Fortsetzung der Lektüre von Daily Rituals. How Great Minds Make Time, Find Inspiration, and Get To Work.
Eine interessante Frage ist, wieviel und wann sich Künstler Ruhe gönnen. Aus der bisherigen Lektüre lässt sich erahnen, dass Nachtschreiber eher in eine Art vormittäglichen Erschöpfungsschlaf sinken. Wir Improtheater-Spieler haben ja auch mit den allermeisten performativen Künstlern gemein, in den späten Abendstunden Kreativität abrufen zu müssen. Das Ignorieren des Tag-Nacht-Zyklus bzw. die Überwindung der biologischen Uhr fordert aber ihren Tribut. Um überhaupt leistungsfähig zu sein, muss man ausgeruht sein. Dies dürfte den Konsum von Drogen bei Bühnenkünstlern miterklären. Man gibt sich den Kick mit Koks bzw. Alkohol, um dann später mit Hasch oder gar Heroin wieder runterzukommen. Die Opfer dieses Lebenswandels sind bekannt. Ich traf mal einen heroin-drückenden jungen Saxofonisten, der meinte, jemand wie Charly Parker hätte ohne die Droge eine solche unglaubliche Musik gar nicht erschaffen können. Sein Weggefährte Gillespie ist der Gegenbeweis, und man fragt sich schon, welche Musik Parker noch hätte erschaffen können, wäre er nicht so jung gestorben.
Die Frage der Erholung betrifft natürlich auch freie Tage. Stephen Nachmanovitch schreibt in Free Play. Schöpferische Improvisation in Leben und Kunst: „Die vielleicht radikalste sozialpolitische Erfindung der letzten viertausend Jahre war der Sabbat. Die Praxis des Sabbat (…) erkennt an, dass wir Raum und Zeit benötigen, die von der Eile und den Belastungen des Alltags frei ist, die wir uns dafür bewahren, in uns zu gehen, für Ruhe, Rückblick und Offenbarung.“
Sich einen Tag in der Woche freizuhalten, kann schwerfallen, wenn Unerledigtes drückt, aber auch wenn man schöne Arbeit auf sich warten weiß. Aber warum soll ausgerechnet der Künstler ein asoziales unreflektiertes Monster sein? Seit dem Frühjahr gelingt es mir nun endlich, mir einen Tag in der Woche freizunehmen (na ja, fast immer). Der Tag dient der Reflexion, dem Besuch von Freunden und der Familie. Kurioserweise ist es – der Sonntag.
Anthony Trollope (1815-1882)
Der ungeheuer produktive Trollope (ich musste bei Wikipedia nachschauen, wer das ist), arbeitete lange Jahre in einem Postamt. Aufstehen: Jeden Morgen stand er um 5:30 Uhr und gewährte sich in diesem Ritual „keine Gnade“. Er war der Meinung, dass man als Schriftsteller nur drei Stunden arbeiten könne, in dieser Zeit aber alles zu leisten habe. Er schrieb mit einer Uhr vor seinen Augen und zwang sich zu 250 Wörtern pro Viertelstunde.
Bemerkenswert: Um überhaupt ins Schreiben einzusteigen, las er die Arbeit des Vortages, um den Klang und den Stil wieder ins Ohr zu bekommen. Wenn er einen Roman vor Ablauf der drei Stunden beendet hatte, begann er sofort wieder einen neuen.
Jane Austen (1775-1817)
Dies gehört zu meinen Lieblingskapiteln. Austen, die in ihrem Leben so gut wie nie alleine war (von Virginia Woolfs „eigenem Zimmer“ konnte sie nur träumen, musste sich ihre Freiräume erkämpfen. Zusätzlich erschwerend: Weder Freunde noch die Dienerschaft durfte wissen, dass sie schrieb. (Ihre Werke wurden anonym veröffentlicht – „by a Lady“.) Im stark frequentierten Gästezimmer verdeckte sie ihre Arbeit unter Löschpapier.
Sie stand früh morgens auf und spielte Klavier. Um 9 Uhr bereitete sie das Frühstück für die Familie vor – ihre einzige Hausarbeit. Abends las sie ihrer Familie aus dem entstehenden Werk vor.
Frédéric Chopin (1810-1849)
Chopin war am produktivsten, wenn er (eigentlich ein Stadtmensch) sich auf dem Lande befand, wo er sich langweilte. Dort stand er spät auf, aß im Schlafzimmer und verbrachte den Tag mit Komponieren, nur von kurzen täglichen Klavier-Unterrichtsstunden unterbrochen. Wenn ihn die Inspiration packte, spielte er die musikalische Idee an und rang mit ihr über Stunden und Tage, in denen er sich in sein Zimmer einschloss und weinte, schrieb, fluchte und auf und ab ging.
Gustave Flaubert (1821-1880)
Aufstehen um 10 Uhr. Wasser, Zeitung, Post, Gespräche mit der Mutter. 11 Uhr Brunch, danach Spaziergang. Geschichts- und Geografie-Unterricht für seine Nichte Caroline. Dann Lektüre. 19 Uhr Abendessen. 21 Uhr Gespräche mit der Mutter. 22 Uhr Schreiben in einem Wort-für-Wort-Kampf, da er unbedingt einen neuen Stil und „das richtige Wort“ finden wollte. Ausstoß: Zwei Seiten pro Woche.
Henri de Toulouse-Lautrec (1864-1901)
Arbeitete nachts: Skizzen in Kabaretts, Bordellen usw.
Hohe Mengen Alkohol. Schlafperioden morgens, früher Nachmittag. Früher Tod durch Alkoholismus und Syphillis.
Thomas Mann (1875-1955)
Aufstehen: 8 Uhr, Frühstück 8:30 Uhr. Arbeitsbeginn: 9 Uhr hinter streng verschlossener Tür. Kinder durften keinen Lärm machen, keine Post, keine Telefonate. Schreib-Ende: 12 Uhr. Was sich bis dahin nicht zu Papier bringen ließ, musste bis zum nächsten Vormittag warten.
Drogen: Zigaretten (max. 12), Zigarren (max. 2). Nach dem Mittagessen Lektüre. 16 Uhr Mittagsschlaf mit Ruhegebot für die Kinder. Dieses Gebot taucht in Beschreibungen seltsamerweise immer wieder auf, als sei es Ausdruck einer Künstlertyrannei. Dabei könnte man es auch umgekehrt sehen: Thomas Mann ließ die Kinder von 12 bis 16 Uhr und nach 17 Uhr Radau machen.
Karl Marx (1818-1883)
Von 9 bis 19 Uhr im Lesesaal des British Museum. Ein anderer Ort wäre als Studierzimmer auch kaum denkbar gewesen, in Anbetracht der ärmlichen Lebensumstände der Familie Marx. Lange Nachtarbeit. Dabei ununterbrochenes Rauchen.
Größte Reue: Geheiratet und seine Frau und Familie auf diese Weise ins Unglück gestürzt zu haben.
Sigmund Freud (1856-1939)
Aufstehen: 7 Uhr. Dann Frühstück und Rasur durch Haus-Barbier. Patienten von 8-12 Uhr. Mittag um 13 Uhr. Dabei oft versunken in Gedanken, auch wenn Freunde anwesend waren. Nachmittagsspaziergang. Abends lesen, schreiben, Lektorierung psychoanalytischer Zeitschriften.
Drogen: Bis zu zwanzig Zigarren täglich.
Jährlich drei Monate Sommerurlaub mit Familie in Kurorten oder Berghotels.
Carl Jung (1875-1961)
In Bollingen sehr spartanisches Leben, das sich vom intensiven Stadtleben mit seinen Therapiestunden, Vorlesungen und Seminaren unterschied: 7 Uhr aufstehen, dann zwei Stunden konzentriertes Schreiben. Denn Rest des Tages: Meditieren, Gäste empfangen, Briefe beantworten. 22 Uhr zu Bett.
Gustav Mahler (1860-1911)
Während seines Lebens war Mahler eher als Dirigent bekannt, das Komponieren für ihn nur eine Nebentätigkeit, der er in den Sommermonaten in einer Villa nachging.
Aufstehen: Vor 6:30 Uhr. Der Diener hatte ihm das Frühstück in die Kompositions-Laube zu bringen, und zwar ohne Mahler zu sprechen oder auch nur zu begegnen. Komponieren bis Mittag. Alma Mahler musste dafür sorgen, dass kein Geräusch an sein Ohr drang.
Lange Nachmittagsspaziergänge am Strand mit Notizbuch und Gattin.
Verbot Alma Mahler das Komponieren!
Richard Strauß (1864-1949)
In Ägypten beschrieb er folgenden Tagesablauf:
Aufstehen 8 Uhr, Bad und Frühstück. Anderthalb Stunden Spaziergang am Nil [unter den Künstlern scheint es nur wenige Frühspaziergänger zu geben). 11-13 Uhr Komponieren. Dann Mittagessen, Lektüre. 15-16 Uhr weiterarbeiten. Dann Tee und Spaziergang. 18 Uhr Briefe schreiben. 19 Uhr Abendessen. 21 Uhr Lesen. 22 Uhr Schlafen.
Drogen: 8-12 Zigaretten pro Tag.
Henri Matisse (1869-1954)
9-12 erste Mal-Sitzung. Dann Mittag, kleiner Mittagsschlaf, Weitermalen bis zum Abend.
Tägliches Arbeiten, auch an Sonntagen. Er erfindet Geschichten, um seine Modelle zu überreden, auch an Sonntagen für ihn zu sitzen. „Die armen Dinger verstehen nicht, dass ich nicht meinen Sonntag opfern kann, bloß weil sie Bräutigame haben.“
(Diesen Blog-Eintrag nach nur 5 Stunden Nachtruhe verfasst. Mit jagenden Gedanken 5 Uhr morgens erwacht, was mir höchstens 2-3 Mal pro Jahr widerfährt.)