiel dass sehr stark auf eine exzellente Story, spannende Charaktere mit spannenden Beziehungen zueinander und sehr auf dialoge setzt, der weiß dass auch Computerspiele die Bandbreite der Emotionen wecken können – von Angst über erotisches Knistern bis zu, ja, aufrichtigem Mitleiden mit seiner Hauptfigur!

    Es geht doch letztlich nicht darum, welches medium man benutzt sondern ob es gut gemacht ist und einen auf der beziehugsebene anspricht. und wenn es das tut, dann weckt es auch emotionen!

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