Nach einem Drittel der Lektüre hatte ich das Buch schon einigen Freunden empfohlen. Nicht nur ist die Grundidee großartig, sondern sie ist auch wunderbar umgesetzt. Der ältere Buchhändler findet eines Abends seine Frau tot in der Badewanne. Und beim Studium ihrer Notizen erfährt er, dass sie, bevor sie dank seiner Hilfe in den Westen geflohen war, ein Kind im Osten gelassen hatte. Der verzweifelte und gleichzeitig abgehärtete Ton der Frau ist so wunderbar getroffen, dass er einen Blick auf eine DDR-Story freigibt, die noch nicht erzählt wurde.
Der alte Mann macht sich auf die Suche und landet, soviel weiß man schon aus den Vorankündigungen und dem Klappentext in der ostdeutschen Provinz, wo es von Nazis nur so wimmelt. Ich hätte Schlink die Blut-und-Boden-Deutschen als Setting durchaus abgekauft. Aber das Unheil beginnt, sobald sie den Mund aufmachen. Vor allem Sigrun, die vierzehnjährige, angeblich intelligente Titelheldin, sondert nur Plattitüden ab: „Die Holländer, die Pfeffersäcke, haben uns unsere Kolonien nicht gegönnt. Sie haben uns belogen und betrogen.“ Ihr Lieblingsbuch soll „Ein Mädchen erlebt den Führer“ sein, und sie bewundert Irma Grese. Soll man das alles wirklich glauben? Eine Vierzehnjährige, die nicht nur einem 40er-Jahre-Nazismus huldigt, sondern diesen gegenüber einem Fremden freimütig offenbart, als wüsste sie nicht wenigstens durch ihre Eltern, dass das tabuisiert ist? Seitenweise kommt sie einem vor wie eine Sechsjährige oder eben: ausgedacht.
Ja, es gibt im Osten (und nicht nur da) die „Volksdeutschen“, aber der Rechtsradikalismus äußert sich heute anders. Anders als in den 90ern, anders als in der 70ern. Und ganz gewiss anders als in den 40ern. Wer in den letzten Jahren ein offenes Ohr hatte, weiß, dass der Ton sich deutlich geändert hat. Es dominieren Verschwörungstheorien. Alte Rituale werden mit neuer Technikskepsis vermischt.


Es scheint, als seien nicht nur die Nazis sondern auch die Technik in Schlinks Welt in den frühen 90ern stehengeblieben. Das Internet kommt so gut wie gar nicht vor. Ebensowenig Smartphones. Dass sich eine Vierzehnjährige, deren Hauptcharakterzug offenbar Neugierde ist, von ihren Eltern dermaßen vorschreiben lässt, in welcher altertümlichen Welt sie zu leben hat, ist schlechthin nicht vorstellbar.
Gegen Ende gelingt Schlink immerhin noch mal eine tröstliche Wende. Vielleicht hätte ich den Mittelteil einfach überspringen sollen.

Bernhard Schlink – Die Enkelin
Markiert in:

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert