Zusammenfassung Gruppen-Konflikte

Vom Impro-Kollegen Herbert Kessler, der gerade auf halbem Wege der Lektüre von  „Improvisationstheater. Band 8: Gruppen, Geld und Management“) ist, kam die Bitte, noch einmal im Blog zusammenzufassen, was die wichtigsten Möglichkeiten zur Konfliktvermeidung innerhalb von Impro-Gruppen sind und wie man eine Auflösung vermeidet. Das möchte ich hier tun.

Zunächst einmal: Konflikte sind nicht immer zu vermeiden. Die Frage ist, wie man mit ihnen umgeht. Wichtig ist, dass genügend strukturelle und persönliche Voraussetzungen gesetzt werden, dass die Konflikte nicht eskalieren.

Man setze so viele positive Marker wie möglich:
– Gute Auswahl der Spieler (Kapitel 1)
– Kluge Organisation der Gruppenstruktur (Kapitel 2)
– Sensibles Proben in angenehmer Atmosphäre (Kapitel 3)
– Kluge Wahl der Kommunikationsmittel und sensibles Kommunizieren. (Kapitel 5)

Dennoch kann es zu Konflikten kommen. (siehe Kapitel 5.6)
Diese Konflikte betreffen oft unterschiedliche künstlerische Erwartungen, unterschiedliche Erwartungen an Nähe und Distanz zwischen den Spielern, verschiedene Kommunikationsstile (z.B. sachlich vs. emotional). Gefüttert werden diese Konflikte außerdem von externen Problemen, etwa Zuschauermangel, finanzielle Probleme der Gruppe, biographische Veränderungen einzelner Spieler.

Herbert fragte mich nach Warnzeichen. Dazu gehören wohl
– mangelnde Spiellust
– negative Stimmung in Proben oder auf Treffen
– negativer Tonfall in E-Mails usw.
– eine Unlust, sich über Improvisation auszutauschen.

Natürlich kann es dazu kommen, dass sich einzelne Spieler innerlich von der Gruppe oder gar von Improtheater überhaupt verabschieden. Das lässt sich nicht immer aufhalten. Oft genug aber ist es wichtig,
– sensibel zu kommunizieren,
– Konflikte so weit wie möglich auf der Sach-Ebene zu behandeln,
– nicht zu lästern.
Jede Gruppe und jeder Spieler haben ihre eigenen sensiblen Punkte, die es zu einen gilt. Daher ist von allen Spielern auch eine gewisse Kompromissfähigkeit gefragt. Nicht jedes Problemchen muss zum Superproblem aufgeblasen werden.
Achte nicht so sehr auf den Splitter im Auge des anderen, sondern auf den Balken in deinem Auge. Oder frage dich: Was kann ich jetzt in dieser Situation und in dieser Lage tun, um das Ganze zu verbessern.

Konflikte in Impro-Gruppen (1) – Nähe und Distanz

Ähnlich wie Liebespaare erleben Impro-Gruppen in ihren ersten Monaten oft einen regelrechten Rausch der Gemeinsamkeit. Man verbringt auch unabhängig von Improtheater viel Zeit miteinander, es entstehen Freundschaften, man unternimmt sogar Reisen. Und irgendwann nüchtert man aus. Einige Spieler sind durch berufliche oder familiäre Verpflichtungen doch stärker gebunden als sie es zunächst wahrhaben wollten und möchten deshalb die gemeinsame Zeit aufs Eigentliche – das Improtheater-Spielen – begrenzen. Andere merken, dass sie auf einer persönlich-freundschaftlichen Ebene mit dem einen oder anderen Spieler doch nicht allzu viel zu tun haben wollen.
Die Herausforderung besteht darin, die Gruppe nicht mit zu hohen Erwartungen zu belasten. Besinnt euch auf das, was euch zusammengebracht hat: Improvisationstheater. Gemeinsam zu proben und aufzutreten ist eine ziemlich hohe Anforderung für jeden, auch wenn sich das zeitweise nicht so anfühlen mag. Eine Impro-Gruppe ist zunächst ein künstlerisches Team, das, wenn es gut geht, ein gemeinsames Ziel verfolgt. Wenn ihr zehn Spieler seid, ist es relativ unwahrscheinlich, dass jeder Spieler zu jedem anderen Spieler eine innige Beziehung wie zu einem besten Freund aufbaut.
Was du aber von jedem Spieler erwarten kannst (und jeder Spieler auch von dir), ist professioneller Respekt im Umgang. Wenn wir einander respektvoll behandeln, können wir auch mit Spielern auf der Bühne stehen und eine befriedigende Show spielen, die uns persönlich eher weniger behagen.

(Dies ist ein Auszug aus Dan Richter: „Improvisationstheater. Band 8: Gruppen, Geld und Management“)

Arbeit an Band 9 – Streichen, streichen, streichen

Bearbeite das nächste Buch. „Improvisationstheater. Band 9: Impro-Shows“
Einer meiner Lektoren sagte zu den ersten zwei Büchern, sie seien interessant, weil ich meine persönliche Perspektive und meine Erfahrungen einfließen ließe. Andere meinten, die Anekdötchen würden das Erklärte lediglich illustrieren. Und so musste ich immer wieder abwägen zwischen Streichen und Drinlassen. So auch in diesem Buch. Momentan im radikalen Streich-Modus. Zirka fünfzehn Prozent des Textes werden nicht im Buch erscheinen.
Hier eine gestrichene Anekdote:
„In der ersten Hälfte der Literaturshow Kantinenlesen, die ich moderierte, bemerkte ich wie seitlich von der Bühne im Dunkeln ein Zuhörer zu schnarchen begann. Ich ließ das unkommentiert und nahm an, dass er die Pause nutzen würde, um nach Hause zu gehen. Und so wunderte ich mich, dass er zu Beginn des zweiten Teils – ich war gerade zwanzig Sekunden in meiner Anmoderation – schon wieder schnarchte. In der Absicht, den Herrn zu bitten, sich doch zu Hause auszuschlafen, bat ich das Publikum um absolute Stille. Ich wandte mich der Seite des Schnarchers zu und glücklicherweise, bevor ich noch etwas sagen konnte, erkannte ich, dass der alte Mann mitnichten schlief, sondern einfach ein Atemproblem hatte. Im Schrecken, jemanden beinahe bloßgestellt zu haben, wandte ich mich ab und mit schlechtem Timing ging ich im Programm weiter.“

Geld als Gruppenkitt

Auszug aus Dan Richter: „Improvisationstheater. Band 8: Gruppen, Geld und Management“

Wenn du in einer Gruppe spielst, die ordentlich gemanagt wird, gut besuchte Shows aufführt, regelmäßig für externe Shows gebucht wird und ein Workshop-Curriculum anbietet, dann hast du großes Glück. Zu wissen, dass das, wofür man brennt und in das man Leidenschaft hineinsteckt, einem auch noch das Leben finanziert, ist ein höchst angenehmes Gefühl und ein Zustand der Erfüllung, um den einen Nicht-Künstler regelmäßig beneiden.
Finanzieller Erfolg hat darüber hinaus noch einen angenehmen Nebeneffekt – er glättet kurzfristig die Wogen möglicher Gruppenkonflikte. Die Hitze des Streits, ob das Werbebanner mit gelber Schrift auf rotem Untergrund oder mit roter Schrift auf gelbem Untergrund über der Eingangstür des Theaters hängt, legt sich meistens, sobald das Publikum im vollen Saal begeistert applaudiert. Umgekehrt schaukeln sich solche Nichtigkeiten rasch zu existenziellen Fragen hoch, wenn die Zuschauer ausbleiben und jede Kleinigkeit so erscheint, als ob gerade sie zu Erfolg oder Misserfolg beitrüge.
Mit den regelmäßigen Zahlungen stellt sich somit auch ein Gefühl von Professionalität ein – man lässt kleinere Probleme nicht mehr so nahe an sich herankommen, schließlich erfüllt man ja hier seinen Job. Selbst ein schlecht besuchter Abend lässt sich leichter gemeinsam verdauen, wenn man weiß, dass man so oder so hinterher seine Gage bekommt. Ebenso steht es mit gruppeninternen Zwistigkeiten und künstlerischen Unstimmigkeiten. Sie verlieren an Bedeutung, sobald der Rubel rollt. Geld kittet so manchen Riss.
Das Problem ist nur, dass diese scheinbar heilende Wirkung manchmal nur anästhetisiert. Was wir unter den Teppich kehren, bekommen wir später wieder zu sehen. Das heißt nicht, dass wir wegen jedes Konfliktchens eine Supervision einleiten müssen. Aber wenn es im Gebälk des Gruppengefüges knirscht, wird Geld auf Dauer ebenso wenig helfen wie bei künstlerischen Problemen. Nur weil die Gruppe erfolgreich ist, entbindet es nicht von der Pflicht, die internen Beziehungen zu pflegen. Und natürlich darf der Erfolg nicht davon abhalten, sich über die künstlerische Weiterentwicklung Gedanken zu machen, sonst überholt einen die Entwicklung rascher als gedacht. Zwar heißt es „Never change a winning horse“, aber wenn ihr über Jahre hinweg dieselbe Show mit den immergleichen Games spielt, ohne euch zu verändern, ohne euch Gedanken über Inhalt und Form zu machen, ohne euch nach außen für neue Impulse zu öffnen, dann kann es passieren, dass ihr die Verbindung zum Herzen eurer Kunst verliert und euer geliebter lukrativer Job am Ende wirklich nur noch „ein Job wie jeder andere“ wird.

In Pulp Fiction sind die Dialoge nicht einfache Metaphern, sie verdecken und enthüllen, sie führen uns an der Nase herum und locken uns in die Irre, obwohl das Eigentliche, das Bizarre, Brutale, die Liebe, die Verführung direkt vor unseren Augen stattfindet. Aber die Handlung hat in Pulp Fiction so gut wie nie etwas mit dem Dialog zu tun und umgekehrt.

Schein-Unterstützung im Theatersport

„Hilfe“ beim Theatersport wird von manchen Spielern manchmal missverstanden. Sie betreten dann die Szene des anderen Teams als lustige Mitfahrer, um einen Lacher zu kassieren und behaupten dann, die Szene gerettet zu haben. Nein, ihr habt einen Gag auf Kosten der anderen Mannschaft gemacht. Man hilft vor allem, indem man der Story Beine macht. Gehe als Nebenfigur hinein und unterstütze die Hauptfigur, indem du ihr Probleme bereitest oder ihr Gelegenheit gibst, sich als Held der Geschichte zu beweisen. Treib die Story voran, ohne den Fokus mit einem „witzigen“ Character zu stehlen.
(Aus Improvisationstheater. Band 9: Impro-Shows. Ab Mai 2019 im Buchhandel)

Arbeit am Band 9 – Impro-Shows

Arbeite intensiv am Band 9 „Impro-Shows“ meiner Buch-Reihe „Improvisationstheater“. Den Band hatte ich in der ersten Grobfassung schon Ende 2017 fertiggeschrieben. Und jetzt bin ich am Überarbeiten, was mir durch den zeitlichen Abstand wesentlich leichter fällt als bei den beiden vorausgegangenen Bänden. Oder es liegt daran, dass die Fehler deutlicher zutage treten. Im ersten Schwung streiche ich ungefähr fünf bis zehn Prozent des Textes. Weitere fünf Prozent werden wohl folgen. Kapitel werden gestrafft, umgestellt, zusammengelegt. Aber ich habe auch ein paar kleinere Lücken gefunden. Den Abschnitt „Impro-Shows für Kinder“ hatte ich zwar in meinem Plan, aber noch gar nicht geschrieben.
Beim Thema Business-Theater/Gebuchte Shows frage ich mich im Nachhinein, ob ich es nicht lieber in Band 8 „Gruppen, Geld und Management“ hätte verfrachten sollen. Gerade das Thema Vertragsverhandlungen hätte dort gut hineingepasst. Aber ich bin jetzt zufrieden damit.
Kürzen muss ich wohl noch weiter bei den Kapiteln zu den klassischen Johnstone-Formaten (Theatersport, Gorilla, Maestro), da diese anderswo teilweise gut und ausführlich beschrieben wurden. Aber sie dürfen als wichtige Meta-Formate nicht fehlen.
Ich hoffe, dass ich niemanden enttäuschen werde, dass ich Langform-Impro hier so gut wie gar nicht erwähne, aber diese sind den Bänden 5 und 6 vorbehalten.
Erstmalig in der Impro-Literatur behandle ich die Themen Show-Feedback, und Backstage-Routinen. Ausführlicher als anderswo bespreche ich das Verhältnis zum Publikum, Improtheater im öffentlichen Raum und Moderation.
Dass ich das Buch, wie geplant, im April fertigstellen kann, ist allerdings utopisch. Leider verschiebt sich somit der gesamte Veröffentlichungsplan. Scheiter heiter.

Buchpräsentation „Die Grundlagen“ mit Ramona Krönke, Thaktil und Andrés Atala Quezada

Am 4. Februar wurde im Bühnenrausch in Berlin das Buch „Improvisationstheater. Die Grundlagen“ vorgestellt. Ramona Krönke von „Die Gorillas“ interviewte Dan Richter von „Foxy Freestyle„. Thorsten Less und Ilka Puschke von „Thaktil“ improvisierten. Und Andrés Atala Quezada von „Foxy Freestyle“ begleitete musikalisch.


6:35 Wie kam es zu diesem Buch? 10:35 Szene Thaktil: Wie beginnt man, Impro zu spielen? 12:40 Anfängergeist und Anfänger-Shows 14:20 Die erste Show von Dan Richter und Aufregung 16:10 Lampenfieber und Aufregung 19:30 Es gibt nicht „den Zuschauer“ 21:00 Biografisches über Dan Richter 23:30 Prokrastination und Fleiß 24:45 Szene Thaktil: Schlaf, Meditaion, Sport im Improtheater 27:40 Improtheater und Spiritualität 31:30 Düstere Momente und Schreiben 33:30 Ist es vermessen, ein Buch über Impro zu schreiben? 35:00 Impro-Terror (Szene Thaktil) 38:54 Ramona Krönke will ein Spiel spielen, das sie nicht kennt 40:45 Lesebühnen, Punk, erster Text 42:50 Ist Impro eine Mode 44:00 Ist Improtheater Kunst? 45:10 Improvisiertes Barock-Stück (Andrés Atala Quezada) 48:55 Persönliche Vervollkommnung 51:50 Die Entwicklung von Foxy Freestyle 53:30 Akzeptiere dich selbst 54:30 Szene Thaktil: Sich auf den anderen verlassen 58:40 Impro für Blender, Impro zur Selbstoptimierung 1:00:04 Nutze deine Intelligenz 1:08:40 Thaktil versuchen, eine langweilige Szene zu spielen 1:10:00 Dan erklärt die Faszination für Thaktil 1:11:00 Fortsetzung der Szene 1:14:30 Relevanz und Politik im Improtheater 1:18:40 Namedropping 1:26:00 Dan weigert sich, sich selbst einzuordnen 1:26:30 Dan wird von Thaktil etikettiert 1:29:00 Die kommenden Bände 1:31:35 Ramonas Schlussgag

Improvisationstheater. Band 8. Gruppen, Geld und Management

Am 4. Februar ist nun der Band 8 meiner Reihe „Improvisationstheater“ erschienen. Der Untertitel Gruppen, Geld und Management bezieht sich auf die internen Fragen, die Impro-Gruppen zu lösen haben und die häufig eher organisatorischer als künstlerischer Natur sind: Welche Struktur soll die Impro-Gruppe haben? Wie organisiert man sich demokratisch und wie mit künstlerischer Leitung?
Kann man mit Impro Geld verdienen? Wie sollen Proben organisiert werden?
Vorab wurde mir immer wieder die Frage gestellt: Warum Band 8 und nicht Band 2? Die Frage ist berechtigt. Hintergrund ist, dass die Bände einer inneren Logik folgen. Band 8 war aber der erste, der überhaupt fertig war. Hätte ich jetzt noch mit seiner Veröffentlichung warten sollen? Oder alles umnummerieren? Nö.

Für Neugierige hier das Inhaltsverzeichnis: 
1 GRÜNDUNG EINER IMPROTHEATER-GRUPPE
1.1 Mitglieder finden
1.2 Künstlerische Ziele: Was wollen wir spielen?
1.3 Vision und Mission – Das Warum
1.4 Zeitliches Engagement klären
1.5 Zeitplan
1.6 Zuständigkeiten festlegen
1.7 Finanzielle Grundfragen klären
1.8 Der Gruppen-Name
2 GRUPPENSTRUKTUREN
2.1 Große und kleine Gruppen
2.2 Schön aber anstrengend: Basisdemokratie
2.3 Hierarchisch aber effizient: Gruppen mit künstlerischer Leitung
3 TRAINING UND PROBEN
3.1 Künstlerische Weiterentwicklung
3.2 Bedeutung von Training und Proben
3.3 Probenanleitung
3.4 Häufigkeit der Proben
3.5 Ablauf der Proben
3.6 Szenen besprechen: Das Feedback
3.7 Abschluss
4 AUFFÜHRUNGEN
4.1 Der Spielort
4.2 Auftrittshäufigkeit
4.3 Welche Art von Show?
5 INTERNE KOMMUNIKATION
5.1 Umgang mit neuen Ideen
5.2 Gruppen-Rituale
5.3 Kommunikationskanäle
5.4 Grüppchenbildung
5.5 Männer und Frauen
5.6 Gruppen-Konflikte
6 GELD
6.1 Amateure, Profis und Professionalität
6.2 Profi-Gruppen und Profi-Spieler
6.2.1 Rechtliches
6.2.2 Versicherungen
6.2.3 Künstler haben’s gut – Die Künstlersozialkasse (KSK)
6.2.4 Amateur oder Profi – Abwägungen
6.2.5 „Kann man davon leben?“ – Lukrative Jobs im Improtheater
6.3 Eine Handvoll Tipps für Profis und solche, die es werden wollen
6.4 Geld innerhalb der Gruppe
6.5 Bezahlung der Techniker, Musiker und externen Spieler
7 WERBUNG UND SELBSTDARSTELLUNG
7.1 Outfit
7.2 Internet-Werbung
7.3 Flyer und Plakate
7.4 Radio, Presse, Fernsehen
7.5 Merchandising
7.6 Kurz-Auftritte

Tschechows Flinte

Die Bezeichnung „Tschechows Flinte“ (oder Gewehr) geht auf eine Regel des russischen Schriftstellers Anton Tschechow zurück, die besagt, dass ein zu Beginn einmal eingeführter Gegenstand später auch eine Rolle spielen sollte. Wenn also zum Beispiel im ersten Akt des Stücks eine Flinte an der Wand hängt, sollte sie gefälligst im dritten Akt abgefeuert werden. Tschechow sah das als eine Art Ökonomisierung des Stücks: Das Überflüssige wird aus dem Skript entfernt.
Für uns Improvisierer bedeutet das natürlich, nicht zu viele Angebote in die erste Szene zu quetschen.
Aber Tschechow wusste natürlich auch, warum er ausgerechnet von einer Flinte sprach (und nicht etwa von einer Teetasse, die im dritten Akt zerbrechen müsse). Die Flinte ist ein aufmerksamheischendes Objekt. Wir können die Regel daher auch umdrehen: Zeige im ersten Akt eine Flinte an der Wand. (Oder etwas ähnlich Dramatisches.)
In Tschechows Kirschgarten gibt es übrigens ein Gewehr, das nicht abgefeuert wird. Allerdings könnte man argumentieren, dass der anstehende Verkauf des Gartens das geladene Gewehr ist.

Jordan Peterson – 12 Rules for Life

Auf Jordan Peterson bin ich erst in diesem Jahr auf Youtube aufmerksam geworden. Dieser kanadische Psychologieprofessor teilt einen Großteil seiner Vorlesungen als Video. Was ihn interessant macht, ist eine große Mühe um fachliche Redlichkeit, sowie seine Fähigkeit, über Fach-Grenzen hinweg zu denken. Seine gedanklichen Ausflüge berühren politische Themen, Fragen der Lebensführung und die Schnittstellen von Biologie und Psychologie. Kürzlich teilte ich eines dieser Videos in einer riesigen Improtheater-Gruppe auf Facebook. Das Thema war eigentlich, wann man von Kunst leben könne und wann nicht. Nicht besonders kontrovers, aber für Künstler eben doch interessant, so glaubte ich. Der Sturm der Entrüstung war ungeheuer. Niemand der Kommentatoren ging auf den Inhalt des Videos ein. Vielmehr entrüsteten sie sich darüber, dass ich überhaupt etwas von Peterson gepostet hatte, einem Rechtsradikalen, so die scheinbar konsensuale Meinung. Ich war völlig perplex. Zwar war mir bewusst, dass Peterson wegen seiner anti-ideologischen Haltung zum Thema freie Meinungsäußerung und Gender Studies unter einigen Linken nicht besonders beliebt ist. Aber rechtsradikal? Viele seiner Vorträge attackieren politische Extremismen. Und so konnten oder wollten meine Kritiker auch auf keine Äußerung – sei sie schriftlich oder mündlich erfolgt – , die Petersons angeblichen Rechstradikalismus belegen könnte, verlinken. Stattdessen verwies man mich auf ideologische „Analysen“ Dritter. Interessant war, dass zwei meiner kanadischen „Facebook-Friends“ ich aus ihrer Freundesliste strichen, dafür aber fünf andere mir über Privatnachricht zu meinem „Mut“ gratulierten. Ich selber hatte das Posten des Videos gar nicht als mutig empfunden. Aber niemand von meinen Lobern hatte selbst den Mut, mich öffentlich in diesem Forum zu verteidigen. Zu sehr war das Gelände vermint, zu hoch die möglichen Kosten des Verlustes sozialen Prestiges. Die Auseinandersetzung um politische Korrektheit in Nordamerika hat inzwischen Formen angenommen, in denen es nicht mehr nur um Sprachregulierung geht, sondern um die Frage, ob man überhaupt noch kontrovers diskutieren kann. (Dabei war mir, wie gesagt, in diesem konkreten Fall nicht einmal an einer Kontroverse gelegen.) Das Gegenüber wird für nicht satisfaktionsfähig erklärt. Man ist sexistisch, rassistisch oder sonst irgendwie -istisch. Oder man hat, da man männlich ist oder „weiß“ oder sonst irgendeiner angeblich privilegierten Sozialkohorte angehört, sowieso nichts zu melden, da man strukturell verblendet sei. Diese Etikettierung hat für den, der sie vornimmt, den Vorteil, dass man sich nicht mit den Argumenten des Gegenübers auseinandersetzen muss. Bei dieser Form des Streitens beginnt man zu verstehen, wie tief die politischen Gräben in den USA wirklich sind. Als Ostdeutschem kommt mir diese Art der Schein-Argumentation natürlich bekannt vor: Wer nicht unsere Linie vertritt, ist klassenmäßig verblendet. (Im Stalin- oder Pol-Pot-System gehören diese Personen dann auch konsequenterweise ausgerottet.)
Auf diese Weise sichern sich linke Sozialwissenschaftler/innen und ihre studentische Gefolgschaft ihre liebgewordenen Dogmen ab. Und nebenbei korrumpieren sie ihre eigene Wissenschaft: Statt kritisch die Ergebnisse der eigenen Forschung zu betrachten, gilt nur noch das, was die eigenen Annahmen bestätigt. Die Soziologie fällt in diesen Bereichen auf den Stand der mittelalterlichen Scholastik zurück: Es gibt keine neuen Erkenntnisse mehr, man kann das einmal als wahr erkannte nur noch auf immer wieder neue Art bestätigen. Das trifft natürlich vor allem auf die wohl politischste Disziplin der Sozialwissenschaften zu – die Gender Studies, die sich in ihren Annahmen eines Vulgär-Konstruktivismus verbarrikadieren. Wissenschaftliche Ergebnisse aus anderen Bereichen der Soziologie, der Psychologie oder der Biologie, die diesen Annahmen widersprechen, werden geleugnet oder einfach nicht zur Kenntnis genommen. Und an dieser Stelle reichen die linken Ideologen unwissentlich den rechten die Hand: Fakten zählen nicht. Es geht nur darum, ob du für oder gegen uns bist – das postfaktische Zeitalter.
Und so öffnete ich das Buch „12 Rules for Life“ von Jordan Peterson, der letztlich der Auslöser für diese ernüchternde Erfahrung war.
Die meisten der zwölf Regeln, die uns Peterson nahelegt, kann man oberflächlich gesehen, als neu formulierte Binsenweisheiten betrachten. Was also hat er uns darüber hinaus zu sagen? Petersons Idealleser ist wohl ein westlicher halb-säkularisierter junger Mensch, der Orientierung sucht, weil die Postmoderne zum Anything-goes neigt und Orientierung dadurch verweigert, dass sie die Rebellion und die Infragestellung jedes Ordnungssystems präferiert. Insofern hat das Buch durchaus eine konservative Note. Aber es wäre zu einfach, die „12 Rules“ als Anker für verlorene Konservative abzutun. Dafür ist es erstens zu modern und zweitens sind darin viel zu viele progressive Ostereier versteckt.
Peterson balanciert immer wieder aus: Regel Fünf etwa lautet: „Lass deine Kinder nichts tun, was dazu führen würde, dass du sie nicht mehr magst.“ Diese Anweisung richtet sich an Eltern, die ihre Kinder einfach machen lassen. Sie fürchten sich, Grenzen zu setzen, da das dem Kind schaden würde. Es sind diese Kinder, die es im Alter von vier Jahren noch nicht gelernt haben, dass man auf Spielplätzen die Buddelschippe des anderen Kinds nicht einfach stiehlt, dass man nicht schlägt oder tritt. Diese Kinder erfahren nicht, was es bedeutet, mit sozialen Grenzen umzugehen, sie verwahrlosen. Die Grenzen schlagen dann umso stärker in der Pubertät auf sie ein, wenn die verzweifelten Eltern plötzlich bemerken, dass das Kind dabei ist, delinquent oder süchtig zu werden. Oft sind es dieselben Eltern, die ihr Kind übermäßig beschützen: Sie tun alles, damit es sich bloß nicht wehtut. Peterson fordert hier ein Umdenken. Setze dem Kind so wenig Grenzen wie möglich, aber so viele wie nötig. Diese Grenzen betreffen die körperliche Unversehrtheit des Kindes selbst aber auch die anderer Personen und deren Eigentum. Und diese Regel korrespondiert wiederum mit der Regel Nummer 11: „Stör die Kinder nicht beim Skateboardfahren“. Das heißt, lass sie Gefahren erleben und selbst austarieren. Gib ihnen die Freiheit des Spiels und die nötige Freiheit, um selbst Verantwortung zu übernehmen.
Aber so recht kann ich mich für Petersons Buch dann doch nicht begeistern. Seine Begleit-Storys geraten viel zu lang. Sie sollen wohl einen Punkt verdeutlichen, aber letztlich verdunkeln sie oft nur, was Peterson zu sagen hat. Außerdem hat Peterson eine von seinen Vorbildern Freud und Jung übernommene epistemologische Schwäche – die Mythologie. Die Mythen, von Kain und Abel bis zu Pinocchio, dienen ihm nicht nur zur anschaulichen Illustration seiner ethischen Argumente, sie geraten ihm teilweise zur Quelle oder gar zum Beleg eines Arguments. (Diese Art des Argumentierens legt nahe, wie stark Peterson um seinen christlichen Glauben ringt.) Es bedarf genauen Lesens, um hier die Spreu vom Weizen zu trennen.
Sein stärkstes Kapitel ist für mich „Bring dein Haus in Ordnung, bevor du die Welt kritisierst.“ Es befasst sich mit dem mörderischen Nihilismus, der aus der moralischen Orientierungslosigkeit geboren wird. Die nordamerikanischen Schulmassaker stehen hier in einer Reihe mit den riesigen Gräueln des 20. Jahrhunderts. Wie kann man angesichts der haarsträubenden Ungerechtigkeiten, die einem selbst und anderen Menschen widerfahren, nicht an der Menschheit oder seinem Gott zweifeln. Kains Früchte werden von Gott verschmäht. Er weiß nicht warum, und mit seinem Brudermord tötet er nicht nur das, was er liebt, sondern er bestraft Gott – sprich die Existenz selbst. „Bring dein Haus in Ordnung“ ist daher metaphorisch als auch konkret zu verstehen: Bring Ordnung in deine Gedankenwelt, in die Welt deiner Normen und Mitmenschlichkeit, aber schaffe auch Ordnung in deiner ganz konkreten Umgebung. Finde Freude an dem, was dich umgibt. Lerne, das Unperfekte der geordneten Welt zu schätzen, bevor zu dich anschickst, sie zu kritisieren.

Unterbrechung als Option

Als ich begann, regelmäßig Improtheater zu spielen, stellte sich unsere Gruppe eines Tages die Frage: Was geschieht eigentlich, wenn eine Szene für einen von uns inhaltlich unerträglich wird – entweder weil man glaubt, dass den Inhalt dem Publikum nicht zumuten zu können oder weil man gerade selbst in bestimmten Lebensumständen ist, in der man etwa eine Szene über Krebs nicht spielen kann, ohne zu sehr aufgewühlt zu sein? Nachdem wir uns tagelang mit der Frage quälten, beschlossen wir, uns die Option zu erlauben, jederzeit auf die Bühne zu gehen und zu sagen: „Liebe Damen und Herren, an dieser Stelle gibt es eine kleine Pause von zirka zehn Minuten.“ In dieser Pause kann die Gruppe sich kurz die Schwierigkeiten des Einzelspielers austauschen und entscheiden, ob die Szene weitergespielt wird oder ob man gar ein neues Format beginnt.
Nach dieser Entscheidung fiel es mir leichter, mich unbefangen auch an heikle Themen zu wagen, da ich ja ab sofort einen Sicherheitsfallschirm bei mir trug. Ich habe von der Option der Unterbrechung bis heute nie Gebrauch gemacht.

Lesen durch Schreiben – der ideologiegetränkte Versuch, das Scheitern aus dem Klassenraum zu verbannen

„Ales gute zum Geboztak.“
Wenn man einen solchen Gruß vom Erstklässler bekommt, kann man das noch als süß verbuchen. Was aber, wenn Viert- und Fünftklässler so schreiben? Ich rede nicht von den drei bis vier Schülern pro Klasse mit Lernproblemen oder Legasthenie, sondern von der Mehrheit der Schüler, von denen sich einige bereits mit dem Gedanken anfreunden, das Gymnasium zu besuchen. Die Ursache ist in einer relativ neuen Lehr-Methode oder besser gesagt Lehr-Mode zu suchen. Sie heißt „Lesen durch Schreiben“ und hat in einigen Bundesländern und Schulen das „alte“ Fibel-System abgelöst. Schülern lernen nun nicht mehr Buchstabe für Buchstabe zu lesen und zu schreiben, sondern bilden anhand einer Anlaut-Tabelle Wörter und basteln sich so Wörter und Sätze zusammen. Korrigiert werden soll kaum oder gar nicht, damit das Kind nicht frustriert würde. Die Folge ist, dass das Kind an seinem zehnten „Geboztak“ immer noch nicht fehlerfrei einfache Sätze schreiben kann.
Der psychologisch-ideologische Hintergrund ist kaum verborgen: Kinder dürfte man nicht mit ihrem Scheitern konfrontieren, da sie sonst die Freude am Lernen verlören. Mit derselben Begründung wurden auch die Schulnoten in den unteren Klassen abgeschafft. (Ironischerweise schleichen sie sich durch Smiley-Stempel wieder durch die Hintertür ins Klassenzimmer ein.) Der Impuls dafür ist sicherlich für fast jeden nachvollziehbar, der die Frustrationen des Schulunterrichts bis zu den 70er und 80er Jahren erleben durfte: Das Scheitern an einer Aufgabe und auch ihr Gelingen wurde tendenziell personalisiert: „Andreas ist gut in Mathe, aber schlecht in Sport.“ bis hin zu Komplett-Urteilen: „Jana ist Klassenbeste, und Steffen ist ein Schulversager.“
Nun also will man das Scheitern so weit wie möglich völlig aus dem Unterricht verbannen, um die armen Kinderseelen zu schonen (oder um das eigene Schultrauma aufzuarbeiten), aber man verkennt, dass das Scheitern zum Lernen unbedingt dazugehört. Und die Kinderseele ist in der Regel schon seit der frühesten Kindheit ziemlich gut darauf vorbereitet: Wenn ein Kind laufen lernt, fällt es Hunderte Male hin. Als Erwachsene bedauern wir sein Fallen und erinnern uns an sein Weinen, aber in Wirklichkeit ist das Weinen eher die Ausnahme. Das große Wunder ist die Unermüdlichkeit des Wieder-und-wieder-Probierens. Kinder verlernen das Scheiter-heiter-Prinzip, erstens, wenn man ihr Scheitern bestraft, aber auch, wenn man ihnen zu viele Aufgaben abnimmt, wenn man das Scheitern aus ihrem Leben zu verbannen sucht. Wer nicht gelernt hat, mit Freude zu scheitern, ist viel schneller frustriert, wenn etwas nicht funktioniert. Das heitere Scheitern neu zu erlernen, ist schwerer, je älter man wird und je stärker einem dann die Fehler auf die Füße fallen.
Das Ganze ist natürlich politisch-ideologisch befrachtet: Konservative möchten so schnell wie möglich die Spreu vom Weizen sortieren und beharren auf einer Elitisierung. Linke behaupten implizit eine Gleichheit der Schüler und geben einfach allen einen Smiley. Aber weder das Eine noch das Andere hilft den Schülern. Lernen ist ein komplexer Prozess, der Freude beim Gelingen und beim Scheitern erfordert. Scheitern muss als positives Erlebnis erfahrbar gemacht werden. Es darf nicht von Konservativen personalisiert werden („Versager“) und es darf auch nicht von den Linken aus dem Klassenraum verbannt werden.
Scheiter heiter.

Der Inhalt des Buches „Improvisationstheater. Band 1: Die Grundlagen“

Erleichtert und voll Freude öffne ich die Verschweißung und blättere ich durch ein Exemplar von „Improvisationstheater. Band 1: Die Grundlagen“, das jetzt im Verlag Theater der Zeit erschienen ist. Darin bündle ich meine theoretischen Überlegungen zum Thema Improtheater.
Erwerben kann es auch versandkostenfrei hier in unserem Online-Shop, was den Autor natürlich besonders freut.

Wer jetzt noch abwägt, dem sei ein Blick ins ausführliche Inhaltsverzeichnis gegönnt:

1 WARUM SPIELEN WIR IMPROTHEATER?
1.1 Der Genuss des Publikums
1.2 Freiheit und Bildung des Spielers
1.3 Die Mitspieler – Inspiration und Kooperation
1.4 Synchronisierte Kreativität
1.5 Interaktion mit dem Publikum

2 SEI MUTIG
2.1 Scheiter heiter
2.2 Die Falle der Selbst-Etikettierung
2.3 Es gibt keine Fehler – Mach was draus
2.4 Freiheit vor dem Urteil anderer
2.5 Wabi Sabi
2.6 Wovor sich Impro-Spieler fürchten
2.6.1 Die Angst vor dem unbekannten Territorium
2.6.2 Die Angst vorm Urteil des Publikums
2.6.3 Die Angst, nicht weiterzuwissen
2.6.4 Die Angst vor Veränderung
2.7 Die Kanäle der Angst
2.8 Wie überwinden wir unsere Angst?
2.8.1 Pfeifen im Walde
2.8.2 Folge der Furcht
2.8.3 Sich dem Moment hingeben
2.8.4 Training
2.8.5 Mut zu Neuem
2.8.6 Hab Spaß

3 HÖR ZU
3.1 Hör deinem Partner zu
3.2 Hör dir selbst zu
3.3 Hör auf den Sinn
3.4 Höre auf das Spiel-Angebot
3.5 Erinnern und Wiedereinführen

4 AKZEPTIERE
4.1 Akzeptieren als Grundhaltung
4.2 Akzeptiere das szenische Angebot
4.2.1 Im Zweifel sag einfach Ja. Akzeptieren dynamisiert die Szene
4.2.2 „Nein“ als Ja und „Ja“ als Nein
4.3 Akzeptiere dich selbst
4.3.1 Akzeptiere deine Ideen und Impulse
4.3.2 Akzeptiere deine Persönlichkeit
4.4 Akzeptiere deine Partner
4.5 Akzeptiere das Spiel
4.6 Akzeptiere die Situation
4.7 Akzeptiere die Gruppe
4.8 Akzeptiere das Leben

5 FÜGE HINZU
5.1 Assoziieren
5.2 Prototypen und Klischees
5.3 „Nutze deine Intelligenz!“ versus „Sei nicht so sehr im Kopf!“
5.4 Körperlich-affektives Assoziieren
5.5 Szenen auf Vorschlägen des Publikums aufbauen

6 BEHAUPTE
6.1 Wisse Bescheid
6.2 Behaupte Kenntnisse und Fähigkeiten
6.3 Behaupten und Authentizität
6.4 Bricolage
6.5 Behaupten in der Szene
6.6 Resonanz

7 SPIELE!
7.1 Verspieltheit
7.2 Spiele mit der Figur!
7.3 Spiele mit Rhythmus!
7.3.1 Spiele mit Sprachrhythmus
7.3.2 Spiele mit dem Rhythmus der Bewegung
7.3.3 Spiele mit dem Rhythmus in und zwischen Szenen
7.4 Spiele mit Raum!
7.5 Spiele mit Sinn und Bedeutung!
7.6 Spiele mit Sprache!
7.7 Spiele das Spiel!
7.8 Temenos
7.9 Die Impro-Haltung in anderen Bereichen

8 SEI IM MOMENT
8.1 Achtsamkeit und Wachsamkeit
8.2 Nicht vorausdenken
8.3 Vergangenheit als Teil des Moments

9 LIEBE DAS UNBEKANNTE
9.1 Das Unbekannte in der Szene
9.2 Unbekannte Charaktere
9.3 Unbekannte Muster
9.4 Offenheit für unbekannte Formen und Einflüsse

10 GIB VOLLEN EINSATZ
10.1 Voller Einsatz als Grundhaltung
10.2 Nutze deine körperlichen Fähigkeiten
10.3 Nutze deine geistigen Fähigkeiten
10.4 Kompromisse
10.5 Über-Engagement

11 LASS DICH VERÄNDERN
11.1 Emotionale Veränderung
11.2 Räumliche Veränderung
11.3 Statusveränderung
11.4 Wandel und Wechsel
11.5 Loslassen

12 SEI SPEZIFISCH
12.1 Spezifik aus der Perspektive der Zuschauer
12.2 Spezifik umsetzen
12.2.1 Dinge und Personen benennen
12.2.2 Baue deinen Alltag ein
12.2.3 Charaktere außerhalb des Klischees

13 MITEINANDER
13.1 Kontrolle aufgeben
13.1.1 Spielen statt Kommandieren
13.1.2 Sich von Ideen lösen
13.1.3 Den Stein weit wegwerfen
13.2 Großzügigkeit
13.2.1 Den Partner unterstützen
13.2.2 Großzügigkeit und Wohlwollen
13.2.3 Sich um sich selber kümmern
13.2.4 Die Perspektive des Gegenübers
13.3 Führen und Folgen

14 URTEILEN
14.1 Weitgehende Urteilsfreiheit
14.2 Bewertungslosigkeit gegenüber Mitspielern
14.3 Bewertungsfreiheit gegenüber sich selbst
14.4 Mildes Urteilen beim Spiel
14.5 Bewertbarkeit der Improvisation

15 FLOW
15.1 Produkt oder Prozess
15.2 Eins werden
15.3 Offensichtlich oder originell?

16 KOMIK, ERNST UND HUMOR
16.1 Impro-Komik und Situationskomik
16.2 Gagging
16.3 Ernstes Improtheater
16.4 Humor

17 DILETTANTISMUS UND ELEGANZ
17.1 Hey! Ho! Let’s Go!
17.2 Absichtlich schlecht spielen
17.3 Eleganz

18 DIE BÜHNE GEHÖRT UNS
18.1 Nehmt die Bühne in Besitz
18.2 Unsere Inhalte, unsere Formen

19 ALLES IST INSPIRATION
19.1 Kunst
19.1.1 Film
19.1.2 Literatur
19.1.3 Performance-Kunst
19.1.4 Weitere Kunstformen
19.1.5 Improtheater
19.2 Popkultur
19.3 Alltag
19.4 Politik und Wissenschaft
19.5 Aus der Leere

20 REGELN
20.1 Impro-Regeln
20.2 Spielregeln
20.2.1 Regelknappheit
20.2.2 Regeln in Genres
20.2.3 Regeln in Langformen
20.3 Regeln brechen

21 TRAINING
21.1 Schönheit des Übens
21.2 Improvisation trainieren – immer wieder
21.3 Wisse, was du trainierst
21.4 Plateaus, Blockaden und künstlerische Krisen
21.4.1 Vom Anfänger zum fortgeschrittenen Spieler
21.4.2 Vom fortgeschrittenen Spieler zum Profi
21.4.3 Als Profi
21.5 Bushaltestellen-Übungen

22 PLANEN
22.1 Tagträumen
22.2 Neue Formate
22.3 Szenisch denken
22.4 Gemeinschaftlich Planen

23 VERZEICHNIS DER SPIELE UND FORMATE
23.1 Übungen
23.2 Spiele
23.3 Langformen und Showformate

24 IMPROVISATIONSTHEATER. ALLE BÄNDE
24.1 Veröffentlichungsplan
24.2 Inhalt der folgenden Bände

Deutsche Demokratische Lektionen

An meinem ersten Poetry Slam nahm ich mit neun Jahren teil. 1978 in der DDR. Um sich zum „Rezitatorenwettstreit“ der Schule zu qualifizieren, mussten erst mal zwei von unserer Lehrerin ausgesuchte Schüler ein Gedicht vortragen. Ich weiß nicht, woher ihre Laune kam, aber Frau Held entschied 1978, die Klasse über den besten Rezitator abstimmen zu lassen. Den Kindern waren die Gedichte piepegal. Und daher ich ging mit achtzig Prozent der Stimmen als Sieger hervor, da ich in der Klasse mehr Verbündete hatte als Anke. Doch nun geschah etwas Seltsames. Frau Held meinte, das sei ja alles schön und gut, aber besser vorgetragen habe ja nun mal Anke, die somit qualifiziert sei. Das war eine meiner wichtigsten Lektionen in Sachen Demokratie – nämlich, dass sie in der DDR nur eine ornamentale Floskel war.
An diese Episode musste ich denken, als ich vom Poetry Slam in Speyer las. Unter dem Motto „Zivilcourage“ sollten Jugendliche Texte vortragen, und man erhoffte sich einen Wir-sind-mehr-Gänsehaut-Effekt. Der Schuss ging nur leider nach hinten los, denn eine Teilnehmerin, die Tochter einer AfD-Bundestags-Abgeordneten begann mit: „Multikulti-Tralala, hurra die ganze Welt ist da“. Sie kam in die zweite Runde und legte nach mit „Der Neger ist kein Neger mehr“. Die Lösungen der Veranstalter für dieses Dilemma: Erst wird der Lautsprecher abgeschaltet. Dann wird sie von der Veranstaltung ausgeschlossen, da sie provozieren wolle und ihre Texte nichts mit dem Thema zu tun gehabt hätten.
Man mache sich nichts vor: Dieser Poetry Slam hatte nicht nur den Zweck, das Wir-sind-mehr-Kuschel-Gefühl herzustellen, sondern er war pädagogisch gemeint: Steht auf und zeigt Zivil-Courage. Was aber haben die vierzehnjährige Ida-Marie Müller und ihre Freundinnen bei dieser Veranstaltung gelernt? Genau das, was ihnen ihre Eltern wahrscheinlich andauernd predigen: Dass die Demokratie in Deutschland eine Farce sei bzw. von den Linken nur instrumentell eingesetzt würde. Dass Dissens nicht erwünscht ist. Dass die, die wirklich mutig sind und gegen eine Mehrheit stellen, selbst auf einer Veranstaltung, die sich Courage zum Thema macht, ausgegrenzt werden.
Und so widerwärtig die Gedichte sein mögen: Entweder du spielst Demokratie und Poetry Slam oder du spielst Diktatur, so wie Frau Held 1978 und gibst den AfD-Anhängern indirekt Recht.

Partisan

Die Wunden schwarze Löcher.
Ohne Heimat sterben
gönnt man doch keinem, nicht wahr?
So pflegten wir ihn, wie wir’s konnten,
mit tröpfelnder Hoffnung im Bauch
und Angst man würde ihn finden
und ihn erwürgen.

Im Juni stand er auf und ging
ohne ein Wort
und gab keinen Blick,
als gehörte Undank zu seiner Sorte
wie der Stein zur Pflaume.

Geruch der Kälte

In einer alten Laube,
der Tisch bedeckt vom Staube,
sucht’ ich des Nachts Asyl.
Ich fand zwei Tagebücher,
inmitten dicker Tücher.
Ich warf sie über: Es war kühl.

Schlaflos las ich die Seiten
aus längst vergangnen Zeiten.
Wer war wohl wer darin?
Autorin ist gestorben
Die Zeilen sind verdorben,
verfasst von der Selbstmörderin.

Über-Engagement

Es gibt Spieler, die wunderbare Figuren spielen, ihren Mitspielern zuhören, einen Sinn für gute Storys haben und auch hinter der Bühne angenehme Zeitgenossen sind. Aber trotzdem zögert man, mit ihnen zu spielen, da ihr überbordendes Engagement den Mitspielern kaum Luft lässt. Kaum wird das Licht aufgeblendet, sind sie schon mit ihrer Idee auf der Bühne. Sie geben die Richtung der Story vor, spielen die merkwürdigsten Figuren und dominieren überhaupt das gesamte Geschehen. Wenn eine Szene zwischen zwei anderen Spielern gut läuft, finden sie einen Grund, sich noch irgendwie einzumischen.
Ob du zur Sorte der über-engagierten Spieler gehört erkennst du an folgenden Merkmalen:

  • Bei einer Szene, in der du nicht mitspielst, fragst du dich: „Wie kann ich mich daran beteiligen?“
  • Du bist überwiegend derjenige, der die Szenen beginnt.
  • Die Mitspieler scheinen dir zu langsam.
  • Deine Ideen scheinen dir origineller als die deiner Mitspieler.

Was ist die Lösung? Zunächst einmal: Entspann dich. Der Erfolg einer Show ruht nicht allein auf deinen Schultern. Selbst wenn du deine Stärken kennst, solltest du den anderen die Gelegenheit geben, ihren Platz zu finden. Wenn das für „Lücken“ in der Show sorgt, ist das vielleicht nur deine Wahrnehmung und dein zu hektisches Timing.
Mit vollem Einsatz zu spielen bedeutet auch, zu wissen, wann man sich zurückzunehmen hat. Ein Kunstwerk wird nicht unbedingt besser, indem man immer mehr hinzufügt. Es ist dann perfekt, wenn man mit möglichst wenig Mitteln das beste Ergebnis erzielt hat. Wenn du also meinst (oder von deinen Mitspielern hörst), du seist über-engagiert, dann frage dich: Wie wenig kann ich tun? In Sinfonie-Orchestern sieht man bei einigen Konzerten den Percussionisten mit den Becken, der eine halbe Stunde im Hintergrund wartet, um schließlich beim Finale für den großen Krach zu sorgen. Vielleicht bist du bei eurer nächsten Show dieser Percussionist.

Nachruhm

Erst als er starb, begann man, ihn zu loben.
Ihr rühmtet ihn, obschon ihr früher schwiegt,
was nur zum Teil an euren Drecksmanieren liegt.
Ihr habt das Loben vor euch hergeschoben.

Und nun erfolgreich aufs Podest gehoben:
Er hat vom Lob nicht mehr viel mitgekriegt.
So geht’s: Der Körper kämpft, die Seele fliegt.
Er – noch hier unten. Sie – schon fast da oben.

Wir preisen den Versterbenden in hohen Tönen.
An sein Versterben muss man sich gewöhnen.
Die Rührung fett euch aus den Ohren quillt.
Jetzt, da er leider muss für immer dösen,
sagt ruhig, ihr wärt mit ihm ganz dick gewesen.
Denn Nachruhm nur den Lebenden was gilt.

Genuss

Einatmen, ausatmend seufzen.
Kein Andres jetzt existiert.
Der Geist ist wach und doch unbewusst übermannt vom gewaltigen Schauer.
Licht und Wärme und Harmonie und ein samtiger Kitzel.
Es schwillt und quillt, und du bleibst ganz und gar fokussiert.
Alle Morgen und alle Gestern verschmelzen in diesem Moment.

Geradheit

bereit, sich niemals aufzugeben, wie’s auch kommt,
so schlackerten nun die dürren arme, das haar zerzaust
zeugte von kämpfen, die er selten gewann.

die freunde wussten, auf ihn können wir uns verlassen,
der steht zu einem, komme was da wolle, doch viele
freunde waren ihm nicht geblieben.

ehrlichkeit währt am zweit- oder drittlängsten
geradheit ziert den, der den sturm überlebte
wenn du’s überlebt hast, lieben wir dich.

Kleine Panik

Zu seiner Hochzeit hatte er uns eingeladen.
„Was solln wir mit Geschenken! Schenkt uns lieber Geld!
Sucht euch in Monte Carlo ein Hotel!
Und sucht es schnell!“
Fürwahr, ein Mann von Welt,
der pendelt zwischen Geiz und Prahlerei
– das Kleid, der Porsche und der Ring.
Und doch, in seinem Blick noch stets ein Rest von Panik hing
des stets zu kurz gekommnen.

Kinderlied (Version: Alter Mann)

Liebe, liebe Sonne
komm ein bisschen runter.
Wärm mein kahles Hinterhaupt
(kahl, da es des Haars beraubt).
Wärme des Gesichtes Falten
(ich gehöre zu den Alten).
Wärme meinen schlaffen Po
(sitzen kann ich grad noch so).
Wärm mir den behaarten Bauch
(an Verdauung hapert’s auch).
Wärme mir die dürren Schenkel
(sind zu schwach für meine Enkel).
Spende Wärme meinen Eiern
(ham ja sonst nicht viel zu feiern).

Die Rechtfertigungskrankheit

Impro-Spieler sind in Games und TS-Aufführungen immer wieder beschäftigt, ihre Sätze, ihre physischen Positionen usw zu rechtfertigen. Es macht mich regelrecht krank, das mit ansehen zu müssen. Denn letztlich ist dieses verbale Rechtfertigen ein Ausdruck mangelnden Vertrauens in die Improvisation.
Eine Bewerbungsgespräch-Szene beginnt. Zwei Schauspieler starten übereinander gebückt. Eine dritte Spielerin kommt dazu: „Was machen Sie denn da?“ Die Spieler antworten irgendeinen ausgedachten Quark. Ein laues Lachen im Publikum. Und das soll alles sein, was Impro an Comedy aufzubieten hat? Warum spielen die Spieler nicht einfach die Bewerbungsszene weiter, ohne verbal auf das Ungewöhnliche einzugehen?
Dass die meisten Impro-Schüler sich das unmittelbare Thematisieren dessen, was sie gerade sehen, abtrainieren müssen, ist klar. Aber diesen verbalen Rechtfertigungs-Schrott auf die Bühne zu bringen, ist für mich eine der größten Impro-Krankheiten unserer Zeit.