J. borgt mir in einem hellseherischen Anflug, denn ich habe sie gar nicht darum bitten müssen, „Ein Kind zur Zeit“ von Ian McEwan, eines der wenigen Bücher von ihm, die ich bisher ausgelassen habe. Die anderen:
Tagträumer„, das ich 2001 in Freiburg begonnen habe, während S.’ Mutter den alten Hund von Zecken befreite, und das ich nach wenigen Seiten beiseitelegte, ich konnte einfach nichts damit anfangen. Das andere der Kurzgeschichtenband „Letzter Sommertag“, dessen Erscheinen ich wohl verpasst habe. Die anderen Bücher in der Reihenfolge ihrer Lektüre:
– „Unschuldige„, das mir Ph. zum Geburtstag (?) schenkte. Ich ging skeptisch und gelangweilt an dieses Buch, und es wurde meine Einstiegsdroge.
– „Zementgarten„, das ich aus Ratlosigkeit kurze Zeit später auf Verdacht E. zum Geburtstag kaufte und dann in einer Nacht durchlas, damit ich es ihr noch rechtzeitig überreichen könnte, ohne Geld für ein zweites eigenes Exemplar ausgeben zu müssen.
– „Amsterdam„, das einen mit diesem moralischen Dilemma vor den Kopf stößt und die unvergessliche Anfangsszene auf dem Friedhof. Sommer 2001, nachts um 4 Uhr zuende gelesen, mir dann eine Zigarette auf dem Balkon meiner Wohnung in der Libauer anzündend, während Matze, mit dem ich damals die Grundlagen der Improvisation studierte, auf dem Fahrrad von einer Party in Kreuzberg über die Warschauer Brücke, also praktisch nebenan, zurück in den Friedrichshain radelte.
– „Erste Liebe, letzte Riten“ – 2003 mit in die USA genommen, zum Glück ein Kurzgeschichtenbuch. Denn immer wenn ich glaubte, dafür nicht richtig Zeit zu haben, war die Story schon vorbei. Und die letzte las ich dann zwischen Amsterdam und Berlin.
– „Schwarze Hunde„, bei dem ich mich eigentlich nur noch erinnere, dass ich es an meinem unaufgeräumten Tisch beendet habe, was psychologisch gesehen wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass ich so wenig von seinem Inhalt behalten habe.
– „Der Trost von Fremden„, ein vielleicht inhaltlich eher harmloser Thriller, der einen eher wegen der seltsamen Leere verunsichert. Weil er mich an den Regenroman erinnert, schenke ich ihn Jochen und sorge somit dafür, dass er wohl nie wieder ein Buch von McEwan anfassen wird.
– „Liebeswahn“ – Ein Klassischer McEwan: In eine paradiesische Situation schlägt eine Katastrophe ein, die schon schlimm genug ist. Und unversehens kippt die Story in eine Stalker-Geschichte um.
– „Abbitte„, der komplexeste Roman McEwans. Die gekränkte Eitelkeit der frühpubertären Schriftstellerin ist ja letztlich die eines jeden Autoren, nur eben unterm Brennglas. Und wie aus einem Vielleicht eine Affirmation wird, wie die Kränkung verstärkt wird durch die pubertäre Scham, durch Klassendünkel, durch sexuelle Prüderie und (wie auch schon in „Zementgarten“) durch die drückende Hitze, das löst die Katastrophe aus, und der Krieg setzt den Schlusspunkt. Abbitte kann es nicht mehr geben, nur noch in den Szenarien, die sich die Phantasie der Schriftstellerin zusammensetzt.
– „Saturday„, mit dem ich eigentlich nicht viel anfangen konnte. McEwan anscheinend in seiner eigenen ethischen Unentschlossenheit gefangen: Soll England Truppen in den Irak schicken? Von Deutschland aus gesehen, schien schon die Frage deppert. Und dann steht er stundenlang am Fenster – grübel, grübel und studier, und bleibt so klug als wie zuvor. Die McEwan-Action im zweiten Teil, in dem er wieder erzählerisch aufblüht, wirkt aber narrativ aufgesetzt.
– „On Chesil Beach„, ein Bahnhofskauf. Das einzige McEwan-Buch, das ich im Original gelesen habe. Ein junges Paar scheitert an der Hochzeitsnacht. Wie McEwan hier mit Timing spielt, ist unübertroffen, das ist ihm nirgendwo sonst gelungen. Das Ende unerbittlich. Ich schließe das Buch, und werde von einem Weinkrampf gepackt, wie ich es noch nie bei einem Buch erlebt habe. Die absolute bittere Trostlosigkeit der ungelebten und vertanen Liebe.
– Und nun eben „Ein Kind zur Zeit“, das ich wohl irgendwie übersehen haben muss. Der Beginn klassisch-mcewanesk: Ein perfektes Paar wird in die Katastrophe gestürzt, und danach ist nichts wie zuvor. Nur diesmal liegt das Ereignis schon zwei Jahre zurück: Das Verschwinden des Kindes. Was heißt Kindheit, was sollen Kinder lernen, wie unterdrücken wir das eigene Kind, das ewige Kindbleiben gegenüber den eigenen Eltern, worin unterscheiden sich Kinderbücher von Erwachsenenbüchern? Unbemerkt dekliniert McEwan all diese Facetten von Kindheit durch, anhand der Lücke, die das verschwundene Kind im Leben des Kinderbuchautors gerissen hat.
„Noch Tage später, bis die Sache endlich vergessen war, wollte sie immer wieder wissen, wann sie denn nun zurückgehen und ihr neues Leben in der Strandburg beginnen würden. Ihr war es ernst damit gewesen. Stephen dachte, wenn er nur alles mit derselben Hingabe tun könnte, mit der er Kate beim Bau der Sandburg geholfen hatte, wäre er ein glücklicher Mensch von außerordentlichen Fähigkeiten.“
McEwan
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