Jahr für Jahr schaffe ich mir neue Ordnungssysteme in meiner Wohnung, die ihre eigene Dynamik entfalten und unausweichlich zur neuen Dystrophie führen. So wie neue Autobahnen zu mehr Stau führen, so entstehen hier wieder und wieder Scha-Ecken. Scha bezeichnet im Feng Shui die Bereiche der Wohnung, in denen sich die Energie staut bzw. das Chi nicht fließen kann, auf Deutsch könnte man auch einfach Dreckshaufen oder Rumpelecke sagen. Ein immer wiederkehrendes Problem des Intellektuellen ist der nicht abreißen wollende Zufluss von neuen Büchern. Gegen diesen Zustrom lässt sich kaum etwas ausrichten – man wird beschenkt, man ist neugierig und beschenkt sich selbst, man „braucht“ die Bücher für die Arbeit. Also muss man entweder immer mehr Regale anbauen oder gnadenlos ausmisten. Bei meiner letzten Buchentrümpelungs-Aktion vor knapp fünf Jahren musste etwa ein Drittel meines Belletristik-Bestandes dran glauben. Als nächstes wären wohl Sachbücher dran. (Auf E-Reader lese ich vielleicht 10-20 Prozent meiner Bücher, und zwar eher die leichteren. Ich kann mir das Gelesene anscheinend nur merken, wenn ich mich damit auch physisch auseinandersetze.)
Ein weiteres Problem besteht darin, dass ich gar nicht so viel lesen kann wie ich will. Die Corona-Zeit hätte ich eigentlich nutzen können – schließlich musste (oder konnte) ich weniger arbeiten. Aber die allgemeine leichte Verstimmung (die fast alle meine Bekannten erfasst hat), hat sich auch auf meine Leselust niedergeschlagen. Ganze fünfzehn Bücher habe ich bisher im Jahr 2019 beendet. Wenn es in dem Tempo weitergeht, müsste ich dieses Jahr noch drei schaffen. Mit etwas Glück vier, wenn ich mich an die angefangenen halte.
Auf meinem Stapel, den ich, als ich ihn angefangen hatte, auf drei Bücher begrenzen wollte liegen nun, in drei Sub-Stapel unterteilt:
Kai Strittmatter: „Die Neuerfindung der Diktatur“ –ausgelesen, die Anstreichungen aber noch nicht exzerpiert
Lutz Seiler: „Stern 111“ – ausgelesen, zum Weiterverkauf abgelegt.
Thomas Mann: „Tonio Kröger“ – im März 2018 angefangen, kurz beiseitegelegt und aus unbekanntem Grund nicht weitergelesen.
Botho Strauß: „Der Park“ – Anfang des Jahres hatte ich mit großer Freude ein paar Stücke von Strauß gelesen. Dieses sollte folgen.
„Sin und Form. Juli/August 2020“. Die einzige Zeitschrift auf diesem Stapel. Wollte noch den herrlichen Artikel „Nacktbaden. Technik des Glücks. Zur Freikörperkultur der DDR“ von Ulrike Köpp rezensieren.
Eva Strittmatter: „Sämtliche Gedichte“ – Am 20.10. letztmalig darin gelesen und „Mondschnee…“ fast beendet. Fast, wegen Übersättigung an Kreuzreimen.
Daniela Dahn „Spitzenzeit“. Aus einem Mitnehm-Stapel zum ruhigen Inspizieren herausgefischt. Noch nicht zum ruhigen Inspizieren gekommen.
Gustave Flaubert: „Drei Erzählungen“. Letztmalig am 22.11.2019 darin gelesen. Müsste man eigentlich auf dem E-Book-Reader lesen. Die Broschur ist schon völlig verwurschtelt.
John Cleese: „Creativity“. Am 12.9.2020 kurz vorm Schlafengehen reingeschaut habe. Dermaßen schmales Buch, dass ich glaubte, es en passant lesen zu können. Hätte ich vielleicht auch getan, wenn es nicht von anderen Büchern begraben worden wäre.
Malte Heynen: „Raubzug der Banken“. Irgendwann im Oktober durchgeblättert und Lektüre auf „Irgendwann demnächst“ festgelegt.
Alfred Lichtenstein: „Dichtungen“. Letztmalig wahrscheinlich Anfang dieses Jahres als Guten-Nacht-Lektüre in der Hand gehabt. Ist zu einem meiner Lieblingsdichter geworden. Um die Prosa allerdings habe ich mich bisher noch gedrückt.
Sjöwall/Wahlöö: „Der Mann auf dem Balkon“. Anfang der 90er ein Bibliotheksexemplar mit viel Freude gelesen. Jetzt in einer Ramschkiste auf der Straße gefunden und mich nicht mehr erinnert, um was es ging. Darin findet sich die handschriftliche Widmung „Für Doro. Ein Nikolausbuch zusammen mit dem Kartengeheimnis und kurz nach Bulgakow geschenkt von Johannes in der Nacht vom 5. zum 6.12.1998.“ Ich kann nicht glauben, dass Doro und Johannes noch viel miteinander zu tun haben.
Wolfgang Herrndorf: „Stimmen“. Kleines, hübsches Buch, das ich in viel zu kleinen Schritten gelesen habe. Letztmalig am 4.8.2020
Wolfgang Herrndorf: „In Plüschgewittern“. Der Vollständigkeit halber gekauft. Noch nicht reingelesen.
James Joyce: „Ulysses“. Jährlicher Versuch, über die ersten 30 Seiten hinauszukommen, die ich jedem Buch zubillige. Meistens gebe ich müde auf. So auch in diesem Oktober.
Norman Fischer: „Unseren Platz einnehmen.“ Im Februar 2017 gekauft. Ich weiß nicht mehr, warum. Seitdem wandert es von einem Stapel auf den anderen.
Matthias Kopetzki: „Überleben im Darsteller-Dschungel“. Da darin auch ein Interview mit mir vorkommt, hatte ich vor, aus Höflichkeit auch die Beiträge einiger anderer Schauspieler zu lesen. Aber ich muss mir eingestehen – daraus wird wohl nichts mehr.
Stephen Kotkin „Magnetic Mountain. Stalinism as Civilisation“. Zuletzt im März 2020 bis zur Seite 100 gelesen. Kotkin hat hier noch nicht ganz den stilistischen Schwung, wie in seiner legendären Stalin-Biographie. Daher kann ich dieses großartige Buch über Magnitogorsk nur häppchenweise genießen.
Erika Fatland: „Die Grenze. Eine Reise um Russland“. Geburtstagsgeschenk von 2019. Bin neugierig, hab es aber noch nicht einmal angefangen.
„Konturen 155-1966. Ungarische Prosa“. Am 8. April eine Geschichte daraus gelesen. Davor das letzte Mal ca. 1987.
John Rewald: „Pissarro“ Bildband einer Ausstellung mit Gemälden meines Lieblingsmalers, den ich zur Hand nehme, wenn ich mich beruhigen will.“
Ryan Holiday: „The Daily Stoic“. Habe tatsächlich ein Jahr lang täglich zu diesem Buch meditiert und hatte vor, danach von vorn zu beginnen, dann aber Ende September aufgehört, ohne aufhören zu wollen.
Matthias Sutter: „Die Entdeckung der Geduld“. Muss ein Impulskauf gewesen sein.
Dirk Stermann: „Der Hammer“. Am 20. Juni 2020 begonnen und nicht weitergelesen. Weiß nicht warum. Es fing ja gut an.
Andrea Böhm: „Das Ende der westlichen Weltordnung. Eine Entdeckung auf vier Kontinenten“. Stand lange Zeit auf meiner Amazon-Merkliste, bis ich es dann endlich mal bestellt habe, weil dieser Kauf „erledigt werden musste“. Nur ist mir dieses Jahr eigentlich zu trübe, als dass ich mich auf noch mehr Welt-Kummer einlassen könnte.
Susanne Hake: „Selbstmarketing für Schüchterne“. Da ich auch Lampenfiebertraining und Moderation anbiete, hat es mich interessiert, wie andere an das Thema Schüchternheit herangehen, zumal mich Selbstmarketing ungeheuer nervt.
Silke Scheuermann: „Die Stunde zwischen Hund und Wolf“. Am 1. August 2020 angefangen. Dann weggelegt, obwohl es mir gefiel.
„Der Sprach-Brockhaus. Illustriertes Wörterbuch von 1948.“ Auf der Suche nach Illustrationen ungefähr im September weggelegt.
„Grammatik-Bildwörterbuch von 1935“. Auf der Suche nach Illustrationen ungefähr im September weggelegt.
Christian Thomas Müller: „Tausend Tage bei der AscheUnteroffiziere in der NVA“. Im Oktober 2020 beendet und zum Exzerpieren beiseitegelegt.
Alexander Puschkin: „Erzählungen und Anekdoten“. Dieses Jahr aus einer offenbar nie genutzten Lese-Ecke geklaut und bisher nur flüchtig darin herumgeblättert. Ich weiß aber, dass, wenn ich es jetzt ins Regal stelle, ich es nie wieder herausholen werde.
Warlam Schalamow: „Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma 1“. Noch nicht angefangen. Ich ertrage nur ein bestimmtes Maß an Stalinismus-Lektüre pro Jahr. Mit Bordihn, Kotkin und Yakhina Guzel habe ich für 2020 schon meine Portion gekaut.
Mark Galeotti: „The Vory. Russia’s Super Mafia“. Am 13. August 2018 das letzte Mal in der Hand gehabt. Sehr interessantes Buch zur Geschichte der Oberkriminellen in Russland, aber in seinem Ausmaß an Brutalität und Aussichtslosigkeit so bedrückend, dass ich darum einen großen Bogen mache wie um einen unangenehmen aber unausweichlichen Zahnarztbesuch.
Schwarzes Notizbuch einer Schülerin, die mal an einem Musik-Impro-Kurs bei mir teilgenommen hat. Ich habe wahrscheinlich schon zwanzig Personen angeschrieben, kann aber nicht herausfinden, wem es gehört. Wegen der Gedichte und kreativen Aufzeichnungen bringe ich es aber auch nicht übers Herz, es wegzuwerfen. Liedtexte einer Kabarettistin, die aber in keinem meiner Workshops war.
Elfriede Jelinek: „Ein Sportstück“ und „Macht nichts“. Zwei Dramen, die ich im Februar las und mit denen ich womöglich noch etwas vorhatte.
Drei Amerikaner, eine Österreicherin, zwei Schweden, zwei Engländer, ein Ire ein Franzose, zwei Russen, und lauter Deutsche.
Ich kenne drei der Autoren persönlich.
Mit zwei Personen habe ich vor langer Zeit in nicht-literarischen Zusammenhängen gesprochen. Ich glaube nicht, dass sie mich wiedererkennen würden.
Fünf Bücher haben mit Russland zu tun.
Ein Lyrikband.
Nicht dabei meine tatsächliche aktuelle Lektüre, die auf einem ganz anderen Stapel liegt:
Monika Maron: „Endmoräne“
Wolfram Eilenberger: „Zeit der Zauberer“
Ahmad ibn Fadlan / James E Montgomery: “Mission to the Volga”

Bücherstapel

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