Wahrscheinlich könnte man Prousts Komik (nach dem, was man durch Schmidt herauspickt) der von Moliere zuordnend. Thema hier: Der unsichere Bourgeois im Milieu der überlebten Aristokratie, welche hin und hergeworfen ist von der Freiheit, die ihr das Geld verleiht, und den Konventionen, an die sie sich zu halten gezwungen ist, um sich nicht selbst infragestellen zu müssen.
Do, 12.10.06
Diskussion unter den Enthusiasten über Textlängen. Ich halte mich raus. Solange Robert moderierend die Wellen glättet, muss man nichts befürchten. Das würden wohl nur wenige Außenstehende glauben: Robert, das Sozial-Talent.
In Erwartung, zur neuen Wohnung gefahren zu werden, habe ich den Rucksack gepackt. Aber wir „besichtigen“ sie nur. Die sei „prinzipiell“ frei, aber im Moment nicht. Und ich hatte mal gedacht, ich hätte dir Russen verstanden.WS in der Uni nur zu zehnt. Es ist entspannter. Ein Typ nur am Kichern, ich könnte ihn manchmal würgen. Aber das würde womöglich zu außenpolitischen Scherereien führen, wenn ich wegen Totschlag im Odessitischen Gefängnis einsäße.T., die es immer noch nicht verwunden hat, dass ich aus ihrer Wohnung ausziehe, dolmetscht nur noch zögerlich. Ich weiche aus auf ein Russisch/Englisch-Kauderwelsch. Funktioniert auch.Beginne Dick Francis‘ „Weinprobe“, ein Autor, den ich lediglich zu lesen begonnen habe, da von ihm Dutzende Bände im Regal von Christa Wolf stehen. Was für Krimis liest sie? Eine Katastrophe wie bei McEwans Liebeswahn bricht herein und ist der äußere Anlass für die weiteren Verwicklungen.
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J.S.: „Das schönste am Zeitunglesen ist der Moment, wenn man das Blatt wieder weglegt, einfach nur aus dem Fenster vom Café guckt und sich klar macht, wie gut es einem geht. Ich fand es immer unter meiner Würde, positiv zu denken, ich wollte meine Komplexitäten nicht zu etwas Überflüssigem degradiert sehen, aber es ist natürlich auch etwas dran, daß man sich darin üben kann, sein Glück zu erkennen.““Gestern hat Lou Reed im Radio gesagt, New York sei seine DNA, dann ist Berlin mein eingewachsener Zehnagel.““Es war eigenartig, in New York so etwas normales zu machen, wie Gemüsereste aus dem Ausguß zu pulen, während der Blick aus dem Fenster auf unwirklich schmale und sagenhaft schöne Hochhäuser fiel.“ Mag es jemandem mit Berlin auch so gehen?
Jochen fühlt sich zum ersten Mal mit Marcel verbunden, als dieser seinen Fruchtsaft nicht teilen will. Unverhohlener Egoismus – die Bonbongeschichte.
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Fr, 13.10.06
Merkwürdigkeiten:
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überall unregelmäßige Treppenstufen. Vielleicht ist „DIE TREPPE“ von Odessa eben deshalb so sensationell, weil sie die einzige mit regelmäßigen Stufen ist.
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die ewige Flickschusterei. Kaum etwas wird dauerhaft instandgesetzt. Am schlimmsten ist es bei den Wohnhäusern: Die Wohnungen gehören den Mietern, die für diese manchmal viel Geld ausgeben. Die Fassaden, die Treppenhäuser, die Dächer zerfallen.
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der Russen-Geruch. Bis heute weiß ich nicht, woher dieser seltsam beißende Russlandgeruch kommt. Kohl und Benzin?
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Ein beständiges Nörgeln zwischen den Leuten, dem vor allem die Frauen nicht widerstehen können.
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Handys werden unartig benutzt. Generell eine seltsame Form von Unaufmerksamkeit. Äußerlich oft formal bis steif, geht während der Rede des katholischen Kirche eine Stadträtin ans Handy. Bei meinem Unterricht in der Schauspielschule bekomme ich im Anschluss Blumen, aber während des Kurses rennen sie raus und telefonieren.
Mini-Impro-Kurs in der Schauspielschule. Wieder überraschend. Ein kleiner Klassenraum. Die Schüler hinter Bänken. Offenbar bekommen sie es von den Lehrern hier eingehämmert, was wohl auch der Grund für das permanente Schnatterbedürfnis ist. Anders geht es nicht, meint K., die Schülerinnen seien hier zu „unreif“.Ein Konzert der merkwürdigen Art. Eigentlich eine Art Vorsingen der Gesangsklasse. Eine mehr als übergewichtige Gesangslehrerin, die sich eng kleidet und grellrot schminkt. Das Vorsingen im schmuddligen Raum, wo auch wir trainieren. Im Vergleich zum Schmuddelzimmer sind die Sänger für unsere Begriffe völlig overdressed, heraussticht der der Star des Nachmittags – eine Sängerin, die inzwischen in Deutschland auch Fuß gefasst haben soll. Sie trägt nicht nur Abendkleid (es ist 15.30 Uhr, sondern weißen Pelz um die nackten Schultern, wie Opernstars zu Zeiten Prousts. Alles wirkt falsch, nur die Stimmen recht gut. Aber der Schmerz der immerleidenden Sänger unecht. Die Professorin souffliert ihren Schülern während des Vortrags. Der Star legt auf falsch-anmutige Art den Kopf in die Schräglage, permanent kitsch-lächelnd, wie lange hat sie das einstudiert, andererseits ist diese Art von Ruhe und Freundlichkeit des Geistes eher selten hier und mein Verhältnis dazu dann wieder eher ambivalent. Hinterher natürlich wieder, wie Matze schon ankündigte, „Ansprachen und Blumen“.Nach der Mittagspause gebe ich zwei unbezahlte Zusatzstunden im Institut. Erstaunlich, dass dann doch zehn Schüler erscheinen. Das Gebrabbel hat also nichts damit zu tun, dass es ihnen keinen Spaß machen würde.Russisch-orthodoxer Feiertag. Mit L. an einer Kirche vorbei. Sie traut sich nicht hinein, weil sie kein Kopftuch habe. Eine Kapuze tut es dann auch. Ein fetter Priester in Königskostüm und Krone erteilt den Gläubigen einzeln den Segen, Kleinkinder werden zu ihm hochgehoben, damit er sich nicht zu bücken braucht. Ein beeindruckender Chor – oder macht das vor allem die Akustik? Schwarzgekleidete Frauen mit ihren kreisförmigen Kopftuchversteifungen, wie man es nur aus russischen Filmen kennt.K. fährt mich zum Gästehaus der Evangelischen Kirche. Vorher Verabschiedung bei T., die sich noch mal dafür entschuldigt, dass sie kein bequemeres Bett habe. Dabei habe ich das „unbequeme Bett“ nur erwähnt, weil ich ihr die Peinlichkeit über den allgegenwärtigen Dreck zu sprechen, ersparen wollte. Im Gästehaus könnte ich vor Freude über den Komfort weinen.Wirklich zu Tränen rührt mich dann der langsame Satz der Klaviersonate C-Dur (Sonata facile) von Mozart. Ich kann mich gar nicht satt hören. [Spiele dann im Jahr 2007 Tag für Tag mindestens zehn Minuten dieses Stück und lerne auf diese Weise Klavier.]
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Jochen im tschechischen Zug nach Dresden: „Eigenartigerweise sofort viel heimatlicher als der ICE.“ Wird es eine Generation geben, die nostalgische Gefühle gegenüber dem ICE hegen wird? Auch wenn sie müffeln, sind mir die alten Züge, die man in Polen und auf einigen Regionalstrecken der Deutschen Bahn antrifft auch ans Herz gewachsen. Und ich glaube nicht, dass es nur mit Nostalgie zu erklären ist. Die ICEs pfeifen aufs Feng Shui, sie haben keine organischen Formen. Aber ja, die Geschwindigkeit, könnte man einwenden. Ich brauche nach einer Reise mit dem ICE immer genauso viel Zeit zur Erholung. ICE fahren ist Arbeit.
Entnervende Verwandtschaftsverhältnisse, in die Marcel eingeführt wird und die er uns ungefiltert kosten lässt: „Tatsächlich erklärte Monsieur de Guermantes, daß die Urgroßmutter von Monsieur d’Ornessan die Schwester von Marie de Castille-Montjeu gewesen sei, der Gemahlin Timoleons von Lothringen, und infolgedessen eine Tante Orianes.“ Aus diesem Grunde habe ich als Jugendlicher immer bei Familien-Dramen abgeschaltet. Weder das von Jochen so geliebte „Haus am Eaton Place“ noch „Die Waltons“ konnten mich begeistern, am allerwenigsten Adelsgeschichten. Aber natürlich lohnt es sich „Hundert Jahre Einsamkeit“ und „Des Mauren letzter Seufzer“ gehören zu meinen Lieblingsbüchern. Und wie viele haben aufgegeben, die Bibel zu lesen, nur weil man sich vor allem im ersten Buch Mose durch Genealogien kämpfen „muss“.
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Sa, 14.10.06
Wache um 7 Uhr vergnügt auf, obwohl es einigermaßen kühl ist im Zimmer.Duschen eine Freude trotz des scheiße anmontierten Duschkopfhalters. Dass man im Ausland immer wieder lernt, deutschen Handwerksanstand zu schätzen.Gehe mit meinem Frühstückstablett in den Speiseraum, wo die Köchin gerade kommt und mir freundlich die Option gibt, das heiße Wasser zu benutzen, wenn ich nicht das Frühstück des Gemeindehauses will. Aber an den Tisch der anderen soll ich mich nicht setzen. Manchmal sind sie auf seltsame Weise kompliziert.Francis, der gerade mal so spannend ist, dass er mich weiter am Lesen hält. Hält nicht ganz, was Wolf verspricht.K., die mich täglich rasant zum Institut chauffiert, muss ihren kleinen Daihatsu alle drei Minuten scharf abbremsen, da die Schlaglöcher so konstruiert sind, dass ihr Wagen gut als Füllmasse dienen könnte. Hätte Odessa eine deutsche Stadtverwaltung, würden die Schlaglöcher binnen eines Monats gestopft und binnen eines weiteren Monats gäbe es an ihrer Stelle sauber konstruierte Verkehrsberuhigungs-Huppel, damit rasante Daihatsus alle drei Minuten scharf abbremsen.Workshop. Bei einigen ist der Knoten geplatzt, andere dermaßen grob, dass man keinen Anknüpfungspunkt hat. Sie gehen physisch aufeinander los und zerdreschen den Notenständer. Es verschlägt mir die Sprache. A. ist die Dickste und Gröbste von allen. K. begründet das damit, dass sie auf dem Dorf großgeworden sei. Wäre eine solche Begründung bei uns noch denkbar? Mit dem Singen kriege ich sie dann alle. Da sind sie zuhause, das können sie. Auf einmal funktionieren die Szenen, das Timing, die Geschichten, der Ernst und der Witz. Abholen bei dem, was sie können und lieben.Erschöpft lege ich mich hin. Zu müde, um etwas zu schreiben. Außerdem muss ich den Workshop verarbeiten. Ich schließe die Augen und höre innerlich die nörgelnden russischen Stimmen weiter. Auf diese Weise mache ich das kein zweites Mal. Es müssten schon Schauspieler oder Schauspielschüler sein!Am Abend wieder Mozarts zweiter Satz der Sonate Nr. 16 – berückende Einfachheit und Schönheit.Meine Verdauung ist hier wesentlich besser. Woran mag es liegen? Wie auch früher auf der Krim oder in Ferienlagern haben eklige Klos immer eine direkte Auswirkung auf meinen Darm – ich muss dann tagelang nicht.
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Jochen im Kino. „jedes mal diese Single-Demütigung an der Kasse: ‚Einmal Parkett.‘ ‚Dreimal?‘ ‚Einmal!‘ Wie kann man statt „einmal“ „dreimal“ verstehen? Ich denke, die machen das mit Absicht, aber ich kann es ihnen auch nicht übel nehmen, es gibt eben Berufe, die sich nur durch das Ausleben sadistischer Triebe ertragen lassen.“Wie kann man dieses Nicht-Verstehen nicht verstehen? Jochen ist der einzige Mensch, den ich kenne, der eine am Telefon durchgegebene Telefonnummer nicht sicherheitshalber wiederholt.Marcel lässt sich vom schwulen Charlus demütigen. Er setzt sich dann ausgerechnet auf den Louis-Quatorze-Sessel. Welche Peinlichkeit, die Jochen allerdings nicht in die Liste „Verlorene Praxis“ aufnimmt.
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So, 15.10.06
Bevor ich gegen 8 Uhr aufstehe, lese ich die letzten 20 Seiten des Francis-Krimi zu Ende, die ich gestern Abend nicht mehr geschafft habe. Etwas konstruiert finde ich es dann doch: Bei jedem neu eingeführten Erzähl-Element weiß man schon, dass es früher oder später wieder eingebaut wird. Das neu geschenkte Taschenmesser ist dann auch prompt zur Stelle, als man Fesseln durchschneiden muss. Alles hängt mit allem zusammen. Zu viele Zufälle außerdem, die dann gerade zur rechten Zeit kommen.Durch den Park nähere ich mich langsam dem Meer. Ich merke, dass ich viel zu kalt angezogen bin. Habe mich von der Sonne betrügen lassen. Hoffe auf ein Café, in dem ich etwas warmes zu essen und zu trinken bekomme.Spaziere zum Strand. Das erste Mal seit 1994 wieder am Schwarzen Meer. Ich denke zurück, der Abschied damals war bitter, weil ich wusste, ich würde nicht noch einmal mit meinen Freunden auf die Krim fahren, die Zeit war vorbei. Im Grunde war die Reise mit H., E., K. und den Russen sowieso schon eine Reise zuviel gewesen. Ralf war schon gestorben, es war nicht mehr aufregend. Man sah den Verfall. War vorher das Betrunkensein eine verrückte Ausnahme, ein Über-die-Stränge-Schlagen, war es nun die traurige Regel. V. war über mehrere Tage nicht ansprechbar. Und nun bin ich ein paar Kilometer weiter westlich wieder am Schwarzen Meer, und meine Sehnsucht nach den alten Zeiten hält sich in Grenzen. Ebenso die Wiedersehensfreude. Kaputte Piers, alles schmuddelig. Trotzdem gut, am Meer zu sein. Ich setze mich in ein offenes Restaurant (drinnen darf man nicht sitzen) und esse Schaschlik. Der Preis anschließend utopisch, aber anscheinend wird das Fleisch nach Menge berechnet, gebe ihr trotzdem noch ein stattliches Trinkgeld, denn sie hat sich Mühe gegeben, und lasse so 100 Griwen dort.Treffen mit Frau Köhn und ich weiß nicht wem in einer protestantischen Kirche. Sie hat gerade ihre Probe beendet und bespricht letzte Details mit dem amerikanischen Dirigenten – ein Dreißiger als Protestant so streng ist, dass er – so Frau Köhn – nicht den katholischen Mozart spielen will. Stattdessen studieren sie Haydns „The Creation“ ein. An den hinteren Reihen wartet noch ein stämmiger Mittvierziger Wir wechseln einen kurzen Blick und wissen im Grunde, das wir einander gleich vorgestellt werden sollen, tun dann, als es geschieht, aber überrascht. Er wundert sich, dass die ukrainische Schrift so anders ist als die deutsche. Er scheint bei der Vorbereitung für seinen Aufenthalt in Odessa ein paar Lücken gelassen zu haben. Dadurch, dass er nicht nur einen schweren bayrischen Akzent hat, sondern auch noch gehörig stottert, bleiben einige seiner Fettnäpfchentritte unbemerkt. Dabei entbehrt seine Sprechweise nicht einer unbeabsichtigten Poesie, die an die lautmalerischen Experimente des Expressionismus erinnern. Als ich ihn frage, ob er geflogen sei oder mit dem Auto gefahren, meint er, dass er gehört hätte, eine Autofahrt sei zu anstrengend. „D-d-da fahren die Autos immer in solchen Kolonnollonnollonnen.“ Ich denke, diese Wortneuschöpfung drückt den Charakter einer Kolonne recht treffend aus. H. scheint mit der Regel, nach der man eine fremde Kultur zunächst bestaunt, bevor man sie kritisiert, nicht recht vertraut. Regelrecht belustigt ist er von der ukrainischen Deko-Folklore, besonders angetan haben es ihm die bunten Bommeln an den Stühlen und Lampenschirmen, und abermals glaube ich das Bommeln der Bommeln zu hören, sobald H. „Bommommommeln“ sagt. Wir sind in ein gutes ukrainisches Restaurant eingeladen. Zum Abschluss will ich mir einen Wodka nicht verkneifen und trete in das Fettnäppfchen, einen Stolitschnaja zu bestellen. Als ich zögere, den mir empfohlenen Wodka zu bestellen, bekomme ich 15 Gramm gratis zum Kosten, die mir ja schon genügen würden. Aber jetzt kann ich die 50 Gramm ja schlecht ablehnen. So machen sie einen betrunken, diese Schlawiner.
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Überlegungen des Langzeitstudenten Jochen Schmidt über die Wiedereinschreibung: „Ich bin bestimmt einer der letzten Studenten der HU mit einer fünfstelligen Immatrikulationsnummer. Wahrscheinlich hätten sie den Fachbereich ohne mich längst abgewickelt. Die Professoren leistet man sich nur noch, damit ich irgendwann doch noch mein Examen machen kann. Vielleicht werde ich sie, auf meinem Sterbebett, endlich zu mir rufen, damit sie mir ihre Fragen stellen können. Dann werde ich ihre Hand halten und wir werden gemeinsam schweigen. Ob ich bestanden habe oder nicht, das zu beurteilen, liegt doch gar nicht in unserem Ermessen.“Meine Matrikelnummer war noch vierstellig. Ich hielt mich mit 12 Semestern schon für einen Langzeitstudenten. Aber vielleicht sind sowohl das Beenden als auch das Nichtbeenden des Studiums Formen der Trägheit.
Charlus kritisiert Marcels Rasur, während sie durch sein wertvolles Palais spazieren. Die möglichen Prozeduren einer Einladung zur Prinzessin de Guermantes werden abgewogen. Diese Einladung trifft überraschenderweise nach acht Wochen ein, und schwupps sind wir mit Marcel noch mal bei Herzog und Herzogin.