Miserere (Corona 6)

Jeder trägt sein kleines Leid.
Jedem geht’s ein bisschen schlecht.
Jeder weiß genau Bescheid:
So wie’s läuft ist’s ungerecht.

Politik – der reine Hohn.
Hättense doch damals schon…
Gut, dass es mal jemand sagt.
Hättense doch mich gefragt.

Isolation (Corona 2)

Abstand für alle.
Wir halten uns ständig auf Abruf bereit.
In jedem Falle
Bleibt man im Warmem, vertreibt sich die Zeit.

Die Liebe bleibt ziellos.
Wir winken uns zu virtuell.
Das Herz wird gefühllos
und schaltet wie Neonlicht künstlich auf Hell.

Wir sind nur Bewohner
für kurze Zeit auf diesem Planeten.
Es wird uns Corona
oder später was anderes töten.

Wüste bei Yazd (Landschaften 1)

Zu fünft im klapprigen Wagen
(der Fahrer entspannt).
Sand, Staub und Geröll.
Sand, Staub und Geröll.
In der Ferne die Türme des Schweigens.

Ein Halt. Warum denn grad hier?
Der Fahrer winkt stumm.
Sand, Staub und Geröll.
Sand, Staub und Geröll.
In der Nähe die Türme des Schweigens.

Bedeckt von rötlichem Staub.
Zurück geht’s nach Yazd.
Sand, Staub und Geröll.
Was wir gesehn bei den Türmen?
Ich bewahre das Schweigen.

Bücherstapel

Jahr für Jahr schaffe ich mir neue Ordnungssysteme in meiner Wohnung, die ihre eigene Dynamik entfalten und unausweichlich zur neuen Dystrophie führen. So wie neue Autobahnen zu mehr Stau führen, so entstehen hier wieder und wieder Scha-Ecken. Scha bezeichnet im Feng Shui die Bereiche der Wohnung, in denen sich die Energie staut bzw. das Chi nicht fließen kann, auf Deutsch könnte man auch einfach Dreckshaufen oder Rumpelecke sagen. Ein immer wiederkehrendes Problem des Intellektuellen ist der nicht abreißen wollende Zufluss von neuen Büchern. Gegen diesen Zustrom lässt sich kaum etwas ausrichten – man wird beschenkt, man ist neugierig und beschenkt sich selbst, man „braucht“ die Bücher für die Arbeit. Also muss man entweder immer mehr Regale anbauen oder gnadenlos ausmisten. Bei meiner letzten Buchentrümpelungs-Aktion vor knapp fünf Jahren musste etwa ein Drittel meines Belletristik-Bestandes dran glauben. Als nächstes wären wohl Sachbücher dran. (Auf E-Reader lese ich vielleicht 10-20 Prozent meiner Bücher, und zwar eher die leichteren. Ich kann mir das Gelesene anscheinend nur merken, wenn ich mich damit auch physisch auseinandersetze.)
Ein weiteres Problem besteht darin, dass ich gar nicht so viel lesen kann wie ich will. Die Corona-Zeit hätte ich eigentlich nutzen können – schließlich musste (oder konnte) ich weniger arbeiten. Aber die allgemeine leichte Verstimmung (die fast alle meine Bekannten erfasst hat), hat sich auch auf meine Leselust niedergeschlagen. Ganze fünfzehn Bücher habe ich bisher im Jahr 2019 beendet. Wenn es in dem Tempo weitergeht, müsste ich dieses Jahr noch drei schaffen. Mit etwas Glück vier, wenn ich mich an die angefangenen halte.
Auf meinem Stapel, den ich, als ich ihn angefangen hatte, auf drei Bücher begrenzen wollte liegen nun, in drei Sub-Stapel unterteilt:
Kai Strittmatter: „Die Neuerfindung der Diktatur“ –ausgelesen, die Anstreichungen aber noch nicht exzerpiert
Lutz Seiler: „Stern 111“ – ausgelesen, zum Weiterverkauf abgelegt.
Thomas Mann: „Tonio Kröger“ – im März 2018 angefangen, kurz beiseitegelegt und aus unbekanntem Grund nicht weitergelesen.
Botho Strauß: „Der Park“ – Anfang des Jahres hatte ich mit großer Freude ein paar Stücke von Strauß gelesen. Dieses sollte folgen.
„Sin und Form. Juli/August 2020“. Die einzige Zeitschrift auf diesem Stapel. Wollte noch den herrlichen Artikel „Nacktbaden. Technik des Glücks. Zur Freikörperkultur der DDR“ von Ulrike Köpp rezensieren.
Eva Strittmatter: „Sämtliche Gedichte“ – Am 20.10. letztmalig darin gelesen und „Mondschnee…“ fast beendet. Fast, wegen Übersättigung an Kreuzreimen.
Daniela Dahn „Spitzenzeit“. Aus einem Mitnehm-Stapel zum ruhigen Inspizieren herausgefischt. Noch nicht zum ruhigen Inspizieren gekommen.
Gustave Flaubert: „Drei Erzählungen“. Letztmalig am 22.11.2019 darin gelesen. Müsste man eigentlich auf dem E-Book-Reader lesen. Die Broschur ist schon völlig verwurschtelt.
John Cleese: „Creativity“. Am 12.9.2020 kurz vorm Schlafengehen reingeschaut habe. Dermaßen schmales Buch, dass ich glaubte, es en passant lesen zu können. Hätte ich vielleicht auch getan, wenn es nicht von anderen Büchern begraben worden wäre.
Malte Heynen: „Raubzug der Banken“. Irgendwann im Oktober durchgeblättert und Lektüre auf „Irgendwann demnächst“ festgelegt.
Alfred Lichtenstein: „Dichtungen“. Letztmalig wahrscheinlich Anfang dieses Jahres als Guten-Nacht-Lektüre in der Hand gehabt. Ist zu einem meiner Lieblingsdichter geworden. Um die Prosa allerdings habe ich mich bisher noch gedrückt.
Sjöwall/Wahlöö: „Der Mann auf dem Balkon“. Anfang der 90er ein Bibliotheksexemplar mit viel Freude gelesen. Jetzt in einer Ramschkiste auf der Straße gefunden und mich nicht mehr erinnert, um was es ging. Darin findet sich die handschriftliche Widmung „Für Doro. Ein Nikolausbuch zusammen mit dem Kartengeheimnis und kurz nach Bulgakow geschenkt von Johannes in der Nacht vom 5. zum 6.12.1998.“ Ich kann nicht glauben, dass Doro und Johannes noch viel miteinander zu tun haben.
Wolfgang Herrndorf: „Stimmen“. Kleines, hübsches Buch, das ich in viel zu kleinen Schritten gelesen habe. Letztmalig am 4.8.2020
Wolfgang Herrndorf: „In Plüschgewittern“. Der Vollständigkeit halber gekauft. Noch nicht reingelesen.
James Joyce: „Ulysses“. Jährlicher Versuch, über die ersten 30 Seiten hinauszukommen, die ich jedem Buch zubillige. Meistens gebe ich müde auf. So auch in diesem Oktober.
Norman Fischer: „Unseren Platz einnehmen.“ Im Februar 2017 gekauft. Ich weiß nicht mehr, warum. Seitdem wandert es von einem Stapel auf den anderen.
Matthias Kopetzki: „Überleben im Darsteller-Dschungel“. Da darin auch ein Interview mit mir vorkommt, hatte ich vor, aus Höflichkeit auch die Beiträge einiger anderer Schauspieler zu lesen. Aber ich muss mir eingestehen – daraus wird wohl nichts mehr.
Stephen Kotkin „Magnetic Mountain. Stalinism as Civilisation“. Zuletzt im März 2020 bis zur Seite 100 gelesen. Kotkin hat hier noch nicht ganz den stilistischen Schwung, wie in seiner legendären Stalin-Biographie. Daher kann ich dieses großartige Buch über Magnitogorsk nur häppchenweise genießen.
Erika Fatland: „Die Grenze. Eine Reise um Russland“. Geburtstagsgeschenk von 2019. Bin neugierig, hab es aber noch nicht einmal angefangen.
„Konturen 155-1966. Ungarische Prosa“. Am 8. April eine Geschichte daraus gelesen. Davor das letzte Mal ca. 1987.
John Rewald: „Pissarro“ Bildband einer Ausstellung mit Gemälden meines Lieblingsmalers, den ich zur Hand nehme, wenn ich mich beruhigen will.“
Ryan Holiday: „The Daily Stoic“. Habe tatsächlich ein Jahr lang täglich zu diesem Buch meditiert und hatte vor, danach von vorn zu beginnen, dann aber Ende September aufgehört, ohne aufhören zu wollen.
Matthias Sutter: „Die Entdeckung der Geduld“. Muss ein Impulskauf gewesen sein.
Dirk Stermann: „Der Hammer“. Am 20. Juni 2020 begonnen und nicht weitergelesen. Weiß nicht warum. Es fing ja gut an.
Andrea Böhm: „Das Ende der westlichen Weltordnung. Eine Entdeckung auf vier Kontinenten“. Stand lange Zeit auf meiner Amazon-Merkliste, bis ich es dann endlich mal bestellt habe, weil dieser Kauf „erledigt werden musste“. Nur ist mir dieses Jahr eigentlich zu trübe, als dass ich mich auf noch mehr Welt-Kummer einlassen könnte.
Susanne Hake: „Selbstmarketing für Schüchterne“. Da ich auch Lampenfiebertraining und Moderation anbiete, hat es mich interessiert, wie andere an das Thema Schüchternheit herangehen, zumal mich Selbstmarketing ungeheuer nervt.
Silke Scheuermann: „Die Stunde zwischen Hund und Wolf“. Am 1. August 2020 angefangen. Dann weggelegt, obwohl es mir gefiel.
„Der Sprach-Brockhaus. Illustriertes Wörterbuch von 1948.“ Auf der Suche nach Illustrationen ungefähr im September weggelegt.
„Grammatik-Bildwörterbuch von 1935“. Auf der Suche nach Illustrationen ungefähr im September weggelegt.
Christian Thomas Müller: „Tausend Tage bei der AscheUnteroffiziere in der NVA“. Im Oktober 2020 beendet und zum Exzerpieren beiseitegelegt.
Alexander Puschkin: „Erzählungen und Anekdoten“. Dieses Jahr aus einer offenbar nie genutzten Lese-Ecke geklaut und bisher nur flüchtig darin herumgeblättert. Ich weiß aber, dass, wenn ich es jetzt ins Regal stelle, ich es nie wieder herausholen werde.
Warlam Schalamow: „Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma 1“. Noch nicht angefangen. Ich ertrage nur ein bestimmtes Maß an Stalinismus-Lektüre pro Jahr. Mit Bordihn, Kotkin und Yakhina Guzel habe ich für 2020 schon meine Portion gekaut.
Mark Galeotti: „The Vory. Russia’s Super Mafia“. Am 13. August 2018 das letzte Mal in der Hand gehabt. Sehr interessantes Buch zur Geschichte der Oberkriminellen in Russland, aber in seinem Ausmaß an Brutalität und Aussichtslosigkeit so bedrückend, dass ich darum einen großen Bogen mache wie um einen unangenehmen aber unausweichlichen Zahnarztbesuch.
Schwarzes Notizbuch einer Schülerin, die mal an einem Musik-Impro-Kurs bei mir teilgenommen hat. Ich habe wahrscheinlich schon zwanzig Personen angeschrieben, kann aber nicht herausfinden, wem es gehört. Wegen der Gedichte und kreativen Aufzeichnungen bringe ich es aber auch nicht übers Herz, es wegzuwerfen. Liedtexte einer Kabarettistin, die aber in keinem meiner Workshops war.
Elfriede Jelinek: „Ein Sportstück“ und „Macht nichts“. Zwei Dramen, die ich im Februar las und mit denen ich womöglich noch etwas vorhatte.
Drei Amerikaner, eine Österreicherin, zwei Schweden, zwei Engländer, ein Ire ein Franzose, zwei Russen, und lauter Deutsche.
Ich kenne drei der Autoren persönlich.
Mit zwei Personen habe ich vor langer Zeit in nicht-literarischen Zusammenhängen gesprochen. Ich glaube nicht, dass sie mich wiedererkennen würden.
Fünf Bücher haben mit Russland zu tun.
Ein Lyrikband.
Nicht dabei meine tatsächliche aktuelle Lektüre, die auf einem ganz anderen Stapel liegt:
Monika Maron: „Endmoräne“
Wolfram Eilenberger: „Zeit der Zauberer“
Ahmad ibn Fadlan / James E Montgomery: “Mission to the Volga”

Zögerlicher Abschied

Bräunlich-gelbe, welke Blätter
falln von der Kastanie ab.
Kann es sein, dass ich den Sommer
nicht recht mitbekommen hab?

Schwaches Mücklein setzt sich müde
auf den nackten Knöchel nieder.
Stechen will’s, doch kann’s nicht mehr.
Aber ich bin viel, viel müder.

Von den heißen Julitagen
bin ich immer noch benommen.
Jetzt ist’s aber auch mal gut.
Herbst, ich heiße dich willkommen.

Impro-Terror (5) – Partner lässt sich nicht verändern

Dagmar: „Möchtest du noch einen Pudding?“
Lars: „Danke. Schatz, ich muss dir etwas sagen.“
Dagmar: „Was denn?“
Lars: „Ich habe wieder angefangen zu zocken.“
Dagmar: „Im Glücksstern-Casino?“
Lars: „Ja, genau. Ich habe alles verspielt.“
Dagmar: „Na, das ist ja schade.“
Lars: „Schatz!! Ich habe gestern Abend unser komplettes Vermögen verzockt! Das Konto, das Auto, das Haus – alles!“
Dagmar: „Hm. Dann wirst du dir einen Zusatz-Job suchen müssen.“

Die Spielerin arbeitet zwar inhaltlich-konstruktiv mit: Sie fügt den Namen des Casinos hinzu und sie bietet an, wohin die Szene inhaltlich führen könnte (ein Zweit-Job für den Mann), aber sie lässt sich nicht emotional auf die Szene ein. Der Satz „Das ist ja schade“ akzeptiert das Angebot auf einer rein rationalen Ebene.
Lars verstärkt die Wucht seines Angebots sogar, indem er die Konsequenzen radikalisiert. Da die Partnerin aber auch an dieser Stelle emotional unbeteiligt bleibt, wird es nicht helfen, hier weiter nachzustochern. Vielmehr muss das Opfer dieser emotionalen Blockade sich selbst emotional verändern.

Dagmar: „Hm. Dann wirst du dir einen Zusatz-Job suchen müssen.“
Lars (nickt unterwürfig): „Ja, Schatz. Auf jeden Fall. Und… danke!“
Dagmar: „Danke? Wofür?“
Lars (zu Tränen gerührt): „Danke, dass du mir nicht böse bist, dass du Verständnis hast für meine Sucht, dass du mir hilfst, aus dieser Misere herauszukommen… Schatz, ich liebe dich so sehr…“

Impro-Terror (4) – Partner liefert keine Angebote

Ben: „Schatz, weißt du, wer eben am Telefon war? Der Makler!“
Paula: „Und? Was hat er gesagt?“
Ben: „Wir kriegen die Wohnung.“
Paula: „Super! Endlich eine Wohnung!“
Ben: „Lass uns gleich hinfahren.“
Paula: „Großartige Idee.“
Ben: „Ich muss dir noch was sagen: Der Vormieter hat sich in der Wohnung erhängt.“
Paula: „Oh nein! Wie schrecklich.“
Ben: „Ziehen wir trotzdem ein?“
Paula: „Wie du willst, Schatz.“

In diesem Beispiel akzeptiert Paula und reagiert angemessen emotional, aber auf Dauer könnte es für Ben schwierig werden, mit ihr zu improvisieren, da sie keinerlei inhaltliche Angebote liefert. Diese Form des Impro-Terrors kommt meist von sehr positiven und privat sehr umgänglichen Spielern. Sie sind im Grunde „zu höflich“ und wollen nicht riskieren, mit den eigenen Angeboten die Ideen ihrer Partner zu torpedieren. Die „Höflichkeit“ verdreht sich aber in ihr Gegenteil, da die Spielerin ihrem Partner die alleinige Definitions-Arbeit der Szene zuschiebt.
In solchen Situationen hilft es nur, sich in sein Schicksal zu fügen und eben zu akzeptieren, dass man nun selbst für den Inhalt zuständig ist. Allerdings wäre es zu weit gegriffen, zu glauben, man würde nun allein improvisieren. Der Partner ist ja immer noch da. Das heißt aber, dass ich auf kleinste emotionale Veränderungen groß reagieren muss, denn diese sind der Impuls für den weiteren inhaltlichen Verlauf.

Ben: „Ziehen wir trotzdem ein?“
Paula: „Wie du willst, Schatz.“
Ben: „Ich will! Und ich danke dir für deine Großzügigkeit. Na ja, es wird ja nicht gleich spuken wegen eines Selbstmörders.“
Paula: „Haha, nein bestimmt nicht.“

Impro-Terror (3) – Umgang mit Negativität

Negativität ist nicht dasselbe wie Blockieren, aber damit verwandt. Wer negativ ist, löscht zwar nicht die Ideen des Mitspielers aus, aber reagiert ablehnend auf diese Ideen oder auf den Mitspieler selbst. Sehen wir uns den Klassiker dazu an:

Natalie gräbt.
Arne kommt hinzu: „Was machen Sie hier? Sie dürfen hier nicht graben.“

Hier wird das erste physische Angebot (Graben) schon infrage gestellt, vermutlich, um die Szene „interessanter“ zu machen, in Wirklichkeit aber aus Angst, sich auf das Unbekannte, nämlich das Graben einzulassen.
Die Kunst besteht nun darin, sich nicht davon frustrieren zu lassen. Auch sollte man der Versuchung widerstehen, sich nun in eine Verhandlung oder einen Streit verwickeln zu lassen. Vielmehr sollte man mit dieser Ablehnung spielen. Und das funktioniert am besten, indem wir unseren Status senken.

Arne: „Was machen Sie hier? Sie dürfen hier nicht graben.“
Natalie: „Oh nein! Jetzt sehe ich es auch, da steht ja ein Graben-verboten-Schild. Muss ich jetzt eine Strafe zahlen?“
Arne (immer noch negativ): „Das könnte Ihnen so passen.“
Natalie: „Ins Gefängnis? Oh Gott, bitte nicht ins Gefängnis! Ich wollte doch hier nur ganz ausnahmsweise ein Grab für meinen Mann ausheben, den ich gestern vergiften musste.“

Impro-Terror (2) – Umgang mit Blockaden

Blockieren erscheint in zwei Formen. In der radikalen Variante wird die einmal auf der Bühne etablierte Realität verneint:

Nicole und Carl. Carl klingelt an der Tür. Nicole öffnet.
Nicole: „Hallo Papa! Hast du die Schlüssel vergessen?“
Carl: „Ich bin nicht Ihr Papa. Ich bin der Pizzabote und soll diese Pizza Calzone bei Ihnen abgeben.“

Diese radikale Form des Blockierens trifft man bei fortgeschrittenen Spielern nur selten an, aber auch Improspieler sind nur Menschen. So wie einem Profi-Fußballer ein ungewolltes Handspiel unterlaufen kann, so kann auch deinem Partner dieses Blockieren unterlaufen. Oder es ist vielleicht ein Angebot, das du nicht erkennst, weil es sich auf einen Teil der Geschichte bezieht, den ihr vor zehn Minuten improvisiert habt. Da es für die Szene völlig unproduktiv wäre, die Figuren sich streiten zu lassen, lautet die einfache Lösung: Dein Partner hat Recht.

Carl: „Ich bin nicht Ihr Papa. Ich bin der Pizzabote und soll diese Pizza Calzone bei Ihnen abgeben.“
Nicole: „Was? Können Sie mal bitte das Licht im Hausflur anmachen? Danke. Ist ja unglaublich, jetzt hätte ich Sie wirklich beinahe verwechselt. Wieviel bekommen Sie für die Pizza?“

In einer abgeschwächten Variante blockiert der Mitspieler die Handlungs-Vorschläge.

Olga: „Mein König, wenn die Hunnen unser Schloss angreifen wollen, müssen wir einen Verteidigungsgraben bauen.“
Jan: „Verteidigungsgraben? Papperlapapp! Wir dürfen keine Zeit verlieren. Positioniert alle Bogenschützen auf den Burgmauern!“

Die Impro-Szene würde stagnieren, wenn nun beide das Pro und Contra der einen oder anderen Variante abwägen. Wenn dein Vorschlag abgelehnt wurde, umarme den Vorschlag des anderen. Das Angebot des Gegenübers ist genial.

Olga: „Bogenschützen! Natürlich! Warum bin ich nicht selber darauf gekommen. Mein König, ich werde sämtliche Bogenschützen sofort auf ihre Position stellen.“

Es könnte allerdings auch sein, dass dieser Widerspruch ein inhaltliches Angebot ist, das später noch einmal in die Story einfließen wird, zum Beispiel indem die Bogenschützen das Schloss nicht verteidigen können und der Verteidigungsgraben eben doch die bessere Option gewesen wäre. (Eine solche Option sollte aber nicht dem Mitspieler aufgezwungen werden, sondern sollte möglichst von ihm selber kommen bzw. sich aus der Szene heraus ergeben.)
Das habherzige Blockieren taucht manchmal auch in Form der Kein-Bock-Haltung auf.

Carsten: „Guck mal, Schatz, ich habe Karten fürs Musical mitgebracht!“
Tina: „Oh nein, ich hab heut ganz schlimme Kopfschmerzen.“

Kopfschmerzen oder ähnliche Beeinträchtigungen werden oft dann ins Spiel eingeführt, wenn Spieler Angst davor haben, sich inhaltlich zu engagieren. Umso großzügiger musst du mit deinem Gegenüber umgehen. Reagiere groß! Und mache die Ablehnung möglichst liebevoll zum Thema.

Carsten: „Was?? Die Kopfschmerzen sind wieder da? (wählt eine Nummer auf dem Telefon) Bitte ein Krankenwagen in die Plesserstraße 12. Ja, es ist dringend! (wieder zu Tina) Bitte, atme ganz ruhig. Stirb jetzt bitte nicht!“

Impro-Terror (1) Impro-Terror und Leichtigkeit

Wir wissen, dass man in einer Szene die Angebote der Mitspieler akzeptieren und Eigenes hinzufügen sollte, dass es der Szene gut tut, wenn man den Mitspielern aufmerksam zuhört, dass man sich verändern möge usw. Allerdings wird uns die Umsetzung dieser Grundsätze nicht immer so gelingen, wie es uns unsere hehren Impro-Ideale gebieten. Es wird vielleicht szenische Momente geben, in denen wir von den eigenen Ideen so begeistert sind, dass wir das subtile Angebot des Mitspielers verpassen. Vielleicht sind wir mal vom Verlauf einer Szene dermaßen verwirrt, dass wir innerlich aufgeben und uninspiriert weiterspielen. Vielleicht haben wir auch einfach einen schlechten Tag und sind daher unaufmerksam. Oder wir sind irgendwann so sehr an eine bestimmte Art des Improvisierens gewöhnt, dass wir innerlich erstarren, wenn uns Ungewohntes angeboten wird. Wir werden lernen müssen, damit zu leben, dass wir nicht jederzeit auf gleich hohem Niveau improvisieren können, dass wir Rückschläge erleiden und glauben, nicht voranzukommen.
Die große Herausforderung besteht darin, diese Unvollkommenheit auch unseren Mitspielern zuzugestehen. Stellen wir uns folgende Impro-Situation vor.

Ihr improvisiert gerade eine wunderschöne, zarte Liebes-Szene zu zweit und plötzlich kommt der dritte Mitspieler hereingeplauzt und ruft mit „witziger“ Stimme: „Wackelpudding gratis! Lasst uns alle Spaß mit Wackelpudding haben!“


Nun hilft es nicht, zu versuchen, unsere zarte Szene gegen den scheinbar trampligen Spieler durchsetzen zu wollen oder in Frust, Gram oder Ärger zu verfallen. Wir können nur eines: Improvisieren!
Selbst wenn wir uns über Jahre bemühen, uns als Team aufeinander einzuspielen, müssen wir immer noch improvisieren, das heißt, die seltsamen Angebote unserer Mitspieler wie Gold wertschätzen und unsere Mitspieler wie Genies behandeln.
Um beim szenischen Beispiel zu bleiben: Wir müssen herausfinden, was das Spiel-An¬ge-bot unseres Mitspielers ist: Was steckt hinter dem Wackelpudding? Gewiss – unsere Szene war eine ergreifende Liebes-Szene. Aber heißt das, dass unsere Story ein Liebes-Melodram sein muss? Oder ist die Szene vielleicht nur ein Anfang für eine Liebeskomödie? Bietet unser Mitspieler uns hier einfach einen Clash der Erwartungen an? Oder ist er schon in einer neuen Szene? Das lässt sich natürlich nur in der Situation entscheiden. Und auch mit unserer Einschätzung können wir falschliegen. Aber unsere Aufgabe als Impro-Spieler ist es, alles als Spiel-Angebot aufzufassen und uns freudig ins Spiel zu stürzen.
Als fortgeschrittene Spieler haben wir die Grundlagen natürlich seit Jahren internalisiert, aber es gilt, diese immer wieder auf das nächste Niveau zu heben. Und das Akzeptieren im allerweitesten Sinne steht hier auf Platz Eins der Impro-Tugenden.
Bei Foxy Freestyle spielen wir von Zeit zu Zeit Open-Stage-Shows – mit erfahrenen Spielern, mit Profis, aber auch mit blutigen Anfängern und Leuten, die noch nie auf einer Theaterbühne standen. Auf diese Shows bereiten wir uns mit einem Spiel namens „Impro-Terror“ vor: Ein Spieler fokussiert auf eine Impro-Sünde (Z.B. Blockieren, Nörgeln oder Unterbrechen), während der andere Spieler die Aufgabe hat, eine gute Szene daraus zu zaubern. Wenn man ein paar Mal Impro-Terror gespielt hat, wird man bald herausfinden, dass es nichts bringt, zu versuchen, den anderen Spieler bzw. seine Figur zu ändern (etwa sie für ihre Nörgelei zu kritisieren). Vielmehr muss man alles, was der Andere tut, wie ein geniales Geschenk annehmen. Diese Großzügigkeit, die man einem Anfänger gewährt, sollte man aber auch den Mitspielern des eigenen Teams entgegenbringen. Wenn uns das gelingt, erreichen wir gemeinsam eine neue Leichtigkeit. Wir können nicht wissen, ob und wie unser Spiel unseren Mitspieler während der Szene verändern beeinflusst. Aber wir können uns von ihm beeinflussen lassen und mit ihm spielen.

Morgen sind wir frei

Kommunistischer Iraner nimmt Frau und Kind nach der Revolution mit in den Iran, voller Hoffnung, der Ausgang der Revolution sei offen. Am Ende gelingt es ihr gerade so, mit der Tochter zu fliehen, während der Mann inhaftiert und später im Gefängnis von den Revolutionsgarden ermordet wird.
Die große Stärke des Films ist Katrin Röver, die die Mutter spielt – ein ausgeglichener positiver Character. Dass man weder das alte Ostberlin noch das alte Teheran einfangen kann, führt zu einem Studio-Minimalismus des Films, der aber nicht einmal stören müsste. Die wenigen Außendrehs für die Iran-Szenen wurden in Spanien produziert. Für die Demonstrations-Szenen griff man auf Fernsehbilder zurück. Auch das könnte ein raffinierter Kunstgriff sein.
Aber der Film hat ein paar große Probleme: Erstens bleibt Vieles schablonenhaft und unspezifisch. Die hölzernen Dialoge gehen selten über das hinaus, was man ohnehin schon sieht. Die iranische Zeitung hat keinen Namen, die Schule der Tochter auch nicht, Stadtteile bleiben unbenannt, man weiß nicht, auf welchem Gebiet die Chemikerin überhaupt tätig ist. Irgendwann wird mal Zink in einem Reagenzglas aufgelöst, damit man sieht, dass hier wirklich chemisch gewerkelt wird. Nicht einmal der Name der iranischen Kommunistischen Partei (Tudeh) wird erwähnt. Zweitens: Fast alle Details des Films sind plot-orientiert, wenige nur erzählerisch. Wir sollen glauben, dass das Puppenhaus der Tochter ein wertvolles Geschenk sei, aber es bleibt uneingerichtet, noch gibt es Puppen darin. Am Ende hat es nur dazu gedient, Dokumente zu verstecken. Wie so vieles im Film dient das Detail dem Zweck, ohne dass ihm Gelegenheit gegeben wird, Poesie zu enfalten. Und da, wo sich die Poesie entfalten soll, wird sie gleich wieder zerstört. Das Paar badet (noch in Ostdeutschland) nackt im See. Später im Zelt schenkt er ihr eine Platte des Konzertes, bei dem sie sich kennengelernt haben. Wieder bleibt unerwähnt, was für Musik das war. Nicht dass das für den Plot eine Rolle spielt, aber für den poetischen Überschuss. Drittens versalzen einem die historischen Fehler bzw. Plattheiten gehörig den Genuss. Gleich zu Beginn läuft die Tochter zuhause in kompletter Pionierkleidung herum. Ja, für einen halben Nachmittag ist mir das als Kind auch ein oder zwei Mal passiert, aus reiner Faulheit, mich umzuziehen. Aber einen ganzen Abend lang? Selbst in einem stramm kommunistischen Elternhaus wäre das kaum denkbar (und dabei werden die Eltern durchaus als DDR-kritisch gezeigt). Ich behaupte, dass der Autor/Regisseur Pourseifi dafür nicht einmal hätte recherchieren müssen, sondern nur ein bisschen genauer überlegen. Die Schallplatte, die Omid seiner Frau im Zelt überreicht, hat kein Cover. Wer soll das glauben? Den Vogel schießt Pourseifi aber in einer der letzten Szene ab, als Beate und Omid sich am Teheraner Flughafen voneinander verabschieden. Die beiden küssen sich – wie als Reminiszenz auf die intime Szene am See – inniglich auf den Mund. Das ist zu jener Zeit, als Frauen und Männer verschiedene Ausgänge am Teheraner Flughafen benutzen mussten und jede Berührung zwischen Männern und Frauen in der Öffentlichkeit zumindest unter Verdacht steht, wenn nicht gar illegal ist, völlig unglaubwürdig. (Die älteren iranischen Zuschauer stöhnten bei dieser Szene voller Unbehagen auf.) Darüberhinaus verschenkt der Regisseur genau das Potential, das darin gelegen hätte, die beiden in einer Mikro-Berührung zu zeigen, eben weil wir wissen, welche Innigkeit die beiden eigentlich miteinander verbindet. Die Geschichte hätte ein größeres Budget nicht unbedingt nötig gehabt. Eine sensiblere Hand beim Inszenieren aber gewiss.

Handlungsroutinen brechen

Die Handlungsroutine ist die Normalität der Szene. Diese Normalität wird nicht dadurch gebrochen, dass wir etwas Neues beginnen, sondern dadurch, dass wir emotional auf eine Information oder ein Ereignis reagieren. Diese Reaktion kann dazu führen, dass wir die Handlung unterbrechen, aber die elegantere Option besteht oft darin, die Handlung verändert weiterzuführen.

Improvisationstheater. Band 9: Impro-Shows

Der neue Band der Reihe „Improvisationstheater“ ist auf dem Markt. Kauft es bei der Buchhändlerin eures Vertrauens oder, wenn ihr dem Autor einen Gefallen tun wollt, direkt in unserem Online-Shop:

Statt einer Zusammenfassung, hier das detaillierte Inhaltsverzeichnis:

1 SHOW-AUFBAU
1.1 Zweistündige Show mit Pause
1.1.1 Games, Szenen, Mini-Storys – Die energetische Kurzform-Show
1.1.2 Games plus Langform
1.1.3 Zwei Langformen
1.1.4 Eine Langform über zwei Hälften
1.2 Einstündige Shows
1.3 Impro-Marathons
1.4 Kurz-Auftritte
1.5 Konventionen einer Impro-Show
1.5.1 Sensation oder Selbstverständlichkeit?
1.5.2 Moderation und Animation
1.5.3 Einzählen
1.5.4 Selbstpräsentation
1.6 Das Drumherum und Zwischendrin
1.6.1 Einlass- und Intro-Musik
1.6.2 Vorspiel/Teaser
1.6.3 Warm-Up-Nischen/Slots

2 MODERATION
2.1 Es geht um die Show
2.2 Liebe dein Publikum
2.3 Bühnenpräsenz
2.3.1 Ankommen
2.3.2 Kontakt zum Publikum
2.3.3 Arme und Hände
2.3.4 Rede
2.3.5 Charme und Verbundenheit
2.3.6 Sich aufs Publikum einstellen
2.4 Die Anmoderation
2.4.1 Begrüßung
2.4.2 Warm Up
2.4.3 Aufwärm-Spiele
2.4.4 Erklärung der Show oder des Formats
2.5 Nach Vorschlägen und Vorgaben fragen
2.5.1 Kollektives Einrufen
2.5.2 Persönlich Fragen
2.5.3 Die Zuschauer sollen sich melden
2.6 Abkühlen
2.7 Abmoderation
2.8 Moderationen zu zweit oder als Gruppe

3 SHOW-FORMATE
3.1 Theatersport – Der Klassiker
3.1.1 Show in der Show – Das aufgefangene Scheitern
3.1.2 Ablauf
3.1.3 Impro- und Schauspieltugenden auf dem Prüfstand
3.1.4 Freude, Spaß, Zirkus, heiße Luft
3.1.5 Gewinnen wollen, ohne gewinnen zu wollen
3.1.6 Lizenz für Theatersport
3.2 Maestro – Erster unter Gleichen
3.2.1 Ablauf
3.2.2 Herausforderungen an Show und Spieler
3.2.3 Varianten
3.3 Impro-Shows für Kinder – Interaktion total
3.4 Dunkeltheater
3.5 Konversations-Impro
3.5.1 Zwei Typen. Das Beispiel „Bassprov“
3.5.2 Wahre Dialoge. Das Beispiel „Chaussee der Enthusiasten“
3.6 Open Stage – Die offene Bühne
3.6.1 Grundsätzliches
3.6.2 Besondere Spielweise bei der Open Stage
3.7 Improtheater im öffentlichen Raum
3.7.1 Flashmobs
3.7.2 Improvisiertes Straßentheater
3.7.3 Walking Acts
3.7.4 Das Theater der Unterdrückten und seine Verwandten
3.8 Playbacktheater

4 DAS PUBLIKUM
4.1 Haltung zum Publikum
4.1.1 Resonanz beim Publikum!
4.1.2 Was will das Publikum?
4.2 „Glotzt nicht so romantisch!“
4.3 Vorschläge und Vorgaben
4.3.1 Brauchen wir überhaupt Vorschläge?
4.3.2 Nach Vorschlägen fragen
4.3.3 Alternative Möglichkeiten, Vorschläge einzuholen
4.3.4 Dildo, Puff und Bahnhofsklo – Vorschläge annehmen oder ablehnen
4.3.5 Umsetzen von Vorschlägen
4.4 Zuschauer in die Szene einbauen
4.4.1 Freiwilligkeit und Anstupsbarkeit
4.4.2 Umgang mit Zuschauern auf der Bühne
4.4.3 Einbindung des Gesamtpublikums ins Stück oder die Szene
4.5 Feedback vom Publikum
4.5.1 Einordnung des Feedbacks
4.5.2 Zuschauer-Primat des Entertainment
4.5.3 Produktives Aufnehmen von Zuschauer-Feedback
4.5.4 Mündliches Feedback – Sag einfach Danke!
4.5.5 Feedback von Technikern und Musikern
4.6 „Schwierige“ Zuschauer
4.7 Auf Dauer hat man das Publikum, das man verdient
4.8 Das Lachen des Publikums… und das Räuspern
4.9 Zugabe! Zugabe!
4.9.1 Zugabe? Wozu?
4.9.2 Gute und schlechte Zugaben
4.9.3 Zugabe herbeiprovozieren – oder verhindern

5 BÜHNENVERHALTEN
5.1 Freundlichkeit
5.2 Fähigkeiten nutzen
5.3 Einander glänzen lassen
5.4 Männer und Frauen
5.4.1 Tipps für Frauen
5.4.2 Tips für Männer
5.4.3 Sexismen auf der Bühne

6 BACKSTAGE
6.1 Vor der Show
6.1.1 Geplauder
6.1.2 Vorbesprechung der Show
6.1.3 Technische Vorbereitungen
6.1.4 Persönliche Vorbereitungen
6.1.5 Gruppen-Aufwärmen
6.1.6 Unmittelbar vor der Show
6.2 In der Pause
6.3 Nach der Show ist vor der Show

7 INTERNES SHOW-FEEDBACK
7.1 Das ideale Feedback
7.2 Feedback-Grundregeln
7.3 Feedbacks unmittelbar nach der Show
7.4 Spezialfall der großen Gruppe
7.5 Spezialfall Duo

8 ZUBEHÖR
8.1 Kostüme
8.2 Masken und Perücken
8.3 Bühnenbild und Bühnen-Elemente
8.3.1 Fixes Bühnenbild
8.3.2 Flexible Bühnen-Elemente
8.3.3 Reduzierte Varianten
8.4 Requisiten
8.5 Technik
8.5.1 Bühne
8.5.2 Beleuchtung
8.5.3 Sound
8.5.4 Projektionen, Streaming, Multimedia

9 GEBUCHTE SHOWS
9.1 Auf Rahmenbedingungen achten
9.1.1 Bühne
9.1.2 Essen und Trinken
9.1.3 Dauer
9.2 Veranstaltungs-Typologie bei gebuchten Shows
9.2.1 Betriebs-Veranstaltungen
9.2.2 Kreuzfahrten
9.2.3 Kommunale Veranstaltungen
9.2.4 Hochzeiten und Geburtstagsfeiern
9.2.5 Benefiz-Shows
9.3 Showaufbau und -inhalte
9.3.1 Vorabsprachen und Anwesenheit auf Konferenzen
9.3.2 Inhalte
9.3.3 Showaufbau
9.4 Verhandlungen und Verträge
9.4.1 Du bist Berater
9.4.2 Mündlichkeit und Schriftlichkeit
9.4.3 Kennt euren Mindestpreis
9.4.4 Gagenhöhe
9.4.5 Nicht unter Wert verkaufen
9.4.6 Budget abchecken
9.4.7 Kalkulationskriterien
9.4.8 Wo kann man wieviel Geld erwarten?
9.4.9 Wie man mit unanständigen Anfragen umgeht
9.4.10 Der Vertrag

Vorschläge oder Fragen personalisieren

(Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Mitte September erscheinenden Buch „Improvisationstheater. Band 9: Impro-Shows“.)
Wenn wir die Zuschauer nach Vorschlägen fragen, wollen wir natürlich am liebsten Dinge hören, die wir vorher noch nicht zu hören bekamen, die unsere Assoziationskanäle öffnen, kurz – die uns inspirieren!
Stattdessen hört man aber im Improtheater immer wieder dieselben Fragen und dieselben Vorschläge.
„An welchem Ort soll die Szene spielen?“ – „Paris!“
„In welcher Beziehung stehen diese beiden Personen zueinander?“ – „Geschwister!“
„Nennen Sie mir einen Beruf!“ – „Klempner!“
Vorschläge dieser Art werden eingerufen, wenn

  • die Zuschauer dazu aufgefordert werden, rasch das zu sagen, was ihnen als erstes durch den Kopf geht und
  • die Fragen so wie in den Beispielen oben gestellt werden.

Vorschläge wie Paris und Klempner sind im Grunde Prototypen für das, was wir erfragen. Paris ist einfach der Ort, der den meisten Menschen als hoch assoziative Stadt als erstes einfällt (und ist übrigens auch im englischen Sprachraum die geographische Ortsvorgabe Nummer Eins).
Fragt man nach „Berufen“, hört man als Antwort fast immer Handwerksbezeichnungen. Auch wenn es inzwischen in Deutschland wahrscheinlich wesentlich mehr Informatiker als Klempner gibt, hängen die alten Berufsbezeichnungen tief in unserem kollektiven Bewusstsein fest.
Die regelmäßige Antwort „Geschwister“ erklärt sich dadurch, dass zwei Schauspieler, die mit der gleichen Haltung auf der Bühne stehen, eine Art Ähnlichkeit suggerieren, wie man sie eben von Geschwistern kennt. (Oft hört man auch „Zwillinge!“)
Wie lösen wir nun dieses Problem? Da wir die Zuschauer nicht ewig grübeln lassen wollen und auch keine ausgesprochen „originellen“ Vorschläge brauchen, hilft es nichts, ihnen zu sagen, sie sollen uns mit etwas „besonders Schönem“ inspirieren. Vielmehr sollten wir uns vorher selbst fragen: Was wollen wir wirklich vom Publikum hören? Was inspiriert uns?
Wenn wir uns darüber vor der Show Gedanken machen, werden wir kennen, dass uns Städtenamen in der Regel nichts bringen, da wir ja meistens einen Schauplatz für die Szene brauchen. (Improvisierer, die „Paris“ hören, führen die Fragerei oft auf ähnlich Art weiter: „Und wo in Paris?“ Dass hier in 99% der Fälle die Antwort „Eiffelturm“ lautet, dürfte klar sein. Und es vergeht kein Tag, an dem nicht auf irgendeiner Impro-Bühne dieses Planeten eine Szene mit zwei Touristen am Eiffelturm gespielt wird.) Die einfachste Lösung besteht also darin, genau das zu fragen: „An was für einem Schauplatz soll diese Szene spielen?“
Wenn man die berufliche Tätigkeit einer Figur erfragen will, hilft es, sich die Realität zunutze zu machen: Man kann die Zuschauer nach ihrer Tätigkeit fragen. Aber auch das kann einengen: Erstens scheuen sich manche Zuschauer, ihre berufliche Tätigkeit oder ihre Studienrichtung zu nennen, und zweitens kann es einengen, wenn das Publikum eher homogen ist. Um dieses Dilemma zu umgehen, hilft es, bei Vorschlägen, die eine Figur ausstatten sollen, einen kleinen Umweg zu nehmen. Man fordert das Publikum kollektiv auf: „Denken Sie an eine Freundin oder einen Verwandten.“ Nachdem man zwei Sekunden gewartet hat, kann man verschiedene Zuschauer einzeln fragen:
Wie heißt Ihre Person mit Vornamen?
Und Ihre mit Nachnamen?
Wie alt ist die Person, an die Sie gedacht haben?
Was arbeitet, lernt oder studiert sie?
Was macht sie liebenswert?
Ist sie liiert?
Hat sie Kinder?
usw.
Eventuelle Ungereimtheiten lassen sich ausgleichen. Wenn die Person 52 Jahre alt ist und die nächste Zuschauerin antwortet: „Meine Freundin studiert Veterinärmedizin“, dann ist unsere Figur eben schon Veterinärmedizinerin.
Die Frage nach Schauplätzen lässt sich auf ähnliche Weise personalisieren:

  • Wenn Sie an Ihre Kindheit denken: An welchem Ort in ihrer Stadt hielten Sie sich gerne auf?
  • Wo lesen Sie gern?
  • Wo haben Sie sich als Kind gern allein aufgehalten?

Ebenso für Gegenstände:

  • Was liegt auf Ihrem Schreibtisch, was dort eigentlich nicht hingehört?
  • Haben Sie in der letzten Zeit etwas bei Ebay verkauft?

Für Szenen-Titel:

  • Wie heißt der Titel des Liedes, das sie als letztes auf ihrem Musik-Player gehört haben?

Für Dialogzeilen:

  • Hat jemand einen Roman dabei? Schlagen Sie eine zufällige Seite des Buchs auf und lesen Sie den ersten Satz in wörtlicher Rede laut vor.

Die Vorschläge, die man auf diese Weise erhält, wirken plastischer und weniger „ausgedacht“.
Bleibt zu klären: Wie gehen wir mit dem Problem um, dass wir für „Beziehung zwischen zwei Personen“ häufig „Geschwister“ hören? Auch das können wir personalisieren: „Denken Sie bitte an eine Person, die Sie persönlich kennen. (kurze Pause) In welcher Beziehung stehen sie zu ihr?“

Brauchen wir überhaupt Vorschläge und Vorgaben aus dem Publikum?

(Der folgende Text ist ein Auszug aus dem Mitte September erscheinenden Buch „Improvisationstheater. Band 9: Impro-Shows“.)

Momentan nutzen sicherlich 99 Prozent aller Improtheatergruppen Vorgaben und Vorschläge  aus dem Publikum. Interessanterweise sprechen sich aber einige führende Impro-Lehrer und -Schauspieler gegen die Verwendung von Publikumsvorschlägen aus. Keith Johnstone etwa ist der Meinung, dass das Publikum, wenn man es fragt, generell lustiger sein will als die Schauspieler und dann alberne, teilweise demütigende Vorschläge einruft.  Ebenso wie Johnstone glauben auch TJ & Dave, dass Publikumsvorschläge die Spieler von dem ablenken würden, was gerade in diesem Moment passiert.  Die Arbeit des Impro-Spielers würde dazu degradiert, Vorgaben „abzuarbeiten“.
Auf der anderen Seite stehen jene, die glauben, ohne Vorschläge zu spielen, sei Betrug am Publikum, oder zumindest offenbare man damit eine gewisse Arroganz. Das Aufgreifen des Publikums-Vorschlags sei die beste Art, eine Verbindung zu den Zuschauern herzustellen.
Ich glaube, dass beide Seiten zwar richtige Argumente vortragen, aber dass keine Seite in ihrer Absolutheit Recht hat.

Warum man es dem Publikum zumuten kann, ohne Vorschläge zu spielen
Improvisation entsteht aus dem Moment heraus. Und wenn wir diesen Moment erfassen, den Moment des Spiels, den Impuls der gemeinsamen Kreativität, wenn wir ungehinderten Zugriff auf unsere Assoziationskanäle zulassen und uns von unseren Partnern und unseren eigenen Gedanken überraschen lassen, dann brauchen wir tatsächlich keine Vorschläge aus dem Publikum, um improvisieren zu können. Um das klar zu sehen, brauchen wir nur einen Blick auf die improvisierte Musik zu werfen: Zwar finden sich auch dort inzwischen Musiker, die sich von Vorschlägen des Publikums inspirieren lassen, aber die große Stilrichtung der Impro-Musik des 20. Jahrhunderts, nämlich der Jazz, kommt ohne Publikumsvorgaben aus.
Manche Impro-Spieler wenden ein, erst die Vorgaben würden „beweisen“, dass wir wirklich improvisieren. Das tun sie aber nicht. Zuschauer werden gerade wenn man das betont, skeptisch und suchen dann (ähnlich wie bei Zauberkunststücken) nach den „Tricks“. Die Skeptiker im Publikum überzeugt man am besten dadurch, dass man die Improvisation weniger als Sensation hervorhebt, sondern den Fokus mehr auf den Prozess des Improvisierens bzw. auf die Inhalte lenkt. Unter Umständen muss man sich auch damit abfinden, dass es immer eine Handvoll Skeptiker geben wird.

Nachdem wir mit Foxy Freestyle ein komplettes Stück ohne Unterbrechung anhand von wenigen Publikumsvorgaben im Stil von Tennessee Williams improvisierten, lasen wir anschließend in einem Online-Kommentar zu unserer Show: „Das war ein außergewöhnlich schönes Stück, aber leider nicht improvisiert. Denn wenn das improvisiert gewesen wäre, müssten ja die Schauspieler Genies sein.“

Bei aller unbeabsichtigter Schmeichelei wurde mir hier klar: Wir werden Zuschauer wie diesen nicht überzeugen können, es sei denn, wir appellieren vor solchen Shows kurz an ihr Vertrauen oder wir arbeiten als Impro-Community hart und langfristig daran, das Vertrauen des Publikums in die Improvisation herzustellen. Aber eine Impro-Gruppe kann sich ihr Publikum „erziehen“ kann, wenn sie hartnäckig und mit hoher Qualität Improvisationstheater bietet, das ohne Vorschläge auskommt.
Zum Argument, nur durch Vorschläge könne eine wahre Verbindung zum Publikum hergestellt werden, ist anzumerken: In der Tat schlagen die eingebauten Vorgaben und inspirierenden Vorschläge eine Brücke zum Publikum, aber eben nicht die einzige. Man frage sich selbst: Was begeistert mich als Zuschauer mehr – eine runde, elegante Szene, in der der Flow der Spieler sichtbar wurde? Oder die schiere Tatsache, dass eine Handvoll Vorschläge eingebaut wurden? Die Freude der wenigen Zuschauer, von denen diese Vorschläge kamen, ist nicht zu unterschätzen. Aber die Freude des restlichen Publikums, die Umsetzung eines fremden Vorschlags zu sehen, darf man auch nicht überschätzen.

Was für die Verwendung von Publikums-Vorschlägen spricht
Vorschläge führen uns aus der Komfortzone.
Wenn man viele Jahre improvisiert, stellen sich unweigerlich Muster ein – man etabliert ähnliche Handlungen in ähnlichen Konstellationen an ähnlichen Orten mit ähnlichen Konflikten. Vorschläge aus dem Publikum können einen im positiven Sinne irritieren und zwingen, sich mit neuen Situationen auseinanderzusetzen. (Das setzt eine kluge Fragetechnik voraus, damit nicht immer dieselben Vorschläge zu hören sind.) Die Auseinandersetzung mit neuem Material zwingt uns Improvisierer zu neuen Lösungen und hält das Spiel auf der Bühne frisch.
Zeitersparnis in Kurzformen
In einer Szene, die nur wenige Minuten dauern soll, spart man Zeit, da nicht sämtliche Plattform-Elemente  nach und nach gemeinsam etabliert werden müssen. Wenn man schon weiß, dass wir Mutter und Vater sind, die im Garten den Kindergeburtstag vorbereiten, können wir sofort zum Kern der Szene kommen.
Verbindung zum Publikum
Die Verbindung zum Publikum wird verstärkt, wenn die Vorschläge aufgenommen und kreativ verarbeitet werden. Wir improvisieren dann nicht mehr nur für das Publikum, sondern auch mit dem Publikum. Die Verbindung wird noch intensiver, wenn es um mehr als „Vorgaben“ geht. Denn wenn wir das Publikum nach Vorgaben fragen, wird es versuchen, „originell“ zu antworten. (In mit Vorgaben vollgestopften Szenen sieht man dann „Eine Oper, in der ein Yeti in der Sauna von einem Pinguin rasiert wird“.) Das kann zwar im Einzelfall mal ganz witzig sein, bleibt aber letztlich belanglos. Vorschläge, die auf das Persönliche zielen, haben das Potential, die Storys emotionaler werden zu lassen, da sie dem einzelnen Zuschauer mehr bedeuten und das gesamte Publikum weiß, dass das so ist. Die Vorschläge schlingen also ein einmaliges Band um Publikum und Improvisierer. Es ist, als sei man eine verschworene Gemeinschaft, die ein geheimes Spiel spielt.

„Glotzt nicht so romantisch!“

Im Jahr 1922 ließ der junge Dramatiker Bertold Brecht bei der Premiere seines Stückes „Trommeln in der Nacht“ Spruchbänder mit der Aufschrift „Glotzt nicht so romantisch!“ aufhängen. Ein direkter Angriff auf die Sehgewohnheiten des Publikums, dass sich an klassischen, naturalistischen oder romantischen Dramen delektierte. Der Zuschauer sollte nicht glotzen, sondern eine Position beziehen. Nun hat das moderne Theaterpublikum schon eine Menge Revolutionen miterlebt, Performances, absurdes Theater, Einsatz von Flüssigkeiten, politische Provokationen und eben auch Improvisation. Aber wann gestattet sich Improtheater, das Publikum echt zu provozieren und es aus seinen inzwischen auch oft verfestigten Impro-Sehgewohnheiten zu wachzurütteln?
Man kann sich natürlich auch immer fragen, welchen Sinn die Provokation haben soll. So wäre es wohl ziemlich sinnlos, das Publikum aus dem Nichts heraus zu beschimpfen. Aber manchmal muss man sich von der allzu kuscheligen Nähe mit den Zuschauern verabschieden. Das heißt nicht, dass man das Publikum nicht trotzdem lieben sollte. Aber genau wie in einer Liebesbeziehung sollte man nicht klammern.

(Dies ist ein Auszug aus dem im Juni erscheinenden Buch Improvisationstheater. Band 9: Impro-Shows)

Konflikte in Impro-Gruppen (3) – „Schwierige“ Spieler

Als Live-Künstler betreten wir einen Bereich, in dem wir unseren kreativen Prozess öffentlich machen (etwa im Gegensatz zum Schriftsteller oder Maler). Um im Improtheater wirklich frei spielen zu können, müssen wir uns öffnen und verletzbar machen. Das heißt aber auch, dass wir angreifbar sind. Manche Notwendigkeiten, etwa dass man fürs Warm Up vor der Show möglichst ungestört bleiben möchte, sind für Außenstehende nicht nachvollziehbar und erscheinen dann als Marotten. Aber tatsächlich gibt es auch Spieler, die ihre Nervosität und ihr unausbalanciertes Ego ins Schrullige treiben. Angst sucht sich wie Wasser stets seinen Weg: Einige neigen zur Überkontrolle und Dominanz, andere zu Rückzug und Unzuverlässigkeit.
Nun ist es zwar sinnvoll, sich als Gruppe auf ein paar Grundsätze des Miteinanders zu verständigen, zum Beispiel in Bezug auf Zuverlässigkeit und Kommunikationsweise. Aber manchen Spielern gelingt es nicht oder nur schwer, sich diesen Regeln anzupassen. Manchmal spielen psychische Vorbelastungen oder Krankheiten eine Rolle. Als Gruppe muss man sich dann wohl ganz nüchtern fragen: Können wir mit diesem Menschen weiterarbeiten? Sind wir bereit, die Unwägbarkeiten, die mit diesem Verhalten verbunden sind, in Kauf zu nehmen oder ist es nötig, einen Schlussstrich zu ziehen?
Man kann hier für den Umgang mit solch unberechenbaren Spielern keine allgemeinen Regeln aufstellen. Am Ende muss es die Gruppe entscheiden. Die „Schwierigen“ bringen nicht selten, vielleicht gerade durch ein gewisses Übermaß an Sensibilität den nötigen Schuss Wahnsinn in die Gruppe.

Der im Jahr 2007 verstorbene Improvisations-Künstler Michael Stein war über viele Jahre Mitglied der Berliner Lese- und Kleinkunstbühnen Reformbühne Heim und Welt und Surfpoeten. Er war der unzuverlässigste Kollege, den man sich vorstellen konnte. Wenn er keine Zeit hatte, sagte er nicht ab. Wenn er keine Lust hatte, kam er nicht zu den Vorstellungen. Er stand immer wieder mit einem Bein im Gefängnis. Er provozierte das Publikum und die Betreiber der Spielorte. Seine Improvisationen lappten ins politisch Bedenkliche. Und er überzog gnadenlos die Zeit mit seinen Beiträgen. Dennoch hielten seine Kollegen zu ihm, denn sie wussten, was sie an ihm hatten: Einen Stachel in der Seite, der sie stets neu herausforderte. Einen Künstler, der sie inspirierte. Einen Improvisierer, der die Routinen brach und die Gruppe lebendig hielt.

Es mag hart klingen, aber um dieses Abwägen kommt man nicht herum. Zwei Werte stehen einander gegenüber: Die Loyalität gegenüber dem extravaganten Mitglied und die Integrität der Gruppe.
(…)
Man frage sich: Gefährden wir durch die Loyalität und Nachgiebigkeit gegenüber einem Mitglied die ganze Gruppe? Wenn dieser Punkt erreicht ist, hilft nur, eine klare und klar kommunizierte Grenze zu ziehen. Legt die Bedingungen für eine Mitgliedschaft klar und deutlich fest. Welche Frist setzt ihr für welches Verhalten? Und natürlich gelten die Regeln für alle. So kann man nicht von einem notorischen Zuspätkommer ab sofort strikte Pünktlichkeit fordern, wenn man sich selber nicht dran hält. Man kann nicht vom Alkoholiker fordern, nüchtern auf die Bühne zu gehen, wenn man sich ab und zu selber ein Glas Sekt vorher genehmigt.

Intrigieren und Lästern
Vom Lästern ist es nicht weit zur Intrige, die nicht einmal bewusst als Intrige gesponnen sein muss. Wenn permanent am Ruf einer Person gesägt wird, wird dieser Ruf bald in sich zusammenfallen. Hier hilft nur Loyalität aller Mitglieder.
Für die Spieler heißt das, dass dem Lästerer rechtzeitig Einhalt geboten wird. Frage den Lästerer: „Wenn du ein Problem mit XY hast, warum klärst du das nicht mit ihm selbst?“
Geschäftsführer und künstlerische Leiter brauchen hier ein besonders feines Gespür. Ist die Klage über einen Spieler gerechtfertigt? Oder soll hier jemand bloßgestellt werden?

Künstlerische Probleme mit Einzelspielern
Es gibt hauptsächlich zwei Gründe, warum es zu künstlerischen Spannungen zwischen der Gruppe und Einzelspielern kommt: Erstens, wenn die künstlerischen Fähigkeiten des Spielers nicht genügen. Und zweitens, wenn die künstlerischen Ziele von denen der Gruppe zu stark abweichen.
Zu bestimmen, was die notwendigen künstlerischen Fähigkeiten sind, ist immer Aufgabe der Gruppe. Hier gibt es keine objektiven Regeln. Wenn ihr als neue Amateur-Gruppe die Impro-Szene betretet, ist es ziemlich wahrscheinlich, dass eure Fähigkeiten ausbaufähig sind. In einer größeren Gruppe sind die Talente dann meistens auf unterschiedliche Bereiche verteilt, und allen ist klar, dass man gemeinsam an der Verbesserung des Impro-Repertoires, der schauspielerischen und erzählerischen Fähigkeiten und der Formung der Gruppe arbeiten muss. Aber die traurige Wahrheit ist: Einige Spieler schaffen den Sprung nicht. Gruppen, die als Freundeskreis oder Workshop-Ausgründung entstanden sind, entscheiden, nun auftreten zu wollen, während ein, zwei Mitglieder auch damit zufrieden gewesen wären, einfach still unter sich zu bleiben und das Ganze als Feierabend-Hobby zu belassen.
Es gibt auch Spieler, die ihr Talent langsam aber stetig entfalten. Andere entwickeln sich sprunghaft von Plateau zu Plateau. Und es gibt Spieler, die irgendwann stehenbleiben. Sie sind bei den Proben großartige Kollegen und sensibel im Umgang. Sie spielen sehr aufmerksam, aber es wird ihnen nie gelingen, über die Bühne hinaus zu strahlen. Jedem Spieler gibt man gewiss Zeit, sich zu entwickeln. Doch irgendwann ist klar, ob jemand einfach nur länger als andere braucht, um sich Fähigkeiten anzueignen oder ob das Ende der Fahnenstange erreicht ist.
Machen Spielern fehlen bestimmte Spezial-Fähigkeiten. Das prominenteste Beispiel ist wahrscheinlich das Singen. Mit viel, viel Übung wird es ihnen sicherlich gelingen, halbwegs ein Lied zu improvisieren, das auch irgendwie ganz passabel klingt und man wird mit ihnen auch mal ein musikalisches Game wie „Das klingt nach einem Lied“ spielen können. Aber es ist kaum denkbar, mit ihnen einen improvisierten Opern-Abend aufzuführen. Soll man jemanden deshalb aus der Gruppe verabschieden? Zwei Mal habe ich von befreundeten Gruppen erfahren, dass eine Spielerin und ein Spieler entlassen wurden, weil sie den musikalischen Ansprüchen nicht genügten. In beiden Fällen fragte ich mich: War es das wert? In einem vielleicht noch krasseren Beispiel habe ich es erlebt, wie ein talentierter Spieler durchs Casting rasselte, weil er eine ABC-Szene nicht flott genug spielte.
Die Gruppe (oder die künstlerische Leitung) muss sich fragen: Was wollen wir als Improtheater? Passen die Gruppe und der Spieler gut zusammen oder nicht? Wenn wir uns als explizit musikalische Gruppe einen Namen gemacht haben, dann könnte es für einen Spieler, der mit Singen seine Schwierigkeiten hat, problematisch werden. Aber wenn wir nur ab und zu singen, dann könnte es sein, dass wir gerade ein großes Impro-Talent vertreiben.
Es kommt auch vor, dass sich die Gruppe als Ganzes entwickelt und die Fähigkeiten einzelner Spieler hinken dauerhaft hinterher. Hier darf man nicht vergessen, dass Talent ungleich verteilt ist. Selbst bei grandiosen Gruppen sieht man, dass es unter ihnen Spieler gibt, die extrem schnell und aufmerksam reagieren, andere wiederum bringen tausende glaubwürdige Figuren auf die Bühne. Ihr werdet nie alle in jeder Beziehung auf dem gleichen Stand sein. Man vermeide jeglichen Dünkel, wenn man selber diese oder jene Erfahrung gemacht hat, die den anderen fehlt,  egal ob das Ausbildung, Alter oder Kenntnisse betrifft. Letztlich zählt das, was auf der Bühne geschieht.
Dennoch lässt sich nicht abstreiten, dass einige Spieler irgendwann aufhören zu lernen, in impro-feindliche Muster verfallen oder einfach nicht mehr folgen können. Dann stellt sich die bittere Frage, ob die Gruppe sie mitschleifen soll oder nicht? Auch hier gilt es abzuwägen:

  • Trauen wir dem Spieler noch Entwicklungspotential zu?
  • Ist die Fähigkeitslücke so groß, dass wir tatsächlich ohne ihn auskommen wollen?
  • Ist der Spieler bereit zu lernen?
  • Schieben wir vielleicht die künstlerischen Fragen vor und in Wirklichkeit haben wir ein ganz anderes Problem miteinander?

Besonders schwer ist die Entscheidung, wenn der betreffende Spieler sich alle Mühe der Welt gibt, wenn er trainiert wie kein Zweiter, und sich praktisch und theoretisch bemüht, und dennoch klar ist, dass er es aber einfach nie zur Bühnenreife bringen wird.

Ein solcher Fall war Mirko (Name geändert). Mirko hatte mit seinen Kollegen trainiert und hatte die Gruppe mitgegründet. Aber Mirko hatte ein Problem: Wegen eines Geburtsfehlers war sein Timing defekt. Das heißt, er stotterte nicht nur, er handelte auch verlangsamt und dann wieder völlig hektisch. Seine Bewegungen waren oft unkontrolliert und seine Sprache nicht selten unverständlich. Mit dem einen oder anderen Problem hätte man sich vielleicht noch arrangieren können. Aber in dieser Häufung war an eine dauerhafte Bühnenpräsenz von Mirko nicht zu denken. Und Mirko muss es auch gewusst haben, da er immer wieder Gründe fand, sich aus der Dispo-Liste austragen zu lassen. Er war ein sympathischer Typ und hatte mit vielen Ideen die Gruppe zu dem gemacht, was sie nun war. Irgendwann fand sich jemand, der es wagte, den Elefanten im Raum zu benennen: „Mirko wird auf der Bühne nicht verstanden.“ Aber niemand wollte ihn gehen lassen. Schließlich kam einer auf die Idee, Mirko als Mitglied zu behalten, ihn aber zum Cheftechniker zu ernennen. Mirko war glücklich, er war ausgefüllt von seiner Tätigkeit.

Bisweilen ist an den Fähigkeiten als solchen gar nichts auszusetzen. Vielmehr stimmt die Zielrichtung einzelner Mitspieler nicht mehr mit der der Gesamtgruppe überein. Eine prominente Differenz ist die zwischen Kurz- und Langformen. Überlegt euch gut, ob ihr diese Präferenzen (oder die Betonung der Differenzen) so überstrapaziert, dass die Angelegenheit am Ende für die Gruppe eine Belastungsprobe wird. Ist die leichte Abseitigkeit eines Mitglieds nicht auch befruchtend? Lassen sich verschiedene künstlerische Ziele und Präferenzen nicht auch integrieren? Dabei spielen Gruppengröße und -dynamik sicherlich eine wichtige Rolle. Wenn wir zwanzig beinharte Theatersportler sind und der einundzwanzigste Spieler will das Schiff komplett auf Kurs Langform verlegen, dann braucht er schon gute Argumente, um den Rest der Truppe zu überzeugen. Wenn es hingegen fünf von zwanzig sind, ließe sich vielleicht ein Abend pro Monat als Spielwiese einrichten.
Falls es aber um einen von nur vier Spielern geht, könnte das zu internen Konflikten führen, denn bei so einer kleinen Mitgliederzahl besteht auch immer die Gefahr, dass die ganze Truppe schnell zerbricht. Einheit oder Reinheit – beides kann man zu weit treiben. Sicherlich ist es angenehm, wenn alle in die gleiche Richtung segeln, aber künstlerische Diversität ist ebenfalls ein hoher Wert. Sonst steht man am Ende mit seiner Vorstellung, wie gutes Improtheater auszusehen habe, völlig allein da.

(Die Kapitel „Trennung von Mitspielern“ und „Supervision und Mediation“ sind im Buch nachzulesen.)

(Dies ist ein Auszug aus Dan Richter: „Improvisationstheater. Band 8: Gruppen, Geld und Management“)

Konflikte in Impro-Gruppen (2) – Konflikte sachlich behandeln

Wenn Konflikte zur Sprache kommen, sollten wir uns so weit wie möglich auf die sachliche Ebene konzentrieren. Und die sachliche Ebene heißt in unserem Fall: Wie können wir miteinander angenehm Improtheater spielen?
Wenn ich sage „so weit wie möglich“, so bedeutet das, dass natürlich auch Befindlichkeiten zur Sprache kommen dürfen, aber wir sollten unsere Erwartungen an die Beziehungsebene zügeln.

  • Statt ein Problem zu einem Problemkomplex aufzublasen oder mehrere Probleme zu vermengen, hilft es, jedes Problem einzeln und für sich zu besprechen.
  • Vermeidet Anschuldigungen und Verallgemeinerungen, auch wenn euch bestimmte Verhaltensmuster nerven. Es gibt stets auch die andere Perspektive. Wer mit Anschuldigungen und Verallgemeinerungen zugeschüttet wird, ist weniger bereit, sich zu verändern. Die typischen Reaktionen sind eher Verteidigung, Gegenangriff oder Abschottung. Nichts davon bewirkt Veränderung.
  • Formuliere Ich-Botschaften statt Anschuldigungen. Also statt „Du blockierst immer.“, lieber: „Ich fühle mich von dir auf der Bühne manchmal nicht wahrgenommen.“
  • Ihr könnt selbstverständlich eure Erwartungen an bestimmte Verhaltensweisen formulieren, aber enthaltet euch jeglicher hobbypsychologischer Analyse, egal wie kompetent ihr euch dafür fühlt.
  • Lernt, mit Differenzen zu leben. Wenn ein Spieler zum Beispiel der Meinung ist, in einer guten Impro-Show müsse auch ab und zu gesungen werden und ein anderer Spieler meint, das sei überhaupt nicht notwendig, dann wird man darüber keine objektive Entscheidung treffen können, da das ja Geschmacksfragen betrifft. Am Ende wird über solche Themen wohl abgestimmt und man muss lernen, damit zu leben, in Abstimmungen zu unterliegen.

(Dies ist ein Auszug aus Dan Richter: „Improvisationstheater. Band 8: Gruppen, Geld und Management“)