27. April 2009
Ich liebe es, einfach zu Fuß die Insel zu durchqueren, von Süden nach Norden. Wenn man selbst frei ist von Verpflichtungen, springt man praktisch in den Strom der Passanten und lässt sich treiben. Wir starten an der Brooklyn Bridge. Zwei Wasserverkäufer-Pärchen. Das ein steht am Anfang der Brücke und zelebriert das Wasser, den Verkauf, das Leben; es fühlt sich fast wie Betrug an, nichts von ihnen zu kaufen. Das andere lümmelt im Schatten des Turms und bietet schlechtgelaunt seinen Vorrat an. Man glaubt zu wissen, dass die hier den Gewinn sowieso nur in Drogen umsetzen werden. Die beiden Pärchen wissen sicherlich voneinander nichts. Und wüssten sie voneinander, würden sie ihr Verhalten kaum ändern.
Touristenproblem: An Orten auf Toilette müssen, die keine Toilette haben. Ein ständiges Kalkulieren: Wie lange hält man’s noch aus? Soll man im Wall Street Bezirk in ein schickeres Restaurant gehen und sein Anliegen vortragen oder pro forma einen Kaffee für 4 Dollar bestellen? Oder vielleicht doch darauf hoffen, dass bald ein McDonalds auftaucht, der es einen gratis erledigen lässt. Je länger man sich mit der Entscheidung Zeit lässt, umso mehr verringert man seine Optionen. Für wieviele Jahre man in den Knast muss, wenn man von der Brooklyn Bridge pisst? Und gibt es da unterschiedliche Strafen für Frauen und Männer?
Pflichtgemäß kurz zum WTC. Die Lücke schmerzt. Von der Baustelle ist nicht viel zu sehen, alles mit hohen Bretterzäunen abgesperrt. Vielleicht täte das alles nicht so weh, wenn sie es ähnlich wie am Potsdamer Platz mit Offenheit und Optimismus betrieben.
Im Village. Ich finde den schönen kleinen Buchladen nicht, in dem ich vor sechs Jahren meine Finanzreserven ließ. Nach und nach gelingt es auch Steffi, sich treiben zu lassen.
Pause auf dem Washington Square. Schade. Die Hälfte ist wegen Baumaßnahmen gesperrt. Also auch keine Open Stage Performances, die ich so geliebt habe. Steffi ruht, während ich die Zoom-Technik ihrer neuen Kamera ausprobiere und mich gleichzeitig bemühe, die Grenze zum Spannen nicht zu überschreiten. Ob es mir gelungen ist, weiß ich nicht. Erleichtere mein Gewissen, indem ich das Video veröffentliche. Vielleicht erkennt sich ja jemand wieder und verklagt mich wegen Spannens. Der Arm des amerikanischen Gesetzes lauert, denn ich hatte ja schließlich auf meinem Visa-Waiver angekündigt, nichts Unmoralisches auf dem Boden der USA zu tun. Immerhin ist ja niemand nackig oder halbnackig gewesen.
Überlegungen zur Abendgestaltung: Ich würde gern eine gute Off-Tanz-Performance sehen. Steffi "Avenue Q". Die billigsten Karten laut Time Out 80 Dollar. Steffi spekuliert darauf, dass wenn sie am frühen Abend an die Kasse geht, der Kassierer ihren Internationalen Studentenausweis für ein VIP-Dokument hält und sie für umsonst reinlässt oder dass Gott ein Ticket auf sie regnen lässt oder dass just in dem Moment ein Touri-Pärchen hereinkommt, dass genau noch eine Karte für 12 Dollar übrig hat – erste Reihe natürlich. Ich verschwende nicht viel Energie darauf, sie umzustimmen. Das Musicaltheater liegt sowieso auf meinem Weg, und falls sich der Kassierer nicht erweichen lässt, Gott sich wieder mal nicht blicken lässt und das spendable Touri-Pärchen doch nicht auftaucht, muss Steffi eben mit zur Tanzperformance.
Die Sonne brennt, der Broadway wird immer dichter, man wühlt sich ohne Stress durch den Menschenstrom. Vor dem John Golden Theater in der 45th die Ankündigungen für "Avenue Q". Steffi bequatscht den Kassierer und missdeutet wohl, wie ich aus dem Augenwinkel zu erkennen vermute, seine Höflichkeit als Verhandlungsbereitschaft. Aber da ist nichts zu machen, Studentenrabatt – wo gibt’s denn sowas? Sie spielt tatsächlich mit dem Gedanken, 80 Dollar für ein Musical auszugeben. Ich halte mich zurück. Die Eingangstür öffnet sich. Ein Touri-Pärchen tritt ein. Sie wollen ihre Karte zurückgeben. Leider nur eine. Kostet 12 Dollar. Erste Reihe. Sie machen Steffi glücklich. Und mich auch. Denn ein Mann kann nur glücklich sein, wenn seine Frau glücklich ist. Katzen würden vielleicht Whiskas kaufen, Männer sollten Musicalkarten kaufen.
Und noch einmal Zeit verplempern im Starbucks. Blättere in der Zeitschrift mental_floss, die ich mir eben gekauft habe, ohne recht zu wissen warum. "The 10 issue" präsentiert im ganzen Heft nur "10 Dinge, die…". Als Mann bin ich wohl für Top-Ten-Listen empfänglich. Und beim Kaufen dachte ich, dass dies überhaupt eine Top-Ten-Zeitschrift sei. Aber am Ende enttäuscht es dann doch. "Ten important kisses in the universe" und "The 10 messiest food festivals". Gepflegte Langeweile vor nicht mal so schlechtem Kaffee.
Die Tanzperformance in derselben Straße, im "The Tank". Ich komme, als noch oder schon wieder rumprobiert wird. Kulissen hin und her geschoben, Soundchecks, kurios kostümierte Tänzerinnen. Aber irgendwie wirkt alles mehr wir ein Ab- oder Aufbau, die Vor- oder Nachbereitung einer Probe. Jemand erbarmt sich meiner. Nein, die Show wäre zwei Etagen drüber. Vor der Tür verkauft ein etwas zu lauter Typ Karten für die Show. Nein, keine Tanzperformance. Aber eine Impro-Comedy-Show. Es koste 20 Dollar und ich könne soviel Bierdosen mitnehmen wie ich wolle. Ich wäge ab. Die Tanzperformance fällt also aus. Ob ich auf die Schnelle eine gute Abendgestaltungs-Alternative finde, ist fraglich. 20 Dollar? Der in der BWL sogenannte Snob-Effekt tritt ein: "20 Dollar? Dann kann es ja nicht schlecht sein." Ich gebe ihm den Schein, er befüllt meine Tüte mit fünf Dosen, ich stoppe ihn und sage, das genügt, trete ein und im selben Moment beginnt die Show. Fünf Frauen spielen eine Show, die offenbar alles andere als improvisiert ist, sondern choreographiert. Der Inhalt (es scheint wie ein Fluch): Sex und Gewalt. Vielleicht wäre ich, wenn dies die erste Woche meines Aufenthalts wäre, noch etwas toleranter, aber ich habe die Nase voll von der billigen sex sells Attitüde, die die Inhaltslosigkeit nur verdeckt. Nach 10 Minuten gehe ich und bin zu stolz, mein Eintrittsgeld zurückzufordern. Idiotisch. Setze mich wieder nach unten. Sie bauen also ab. Auch das ist schön: Professionelle Künstler beim selbstverständlichen Abbauen ihres Equipments zu beobachten. Die Sorgfalt, die Eleganz, die gelassene Großzügigkeit im Umgang miteinander. Ein angenehmer Sommerabend im April. Als dann doch alle aufbrechen, setze ich mich vor die Tür und will mir eines der Biere, die ich immerhin noch vom zweiten Stock bei mir habe, öffnen, da fällt mir "the law" ein. Wie schade.
Dafür setzt sich eine Tänzerin zu mir, die sich die Achillessehne gezerrt hat. Sie fürchtet, zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres wegen einer Verletzung auftrittsunfäig zu sein. Verglichen dazu sind die Ängste eines Berliner Lesebühnenautors Pimpelpampel. Schlendere zurück zum John Golden Theater, die Vorstellung müsste bald vorbei sein. Steffi kommt mir auf der Straße glücklich entgegen und berichtet von einem weiteren Unterschied, der einem im Film oder Fernsehen nicht deutlich gemacht wird: Amerikaner verlassen nach kurzem Applaus sprunghaft, ja regelrecht panisch das Theater. Da Steffi noch mal auf Toilette musste, wäre sie beinahe eingeschlossen worden. "So! Man hat sich amüsiert! Was kommt als nächstes dran?", mag das Mantra des nimmermüden Otto-Normal-Amis lauten.
Langsam wandern wird zurück, widerstehen dem Hereinspaziert, lassen die Wärme, die Stadtgeräusche und die bunten Lichter auf uns einprasseln.