Aus Truffaut: „Wie haben Sie das gemacht, Mr. Hitchcock“
(Zu „Rear Window“)
H: James Stewart schaut zumn Fenster hinaus und sieht zum Beispiel ein Hündchen, das in einem Korb in den Hof hinuntergetragen wird. Wieder Stewart, er lächelt. Jetzt zeigt man anstelle des Hündchens ein nacktes Mädchen, das sich vor einem offenen Fenster dreht und wendet. Man nimmt wieder dieselbe lächelnde Großaufnahme von James Stewart, und jetzt sieht er aus wie ein alter Lüstling.
…
H: Auf der anderen Seite des Hofes haben Sie alle Arten menschlichen Verhaltens, einen kleinen Verhaltenskatalog. Das musste man unbedingt so machen, sonst wäre der Film ohne Interesse gewesen. Was man auf der Hofmauer sieht, ist eine Fülle kleiner Geschichten, es ist der Spiegel einer kleinen Welt.
T: Und alle diese Geschichten haben als gemeinsamen Nenner die Liebe.
(DR: Das erinnert natürlich an unsere Impro-Langformen wie Harold und entsprechende Abwandlungen.)
H: Und es gibt hier dieselbe Symmetrie wie in Shadow of a Doubt. Auf der einen Seite das Paar Stewart-Kelly, er mit dem Bein in Gips, während sie sich frei bewegen kann, und auf der anderen Seite des Hofes die kranke, ans Bett gefesselte Frau, deren Ehemann kommt und geht.
Eins hat mich an dem Film wirklich unglücklich gemacht, die Musik. (…) Auf der anderen Seite des Hofs gab es den Musiker, der sich betrank. Ich wollte, dass man hörte, wie er sein Lied komponiert, es entwickelt, und den ganzen Film hindurch sollte man die Entwicklung des Liedes mitverfolgen können, bis es schließlich in der Schlussszene mit Orchester von einer Platte kommt.
…
T: Mir fällt eine Sache ein, die bestimmt eine Regel ist bei Ihrer Arbeit. Sie zeigen den ganzen Dekor immer erst im dramatischsten Augenblick einer Szene. In The Paradine Case, wenn Gregory Peck gedemütigt weggeht, sieht man ihn von ganz weit weg, und dabei sieht man den Gerichtssaal, in dem man sich schon seit fünfzig Minuten befindet, zum ersten Mal ganz. (…)
H: Es kommt immer wieder darauf an, die Größe der Bilder im Verhältnis zu ihrem dramatischen und emotionellen Zweck auszuwählen und nicht in der Absicht, nur einen Dekor zu zeigen.
…
T: Die Exposition des Films ist ausgezeichnet. Es geht los mit dem schlafenden Hof, dann gleitet die Kamera auf Hames Stewarts schweißgebadetes Gesicht, schwenkt über sein Gipsbein, dann auf seinen Tisch, auf dem ein zerbrochener Fotoapparat liegt, und an der Wand sieht man Fotos von sich überschlagenden Rennwagen. In dieser ersten Begegnung erfährt man sofort, wo man ist, wer die Person ist und was ihr Beruf ist und was passiert ist.
H: Das heißt, die Mittel zu verwenden, die im Kino zur Verfügung stehen, um eine Geschichte zu erzählen. Das finde ich interessanter, als wenn jemand James Stewart fragen würde: „Wie haben Sie sich das Bein gebrochen?“ (…) Das wäre doch eine banale Szene. Für einen Szenaristen finde ich, ist es eine Todsünde, wenn man vor einer Schwierigkeit steht und sagt: „Das kriegen wir schon durch einen Dialogsatz.“
…
T: Was so toll an dem Film ist: wie Sie die Idee [des Eherings als Mord-Indiz] ausgeschmückt haben. Grace Kelly möchte, dass James Stewart sie heiratet, aber er will nicht. Sie dringt in die Wohnung des Mörders ein, um ein Indiz gegen ihn zu finden, und sie findet den Ehering seiner Frau. Sie steckt sich den Ring an den Finger und hält ihre Hand auf den Rücken, damit Stewart von der anderen Seite des Hofes her den Ehering durchs Fernglas sieht. Für Grace Kelly ist es ein doppelter Sieg, sie hat Erfolg mit ihren Nachforschungen, und sie bringt es fertig, dass Stewart sie heiratet. Sie hat den Ring schon am Finger.
H: Genau das ist es. Das ist die Ironie der Situation.
Hitchcock Kap. 11.1