145. Nacht

Das Gedichte-Regal ist alphabetisch sortiert, die Gedicht-Anthologien mehr oder weniger ungeordnet. Das Regal wird aufgefüllt mit Kollegenbüchern in alphabetischer Reihenfolge.

Vorn liegen ein Zeitungsausschnitt über B. Traven und zwei Mini-Gedichtbände, wie man sie gelegentlich zum Geburtstag geschenkt bekommt: "Die schönsten Gedichte von…" Im Regal würden sie verlorengehen.

 

Das elfte Buch von rechts:

Jochen Schmidt: "Seine großen Erfolge"

Erworben: Mai 2003 vom Autor geschenkt bekommen
Status: komplett gelesen, obwohl ich alle Geschichten schon von der Chaussee der Enthusiasten kannte
Erster Satz: "Normalerweise führt man nach Lesungen nur seelisch belastende Gespräche."
Kommentar: Für mich immer noch das beste Buch mit Lesebühnen-Texten. Durch mangelnde PR von der Presse fast völlig ignoriert.

***

Nachdem Nuzhat ez-Zamân ihren Peiniger getötet hat,

befahl sie den Sklaven, die Leiche an den Füßen hinauszuschleifen und sie den Hunden vorzuwerfen.

Der zweite Räuber ist der frühere schwarze Sklave el-Ghadbân, der Mörder von Abrîza, der auch prompt über diesen Vorfall berichtet.

Kaum aber hatte der Neger seine Worte beendet, so hieb ihm König Rumzân mit dem Schwerte die Kehle durch.

Der wirklich dümmste ist nun der dritte Räuber, der zugibt, der Kameltreiber zu sein, der damals Dau el-Makân nach Damaskus bringen sollte, ihn aber auf den Misthaufen warf, wo ihn der Heizer fand.
Und so kann nun auch Kân-mâ-kân Rache nehmen.

Stören wir uns nicht weiter an der Konstruiertheit dieser Geschichte, die notdürftig durch die Rache an den drei wichtigsten Schurken abgerundet wird. Eigentlich fehlt nur noch Dhât ed-Dawâhi.

Und tatsächlich schreibt Rumzân ihr einen Brief nach Konstantinopel, in dem er vorgibt, Bagdad sei von den Christen eingenommen und sie möge ihn doch besuchen.

Es stellt sich im Übrigen die Frage, welche Religion denn Rumzân ausübt. In Konstantinopel aufgezogen muss er doch Christ sein.

Tatsächlich lässt sich die Alte austricksen.

Dann aber führte man die alte Schawâhi , genannt Dhât ed-Dawâhi, umher, angetan mit einer roten Zipfelmütze aus Palmblättern, die mit Eselsmist gekrönt war, und vor ihr rief ein Herold aus: "Dies ist der Lohn derer, die sich an Königen und ihren Kindern zu vergreifen wagen!" Dann ward sie beim Stadttore von Bagdad ans Kreuz geschlagen.

Hier endet die Geschichte, die auf Befehl der Könige dokumentiert wird.

Dann verlebten sie den Rest ihrer Tage im schönsten Lebensglück, bis der zu ihnen kam, der die Freuden schweigen heißt und der die Freundesbande zerreißt.

Ende!!!

Seit dem 15. April habe ich nun an dieser ziemlich zähen Geschichte gelesen, und ich muss sagen, sie hat nicht unbedingt meine Motivation erhöht, diesen Blog so regelmäßig zu führen, wie ich es mir einmal vorgenommen hatte. Aber sehen wir mal, wie es weitergeht:

Da sprach der König Schehrijâr zu Schehrezâd: "Ich wünsche, dass du mir eine Geschichte aus dem Leben der Vögel erzählst."

Das hätte ich mir jetzt auch gewünscht.

137. Nacht

Tâdsch el-Mulûk feiert einen Monat lang Hochzeit mit Dunja.

und sie lebten hinfort immerdar herrlich in Freuden, bis der Zerstörer aller Wonnen zu ihnen kam.

***

Fortsetzung der Geschichte des Königs ibn en-Nu’mân und seiner Söhne.

Der Wesir Dandân hat seine Geschichte beendet, und allgemein wird festgestellt, dass man ja nun schon seit vier Jahren vor Konstantinopel lagert, die Truppen murren. Und Dau el-Makân beginnt, sich nach Weib und Kind zu sehnen.

Alles gute Gründe für die Beendigung eines jeden Krieges.

Man zieht also zurück nach Bagdad

Die Daheimgebliebenen scharten sich um die Heimkehrenden, und jeder Emir ging in sein Haus. Der König aber zog zu seinem Schlosse und begab sich zu seinem Sohne Kân-mâ-kân, der nun schon sein siebentes Lebensjahr vollendet hatte und bereits auszureiten pflegte.

Hab ich da etwas in der Zeitrechnung versäumt? Ich denke, es waren nur vier Jahre vor Konstantinopel?

Meinen ersten alleinigen Ausritt habe ich übrigens mit 9 Jahren gewagt. Das Fahrrad hatten mir meine Eltern zum Geburtstag mit der Bedingung geschenkt, ich dürfe mich damit nur durchs Wohngebiet bewegen. Also in den Grenzen Wilhelm-Guddorf-Str./Frankfurter Allee/Harnackstr.


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Sorina Albrecht überredete mich, die Spritztour auszuweiten, und so radelten wir bis zum Tierpark, und da die Straße „Am Tierpark“ damals noch nicht so dicht befahren war wie heute, erlaubten wir uns, singend schöne Schlängellinien mit unseren Fahrrädern auf der Schnellstraße zu fahren. Der Weg nach Hause gestaltete sich ein wenig schwierig, da wir ein wenig die Orientierung verloren hatten. Als ich gegen 20 Uhr zuhause eintraf wurde der Ärger meiner Eltern nur unwesentlich von ihrer Erleichterung mich wohlbehalten wiederzusehen relativiert. Mein Vater hatte bereits die Jacke angezogen, um die Polizei zu verständigen, meine Schwester hatte durch eine Lippenverletzung den Stress in der Familie noch befördert. Seltsamerweise wurde die Beschränkung aufs Wohngebiet nach diesem Vorfall nicht etwa verschärft, sondern aufgehoben. Komisch, diese Erwachsenen.

Der Heizer, der Dau el-Makân damals so viel geholfen hatte, soll nun endlich seinen Lohn erhalten.

Nun war jedoch der Heizer dick und fett geworden, und sein Gesicht wie der Bauch eines Delphinen gar. Auch war er stumpfen Geistes geworden, da er sich nie von der Stätte, an der er sich befand, gerührt hatte.

Nach einigem Hin und Her, Nichtwiedererkennen, zu bescheidene Bitten usw. macht man ihn zum Statthalter von Damaskus.

Max Weber unterscheidet drei Typen legitimer Herrschaft: rationale, traditionale und charismatische Herrschaft. Womit mag man es hier zu tun haben? Das Charisma eines Delphinbauchs.

Er möge, so Dau el-Makân beim Abschied, sich binnen zwei Jahren zum Kampf gegen die Ungläubigen bereitmachen.

Ein fetter Heizer als Heerführer?

Kudija-Fakân, die Tochter Scharkâns, wird von Dandân, der den Heizer zur Amtseinsetzung begleitete nach Bagdad zurückgebracht. Sie und Kân-mâ-kân wachsen gemeinsam auf.

Nur zeigte es sich, dass Kudija-Fakân umsichtig und verständig war und auf den Ausgang einer Sache achtete, während Kân-mâ-kân großherzig und freigebig war.

Nach weiteren vier Jahren setzt Dau el-Makân, der inzwischen Todesahnungen hat, seinen Sohn zum Sultan ein und bestellt den Oberkammerherrn zum Vormund über ihn.
Außerdem werden Kân-mâ-kân und Kudija-Fakân miteinander verheiratet,

was beachtlich ist, da Kudija-Fakân ja schon immerhin die Tochter von Bruder und Schwester war. Aber Vermeidung von Inzucht wird in dieser Geschichte und überhaupt in der damaligen islamischen Aristokratie nicht groß geschrieben.

Dau el-Makân spürt den Tod kommen und beauftragt nun seinen Sohn, die Rache für Scharkân zu übernehmen und Dhât ed-Dawâhi zu bestrafen.
Als Dau el-Makân nach vier Jahren Krankheit stirbt, setzt das Volk von Bagdad Kân-mâ-kân ab.

Historisch ziemlich unwahrscheinlich, dass das „Volk“ daran einen Anteil gehabt haben soll. Eher die Würdenträger und Machthaber, die um ihre beim Oberkammerherrn erworbenen Privilegien fürchten.

Kân-mâ-kâns Mutter, die Witwe von Dau el-Makân, wendet sich nun ihrer Trauer an Nuzhat ez-Zamân, ihre Schwägerin, die ihr Ehrenkleider und eine Wohnung in ihrem Schloss zuweist.… Weiterlesen

106. Nacht

(13.12.2007) Am Abend „Frühling, Sommer, Herbst, Winter und wieder Frühling“. Koreanischer Film über einen buddhistischen Mönch. Sehr ruhig. Schöne Bilder. Und es passt zu all dem, was ich in den letzten Tagen bei der Abschrift des Stein-Interviews, die ich kurz vorher beendet habe, noch mal gehört und rekapituliert habe. Viele schöne Kleinigkeiten. Die Türen in dem kleinen Haus, die scheinbar überhaupt keine Funktion haben, da es keine Wände gibt. Aber bald zeigt sich, dass sie Pforten zu verschiedenen Lebensbereichen sind: Schlafen, Beten, Essen, Ins Freie Gehen, Ins Weltliche. Denn selbst am See gibt es mitten im Wald eine doppelflüglige Pforte, die man durchschreiten muss, wenn man zum Haus auf dem See will. Der Meister beschriftet in einer kurzen Sequenz eine Tafel. Kaum hat er ein Zeichen beendet, verschwindet es. Man glaubt zunächst an Zaubertinte, aber dann zeigt sich: Er schreibt mit Wasser, dass vom Holz kurz aufgenommen wird, aber eben schnell wieder verdunstet. Auch schön, dass wir sehen, wie der Meister den Jungen, der ans andere Ufer gerudert ist, beobachtet. Aber wie kann er das tun, ohne selbst nass zu werden?, fragt man sich. Erst später zeigt sich, dass das Haus mobil sein muss, was er aber kaum nutzt, er rudert auch. Eine weiter schöne Stelle: Die Liebenden schlafen im freischwimmenden Boot. Um es heranzuholen, wirft der Meister einen Hahn ins Boot, dem er eine dünne Schnur ans Bein gebunden hat: Man kann nichts forcieren, zu viel Kraft zerstört alles, auch muss der Hahn als lebendes Wesen berücksichtigt werden. Einzig schwierig: Man kann als Zuschauer kaum anders, als die fünf Episoden in einen logischen, gar kausalen Zusammenhang zu stellen. So ergibt sich eine logische Wandlung vom impulsiven, tierquälenden Knaben zum impulsiven Liebenden zum impulsiven Mörder. Erst die überanstrengende körperlich-spirituelle Arbeit lässt ihn seelisch gesunden. Da aber der Kreis fest geschlossen wird – der Knabe, der zu ihm gebracht wird, ist sogar der gleiche Schauspieler – bleibt einem als Zuschauer im Grunde nur die Folgerung, dass in diesem Haus Mörder herangezogen werden. (Glücklicherweise hat man das in den Extras gezeigte Alternativ-Ende fallengelassen, in dem gezeigt wird, dass auch dieser Knabe Tiere quält.) Schlaumeierisch könnte man die alte Storytelling-Regel hinzufügen: „Don’t make too much sense.“ Loslassen können auch von einer erzählerischen Idee, sonst erscheint es gar zu festgezurrt, dem Rezipienten dick aufs Brot geschmiert.

***

Man versammelt sich am Grabe Scharkâns, sing Litaneien und spricht Verse. So auch Dau el-Makân

Sie trugen ihn fort – doch alle, die weinend ihm folgten, erschraken
Wie Mose, als der Sinai bebend stieg himmelwärts -,
Bis sie seine Gruft erreichten, da schien es, als wäre gegraben
Für ihn das rechte Grab in der Einheitsbekenner Herz.
Ich hatte nie geglaubt, vor deinem Begräbnis, ich würde
Mein Liebstes auf Händen von Männern dahingetragen sehn.
Nein, niemals habe ich gedacht, vor deiner Bestattung zur Erde,
Die leuchtenden Sterne könnten im Staube untergehn.
Ist der Bewohner des Grabes ein Pfand für eine Stätte,
Darinnen heller Glanz und Licht sein Antlitz verklärt?
Der Ruhm hat sein Wort gegeben, er wolle ins Leben ihn rufen;
Es ist, als sei der Begrabne ins Leben zurückgekehrt.

Dafür, dass sie sich erst seit wenigen Monaten kennen und er bis dahin seine Schwester für da Liebste gehalten hat, ein starkes Stück für Dau el-Makân.

Nachdem wir auch die Verse von Scharkân und einem seiner Freunde erfahren, bittet Dau el-Makân den Wesir, ihm am Abend eine Geschichte zu erzählen,

"vielleicht wird Allah dann den schweren Kummer aus meinem Herzen verjagen."

Wir ahnen schon, es folgt eine Geschichte in der Geschichte. Und damit endet, nach einem knappen Jahr Lektüre, der erste von sechs Bänden. Selbst verordne ich mir wieder einmal ein höheres Rezeptionstempo. Die Zweifel werden größer. Wirklich schöne Geschichten waren bisher nur wenige dabei. Der hier vorliegende Roman nur schwer genießbar in seiner Schwülstigkeit. Immerhin lässt sich auch hier lernen: Die Unbekümmertheit, mit der Helden und Handlungsstränge verworfen werden, widerspricht ja stark unserem Gefühl für Narrative, und doch bleiben wir bei der Sache.

105. Nacht.

(12.12.2007) Seltsamer Tag in Sizilien. Caucana und Punta Secca menschenleer, von ein paar Bauarbeitern, behinderten Alten, Hobbyanglern und Zufallsgästen im Caucana Inn abgesehen. Überall verschlossene Häuser. Hätte ich zwei Bodyguards, würde ich sie fragen, wo die ganzen Männer seien und zur Antwort bekommen: "Soni morti tutti di vendetta. Eh, li nomi di morti." Aber ich habe nicht einmal Bodyguards. Das Wetter so unbeständig, dass es selbst mich manchmal beängstigt, dabei liebe ich Sturm.
Am Abend eine Streife Carabinieri, die es verdächtig finden, dass sich jemand zu Fuß auf der Straße bewegt. In der Tat bin ich mit meiner Fußgängerei krasser Außenseiter wie in den USA – Straßen sind hier nur für Autos gemacht. Zum Glück habe ich den Pass dabei. Dass ich die Wörter turist, si und bene sagen kann, nehmen sie zum Anlass, mich vollzutexten.
Einseltsamer Dezemberurlaub. Aber was habe ich erwartet? Meine Solo-Urlaube in den letzten Jahren waren schon immer etwas seltsam. Buckow, Schildow, Odessa (wenn man Odessa Urlaub nennen kann) waren nie das, was ich dachte, aber auch immer auf ihre Weise schön.

***

Scharkân ist beerdigt.

Dann aber erwarteten sie, dass das Tor der Stadt geöffnet würde; doch es wurde nicht geöffnet, und niemand zeigte sich auf den Mauern, worüber sie sich sehr wunderten.

Was verstehe ich hier nicht? Erwarten die Muslime, dass die Griechen ihnen bereitwillig die Tore öffnen? Oder erwarten sie den Kampf?

Dau el-Makân schwört, Blutrache zu nehmen und Konstantinopel zu verwüsten.

Der junge Herr hat sich in den letzten Monaten zu einem regelrechten Sympathling gemausert.

Drei Tage lang warten sie vergebens vor en Mauern der Stadt.

Dhât ed-Dawâhi hat sich inzwischen in die Stadt begeben und schwört ebenfalls Blutrache für ihren Sohn.

Als ob sie die nicht schon genommen hätte.

Dann sprach sie zu König Afridûn: "Wisse, o König unserer Zeit, es ist mein Wunsch, für meinen Sohn die Trauerfeier anzusagen, den Gürtel zu zerschneiden und die Kreuze zu zerschlagen."

Unklar: Warum sollten sie die Symbole ihres Glaubens gerade zu Zeiten des Rituals ablegen?

Sie schreibt einen Brief an die Muslime, in dem sie ihre Untaten noch einmal schildert und so Salz in die Wunden reibt:

"… Wenn der Satan mir seinen Gehorsam weiht, so töte ich sicher auch euren Sultan und den Wesir Dandân."

Warum Satan? Gehen die Muslime davon aus, die Christen seien Satansanbeter? Oder ist dies der Sinn des "Kreuzzerschlagens" – dass man in der Not zur satanischen List greift?

Den Brief lässt sie am vierten Tag von einem Ritter durch einen Pfeil über die Mauer zu den Muslimen schießen. Auch Dau el-Makân lässt sich in seiner Bosheit nicht lumpen:

"Bei Allah, ich will nicht eher fortziehen, als bis ich ihr geschmolzenes Blei in die Scheide gegossen
und sie wie einen Vogel im Käfig eingeschlossen."

Er verspricht den Muslimen, die Schätze der Stadt unter ihnen aufzuteilen. Dandân tröstet den in einem fort weinenden Dau el-Makân mit den Dichterworten:

"Was nie geschehen soll, geschieht auch nie durch List;
Doch was geschehen soll, das wird geschehen.
Ja, was geschehen soll, geschieht zu seiner Zeit;
Allein, ein Tor kann es doch nie verstehen.

Ein Bote trifft ein mit der Nachricht, dass seine Gemahlin einen Sohn geboren hat, den seine Schwester (!) Kân-mâ-kân 105 genannt hat.

 

 

105 Was geschehen ist, ist geschehen.

 

***

104. Nacht

Wie nun Dhât ed-Dawâhi, die ja im Gewande des Asketen war, von dem Tode ihres Sohnes hörte, da wurde ihr Antlitz bleich, und aus ihren Augen flossen Tränen überreich; doch sie tat vor den Muslimen hocherfreut, als ob sie Tränen der Freude weine. Doch dann sprach sie bei sich selber: "Beim Messias, mein Leben ist nichtig, wenn ich ihm nicht durch seinen Bruder Scharkân das Herz verbrenne, wie er mir das Herz verbrannt hat durch König Hardûb."

Scharkân gesundet spontan und entlässt die Diener und Wachen nach diesem harten Tag von ihren Aufgaben, so dass sie sich alle schlafen legen.

Da sprang sie auf, als sei sie ein grindiges Bärenweib oder eine Viper mit fleckigem Leib.

Grindiges Bärenweib? Anspielung auf Wolfsmenschen?

Ruckzuck schneidet sie Scharkân und seinen Dienern die Köpfe vom Leib.

Wenn es etwas an diesem Roman zu bewundern gibt, dann doch dass er sich keineswegs schwer damit tut, die Protagonisten an unerwarteter Stelle abzuräumen. Man hätte ja schon gern noch gewusst, ob der Konflikt zwischen den beiden Brüdern an anderer Stelle noch einmal aufflammt. Scharkân im Grunde der impulsive Grobian, der zufällig auf der Seite der Guten steht. Immer wenn er auftauchte, trieb die Geschichte vorwärts – sein Verhältnis mit der griechischen Prinzessin, seine Eifersucht gegen die Stiefgeschwister, sein Ungestüm. Storytechnisch vielleicht nicht unbedingt clever. Die Technik, die Hauptcharaktere nach und nach abzumetzeln, könnte dazu führen, dass sich am Ende nur noch der Wesir Dandân und die alte Dhât ed-Dawâhi gegenüberstehen.

Auch zum Zelt von Dau el-Makân schleicht sie sich, das aber bewacht wird. Dandân hingegen spricht sie an:

"Willkommen, o frommer Asket!"

Er beschließt, ihr zu folgen, wird aber auch von ihr ausgetrickst, indem sie behauptet, einem Heiligen zu folgen, der erzürnen würde, wenn sie nicht allein käme.
Dandân geht nun zum Zelt Scharkâns und findet dort die blutige Bescherung.
Erst jetzt wird Dau el-Makân klar, was es mit dem Asketen auf sich hatte. Dandân bestätigt ihn:

"Wer anders brachte dieses Leid,
als jener Satan im Heiligenkleid?"

Dann bahrten sie Scharkân auf und begruben ihn im Gebirge dort und trauerten ob seiner weltberühmten Tugenden immerfort.

102. Nacht

Dhât ed-Dawâhi hatte, so erfahren wir, dem König Afridûn über ihre Listen benachrichtigt, so dass das christliche Heer die verbliebenen Moslems herfiel.

Und die Dreigötterverehrer schauten gierig auf das Volk des Glaubens drein.

Vater, Sohn und Heiliger Geist. Die Dreifaltigkeitslehre wird durchaus auch nicht von allen Christen anerkannt.

Nach der Schlacht beschließen die Christen, den Moslems ein Angebot zu machen, die Sache im Zweikampf zu entscheiden.

Dies kennen wir schon aus der 90. Nacht.

Die Christen sind sich ihrer Sache sicher und saufen die ganze Nach hindurch.
Afridûn selbst tritt zum Kampf gegen Scharkân auf.

Unklare Waffe: Speer aus Chalandsch 102

Scharkân saß auf einem edlen braunen Pferd, das war tausend Goldstücke wert.

Erinnert an den Gag von Helge Schneider über das wertvolle Klavier, das "über tausend Mark" gekostet habe.

…und so kämpften sie unverwandt, bald angreifend, bald zurückgewandt, spielend und in ernstem Ringen.

Das Wort Spielen mag in diesem Zusammenhang auffallen. Aber wer einen spielerischen Geist sein eigen nennt, wird auch angesichts des Todes spielen. (Stephen Nachmanovitch)

Afridûn bemerkt, dass Scharkân doch nicht so leicht zu besiegen ist, wie er dachte und packt ihn bei der Ehre:

"Ich sehe, dein Tun ist nicht preisenswert, dein Kampf ist nicht wie der eines Fürsten bewährt, sieh, wie dein Volk dich gleich einem Sklaven ehrt."

Der billigste Kindertrick, auf den aber ein so kindischer Brüllaffe wie Scharkân natürlich hereinfällt.

Tatsächlich dreht sich Scharkân zornig nach seinem Volk um und Afridûn nutzt den Moment, um seinen Wurfspieß zu schleudern. Im letzten Moment weicht Scharkân aus, aber an der Haut geritzt sinkt er zu Boden in Ohnmacht. Afridûn glaubt, der Sieger zu sein. Doch Dau el-Makân schickt Reiter zu Hilfe.

Klarer Bruch der getroffenen Vereinbarung. Aber Verträge mit Christen gelten hier wohl nichts.

Das scharfe jemenische Schwert tat gute Arbeit.

Schwerter aus dem Jemen?

 

 

102 Möglicherweise ist damit Khalanj (Birkenholz) gemeint.

101. Nacht

Von blutigen Tyrannen und Despoten ist hier ständig die Rede. Ein Blick aufs heute zeigt, wie sich die Zeiten geändert haben. Der Vollblutdemokrat Putin erobert in den Gebieten, die am meisten unter seiner Knute zu leiden haben, die meisten Stimmen. 99% in Tschetschenien.

***

Dhât ed-Dawâhi reitet nun zu den verbleibenden Truppen, und schickt diese in den Kampf gegen die Christen, zur Unterstützung von Dau el-Makân, Scharkân und Rustâm. Der oberbefehlende Kammerherr schickt einen Recken namens Tarkâsch zusammen mit zehntausend weiterer Recken.

Sie weiß ja schon, dass der Kampf für die Christen dort verloren ist, also geht es ihr nur um eine Reduktion der Truppenstärke vor Konstantinopel.

Die Truppen unter Dau el-Makân und Scharkân glauben bei der Staubwolke zunächst an einen weiteren Angriff christlicher Heere, umarmen aber einander, als sie das Banner der Moslems mit der Aufschrift "Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist der Gesandte Allahs" sehen.
Scharkân hat immer noch nicht das Vertrauen in den "Heiligen" verloren, denn als sie nach einem Eilmarsch eine weitere schwarze Wolke sehen und diese sich als der Reit-Staub der Dhât ed-Dawâhi herausstellt, küsst er hier Hände und Füße.
Sie bittet das Heer, den Muslimen im Kampf vor Konstantinopel beizustehen, denn

die Heiden legten den Muslimen eine Falle.

Abermals ist der Kampf ja schon im Gange und die Moslems würden ihre Truppen ohnehin unterstützen. Es geht ihr also nur darum, das Vertrauen zu ihr ("dem Heiligen") zu erhärten.

Einzig Dandân bleibt skeptisch:

"Bei Allah, mein Herz schreckt zurück vor diesem Asketen; denn immer nur sehe ich Unheil entstehen von solchen, die übermäßig beten." (…) Dann ließ Scharkân dem Asketen eine nubische Mauleselin bringen. (…) Doch jener weigerte sich zu reiten und spielte den Entsagungsreichen.

Sie kommen zum Schlachtfeld, und die Moslems unter dem Kommando des Kammerherrn sind im Rückzug begriffen.

100. Nacht

Wie soll man Klavier üben? Das Wichtigste zu Beginn ist die richtige Haltung.

Ich hab’s immer noch nicht ganz raus.

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Zunächst scheint Scharkâns Plan aufzugehen. Auf den Ruf "Allâhu Akbar!" springen die Christen auf und erschlagen sich vor lauter Panik gegenseitig, doch dann tritt ein, was Dau el-Makân befürchtet: Sie entdecken die Moslems, und es kommt zur Schlacht.

Scharkân aber schwieg.

Eine Tugend immerhin: Zu schweigen, statt sich in einem fort zu rechtfertigen.

Doch in diesem Moment kommt die vierte Kavallerie der Trupp von Rustam herbei und verhilft ihnen zum Sieg. Auf die Frage, wie es dazu gekommen sei, wird weitschweifig erklärt, dass die Generäle Verdacht witterten, als sie die Mauern Konstantinopels scharf bewacht sahen, die Stadt schien gewarnt. Und als dann die Könige nicht eintrafen, machte man sich auf den Weg, um ihnen in etwaiger Not beizustehen, während ein Teil des Heeres vor Konstantinopel wartet.

97. Nacht

Es hilft ja nichts. Nach mehrmaligem Innehalten, muss ich doch hier mal wieder das Tempo des Lektüre-Blogs anziehen. Inzwischen haben sich Bücher auf meinem Tisch angesammelt, die ich, ich wage es mir kaum einzugestehen, viel lieber bloggen würde: Luhmanns "Die Gesellschaft der Gesellschaft" und "Die Politik der Gesellschaft", Rimbauds gesammelte Gedichte, Shakespeares Historien. Wenn ich im jetzigen Tempo mit den 1001 Nächten weitermache, bin ich beim Ende 48 Jahre alt und reichlich märchenmüde. Nun also mehrere Nächte pro Tag, mt dem Ziel, das Ganze am 31.12.2008 abzuschließen.

***

Dhât ed-Dawâhi in Verkleidung des Heiligen schlägt Scharkân und Dau el-Makân vor, dass sie sich unsichtbar macht und

in Allah entschwunden sein wird,

so dass sie sich zu den Truppen vor Konstantinopel aufmachen kann, um mit zwanzigtausend Reitern zurückzukehren. Sie könne sogar zwei von ihnen mitnehmen,

denn der Schatten eines Heiligen kann nur zwei Menschen bedecken.

So willigt Dau el-Makân ein, ihr gemeinsam mit Dandân zu folgen, während Scharkân bei den Soldaten bleiben soll. Tatsächlich spazieren sie unbehelligt durch das Lager der (von der alten Dhât ed-Dawâhi instruierten) Soldaten und kommen am Engpass vorbei:

"Bei Allah, dies ist ein Wunder des Heiligen; kein Zweifel, er gehört zu den besonderen Freunden Gottes."

Dau el-Makân scheint so deppert wie sein Vater, der ebenfalls von der Alten ins Unglück gestürzt wurde.
Oder macht sich der Autor gar über den Heiligenglauben der Moslems lustig?

Und schon ergreifen die Soldaten die beiden.

Der Wesir Dandân rief: "Seht ihr nicht jenen dritten Mann vor uns?" Doch die Heiden erwiderten: "Beim Messias und bei den Eremiten, beim Primas und beim Metropoliten: wir sehen niemanden als euch."

96. Nacht

Endlich Arbeit und Einkommen zu entkoppeln, würde wohl eine Menge Druck aus dem alltäglichen Miteinander nehmen. Zurzeit sieht’s doch so aus: Alle wollen einen Job, aber kaum einer will arbeiten, weil die Jobs so schrecklich sind. Es wird ein gigantisches Heer von Beamten damit beschäftigt, Menschen in irgendwelche „Maßnahmen“ oder Jobs zu zwingen, in denen sie unglücklich werden. Und das bei Androhung des Entzugs vom grundlegenden Einkommen. Sich nicht in Lohnarbeit zu begeben, sondern selbst zu bestimmen, was man tut, wird als irgendwie unanständig angesehen. Ehrenamt schön und gut, aber bitte nur die Zahnarztgattin.
Der Gedanke eines bedingungslosen Grundeinkommens, ist inzwischen bei allen großen Parteien angekommen. Vor allem die SPD hadert noch sehr damit, ist doch gerade bei denen der Gedanke, dass Arbeit und Einkommen zusammengehören, fest verwurzelt. Schlimm auch, dass sich die Verfechter der Idee eher gegenseitig beharken, statt miteinander zu kämpfen. Man mosert über die Begrifflichkeit: Bürgergeld oder Grundeinkommen. Über die Höhe: 400, 800 oder 1.600,- Euro. Vor allem aber unterstellt man dem politischen Gegner bösen Willen. Aus dem Kampf um die Sache wird eine Ideologieschlacht. Eine kleine Liste von Gruppen, Personen und Parteien, die für ein bedingungsloses Grundeinkommen kämpfen oder gekämpft haben:

***

Das Heer bricht nun nach Konstantinopel auf, während Dau el-Makân, Scharkân, Dandân und Dhât ed-Dawâhi sich heimlich auf den Weg ins Kloster machen und dabei ein paar bewaffnete Reiter aber auch Maultiere und Kisten für die erwarteten Schätze mitnehmen.

Nun hatte die Hexe dem König von Konstantinopel auf den Schwingen eines Vogels eine Botschaft zugesandt, darin machte sie ihn bekannt mit allem, was geschehen war.

Dies dürfte eine Brieftaube gewesen sein, was aber zu der Zeit bei den Arabern bekannt war. So hielt sich der syrische König im 12. Jahrhundert bereits Brieftauben. Zu den europäischen Christen kam dieses Kommunikationsmittel anscheinend erst durch die zurückkehrenden Kreuzfahrer.

In dem Brief bittet sie den König, den Berg des Klosters heimlich zu umzingeln und weiht ihn ein in ihren Plan, der allerdings auch beinhaltet, den im Kloster lebenden Mönch Matruhina zu töten.
Tatsächlich finden sie den großen Schatz, töten den Mönch und warten drei Tage auf die von Dhât ed-Dawâhi versprochene Jungfrau, die aber, da sie die Anwesenheit der Muslime wittert, fernbleibt. Man beginnt den Abstieg vom Berg. und prompt fallen die christlichen Heere über sie an einem Engpass her.
Dandân rät, in einer Höhle Zuflucht zu suchen, doch Dhât ed-Dawâhi spornt sie zum Kampf an.

Wohl in der Annahme, dass diese Kampfeshelden an diesem Ort keine Chance haben.

Doch sie halten sich bis zum Einbruch der Nacht und verkriechen sich erst dann in die Höhle. Man vermisst den „Heiligen“ (Dhât ed-Dawâhi). Und kurz darauf kommt sie mit dem abgeschlagenen Kopf eines der christlichen Feldherren an.

Dieser war freilich schon vorher tot. Aber sie kann nun behaupten, ihn mutig im Kampf getötet zu haben und etwaige Zweifel an ihrer Story zerstreuen.

92. Nacht

Umfrage bei der Chaussee der Enthusiasten : Wer hält den Streik der Lokführer für gerechtfertigt?
5% meinen, es sei gut, dass sie streiken.
5% meinen, es sei nicht gut.
Die anderen haben keine Meinung. Udo Tiffert erklärt später, die Lokführer bekämen im derzeitigen System nicht einmal ihre langen Reisezeiten angerechnet, so dass ein Lokführer durchaus mal 12 Stunden unterwegs ist, aber nur 6 Stunden bezahlt bekommt.

Seltsame Streikformen:

  • Studentenstreik: Wer bestreikt wen? Die Studenten sich selbst? Lehrveranstaltungen fallen aus, umso schöner für die Professoren, die sich ihren prestigeträchtigeren Forschungs- und Publikationsaufgaben widmen können. Mit jedem Wintersemester probiert sich eine neue Generation an dieser Protestform aus. Dass das auch kulturell angenehme Folgen hat, zeigte sich im FU-Streik 1988/89, als das Mittwochsfazit gegründet wurde. Mein erstes Wintersemester 1990/91 an der Humboldt-Universität begann mit einem Streik, der eine doppelte Stoßrichtung hatte: Gegen Abwicklung der Professoren und Dozenten sowie gegen die finanzielle Beteiligung Deutschlands gegen am Krieg der USA gegen den Irak. Hat ein Studentenstreik eigentlich je etwas bewirkt?

  • Konsumstreik: Hat je jemand wirklich aufgrund dieses Streiks auf etwas verzichtet?

  • Sexstreik: Angeblich schon im alten Griechenland zur Anwendung gekommen (Lysistrata). Auch hier fragt sich, ob die Damen sich nicht selbst um eine Freude bringen.

  • Hungerstreik: Die Waffe des Schwächsten richtet sich ebenfalls gegen sich selbst. Ich erinnere mich an eine Szene aus "Ernst Thälmann, Sohn seiner Klasse", als die politischen Gefangenen eines Zuchthauses (Brandenburg?) in den Hungerstreik treten und der sadistische Wärter einen jungen Häftling zu verführen sucht, indem er in der riesigen Topf rührt. Dem jungen Kommunisten gehen die Augen über, aber das Klassenbewusstsein ist stärker. Er tritt den Topf um. Ärzten ist völkerrechtlich die Beteiligung an Zwangsernährung untersagt. Wer also ein brutales Regime führt, lässt am besten den Hungerstreik andauern und ignoriert die Konsequenzen.

  • Lesebühnenstreik: Könnten wir, wenn wir wegen der kümmerlichen Gagen mal einen Streik begönnen, die Zuschauer dazu bringen, mehr zu zahlen?

***

Mit dem Schlachtruf "Blutrache für Lukas" stürmen die Christen auf Scharkân ein, und ein unbekannter Ritter aus den Reihen der Muslime steht ihm zur Seite. Erst später gibt er sich als sein Bruder Dau el-Makân zu erkennen.

Auch dies könnte eine Übernahme des Motivs aus der Ilias sein.

In einer entsetzlichen Schlacht werden die Heere der Christen aufgerieben und ihre Schiffe gekapert. Konstantinopel, das zum Freudenfest geschmückt war, bricht in Trauer um die Gefallenen aus.

Doch Dhât ed-Dawâhi wäre nicht die Gerissene, als die wir sie kennen.

Hundert syrische Christen sollen mit ihr verkleidet als Muslime zum bagdadischen Heer ziehen.

89. Nacht

Auf Radio Eins haben sie die unsäglichen Traumdeutungen des Psychoanalytikers Dr. Claus Braun wieder ins Programm genommen, dessen Deutungen jedem seriösen Analytiker die Haare zu Berge stehen lassen. Ich glaube, für so etwas ist mal der Begriff "Küchenpsychologie" geschaffen worden: Ohne die Hintergründe oder gar den Alltag zu kennen, bastelt er – gewieften Astrologen gleich – die narrativen Elemente des Traums neu zusammen. Die Frage ist ja, ob man Träume überhaupt "deuten" kann, nur weil das schon immer so gemacht wurde. Es gibt bisher wenig Evidenz dafür, dass Träume im Freudschen Sinne uns Botschaften über das Unbewusste geben oder gar (so C.G. Jung) ein Weg zu unserem wahren Ich seien. Die bisher einzige empirisch halbwegs belegbare Funktions-Hypothese ist, dass Träume ihren Anteil zur Entstehung unseres Gedächtnisses haben (z.B. höherer REM-Anteil bei Kleinkindern). Ansonsten scheinen die Träume nur wenig zu bedeuten, zumal sich Trauminhalte erst beim Aufwachen ergeben, sozusagen in das emotionale Erleben hineingedeutet werden: Z.B. Ich bekomme im Schlaf aus physiologischen Gründen einen Wadenkrampf, was mir Angst verschafft – ich generiere den passenden Trauminhalt: Ein übles Monster sticht mir in die Wade. Dass natürlich Sachverhalte, die uns gedanklich an jenem Tag sehr beschäftigen oder die überhaupt eine große Rolle in unserem Leben spielen, zu Trauminhalten werden, ist klar, aber die Pathologisierung der Träume, wie es die Analytiker tun, scheint mir zu sehr ihrem professionellen Bedürfnis zu entspringen. Aber nur wenige Menschen können diese Art "Sinnlosigkeit" ertragen: "Es muss doch etwas bedeuten!" Tatsächlich kann es uns regelrecht quälen, wenn wir erkennen müssen, dass Ereignisse sinnlos sind, nicht-kausal usw.

***

Der hinterlistigen Dhât ed-Dawâhi ist es nun zu verdanken, dass 50.000 Mann übers Meer fahren, sich am "Berg des Rauchs" 89 verstecken und von dort den kämpfenden Muslimen in den Rücken fallen.
Die Schlacht geht los, von Dau el-Makân und Scharkân angeführt mit ca. 120.000 Mann,

während die Ungläubigen sechzehnhunderttausend zählten.

Was soll das für eine Streitmacht gewesen sein?

Scharkân wird seinem Ruf als Kriegsheld gerecht:

Er tobte unter den Tausenden und stritt, so furchtbar anzuschauen, dass Säuglingen davon die Haare ergrauen.

In dieser ersten Schlacht siegen die Muslime, und König Afridûn verspricht, nun den ruhmreichen Lukas, Sohn des Schamlût, einzusetzen und alle Emire

mit dem heiligen Weihrauch zu weihen. Der Weihrauch aber, den er meinte, bestand aus den Exkrementen des Großpatriarchen, des Lügners und Leugners. […] Die Patriarchen vermengten ihn mit ihren eigenen Exkrementen, da die des Großpatriarchen für zehn Provinzen nicht genügten. […] Und die mächtigsten Könige taten ein wenig davon in die Augensalbe und heilten damit Krankheit und Kolik.

Das eigentlich Erstaunliche ist hier nicht die groteske Beleidigung des Großpatriarchen, sondern dass sie seinem Kot tatsächlich heilende Wirkung zugestehen.

 

89 Ich glaube nicht, dass damit der Djebel Dukhan gemeint ist, da dieser im Bahrain liegt, während hier wohl eher das Mittelmeer gemeint ist. Aber welcher Vulkan?

50. Nacht

Scharkân erkennt,

dass sie niemandem etwas von ihm gesagt hatte, sondern dass die Kunde von ihm im Lande sich verbreitet hatte.

Er kämpft zunächst mit Ritter Masûra

und hieb ihm mit dem Schwert auf die Schulter, so dass ihm die Klinge glitzernd zum Rücken und zu den Eingeweiden herausfuhr.

Prinzessin Abrîza spornt die anderen Ritter an:

"Nehmt Rache für euren Führer."

Diesen anspornenden Blutdurst von Frauen, die bei Männerkloppereien anwesend sind, habe ich nie verstanden. Hier natürlich besonders deutlich, da ja Abrîza auf Scharkâns Seite steht.

Nachdem er fünfzig Ritter einzeln erschlägt, überfallen ihn alle gemeinsam, und er stürmt auf sie los,

bis dass er sie zermahlen und zerdroschen und ihnen Sinne und Leben geraubt hatte. (…) Dann trat die Prinzessin zu Scharkân und zog ihn an ihre Brust.

Brutalität, die mit Liebe belohnt wird.

Die Prinzessin bittet nun Scharkân, auch noch den Torwächtern, die die Boten des Königs durchgelassen hatten, die Köpfe abzuschlagen, was er prompt erledigt. dann offenbart sie sich:

"Wisse denn, ich bin die Tochter des Königs Hardûb von Kleinasien; ich heiße Abrîza, und die Alte, die Dhât ed-Dawâhi heißt, ist meine Großmutter von Vaters Seite her."

Da sie nun die Rache ihres Vaters und ihrer Großmutter fürchtet, stellt sie sich in Scharkâns Schutz, unter der Bedingung, dass er in sein Land zurückkehrt. Scharkân zögert, denn schließlich soll er seinem eigenen Vater, dem König Omar ibn en-Nu’mân den Schatz mit den drei Wunderjuwelen bringen. Abrîza berichtet ihm den wahren Hintergrund der Geschichte (zum Vgl. für die Geschichte aus der Sicht des konstantinopolitanischen Königs s. 45. Nacht. +++ Sophia, die Griechin ist diejenige, welche Scharkâns Geschwister geboren hat. vgl. 45. Nacht.)
Als vor einigen Jahren der König von Kleinasien das jährliche Klosterfest feierte, zu dem Könige aus allen Gauen  angereist kamen, war darunter auch Sophia, die Tochter des Königs von Konstantinopel. Als Sophia auf einem Schiff wieder abreiste, wurde das Schiff von 500 fränkischen Seeräubern von der Kampferinsel angegriffen und geentert. Die ganze Truppe geriet jedoch in einen Sturm und das Schiff zerschellte auf einem Riff. Die Kleinasier kamen herbei und betrachteten nun Schmuck und Mädchen als Beute, ohne zu wissen, wer diese seien und König Hardûb verschenkte nun die Sophia an den König von Baghdad Omar ibn en-Numân.

Auf die Idee, die Mädchen zu fragen, woher sie stammten, kam man offenbar nicht.

Die Nachricht erreichte nun auch den Vater von Sophia, König Afridûn. Hardûb zögerte, ihm die ganze Wahrheit mitzuteilen, zumal er inzwischen erfahren hatte, dass Sophia dem König Omar ibn en-Nu’mân Kinder geboren hat. Dann tat er es doch und Afridûn flippte aus:

"Was! Hat er eine Tochter gefangengenommen und sie mit Sklavinnen auf eine Stufe gestellt, so dass sie von Hand zu Hand weitergegeben und Königen als Gabe gesandt ist, die ohne Ehevertrag bei ihr liegen? Beim Messias und beim wahren Glauben, ich will nicht ruhen, bis ich Blutrache genommen und meine Schande getilgt hab; wahrlich ich will eine Tat tun, von der man nach meinem Tod singen und sagen soll."

Die Edelsteine hingegen gehörten Sophia, die andere Version (s. 45. Nacht) ist falsch.

Abrîza bittet nun Scharkân vorauszureiten zu seiner Truppe und sie zur Umkehr zu bewegen, sie käme nach:

"Ich sagte ihr Lebewohl: meine Rechte wischte die Tränen,
Die Linke umschlang sie und presste sie an das Herze mein.
Sie fragte: ‚Fürchtest du nicht die Schande?‘ ‚Nein!‘ gab ich zur Antwort,
‚Der Tag des Abschieds ist der Liebenden Schande allein.’"

Scharkân macht sich nun auf, befiehlt seiner Truppe umzukehren und nach fünf Tagen erreichen sie eine bewaldete Talsohle. Nach weiteren fünfundzwanzig Tagen erreichen sie die Grenzen des eigenen Landes

und das Landvolk brachte ihnen Gastgeschenke, Futter für die Tiere und Proviant.

Auf welche Grundlage diese Freiwilligkeit angesichts eines derart bewaffneten Heeres beruht, kann man sich denken.

Das Heer zieht unter der Führung des Wesirs Dandân wieder los, Scharkân aber bleibt mir hundert Reitern zurück.

Warum eigentlich? Wenn er wünscht, dass seine Ankunft in Bagdad gebührend gewürdigt wird, genügt ja ein kleiner Voraustrupp, der ihn ankündigt.

Einen Tag später,

als sie etwa zwei Parasangen50  zurückgelegt hatten,

nähert sich ihnen eine Staubwolke,

da traten hundert Reiter heraus, die sahen wir grimmige Löwen aus, mit eisernen Panzern gerüstet zum Strauß.

Man beachte wieder diese seltsamen Prosareime. "Strauß" im Sinne von Kampf habe ich nie zuvor gehört, aber sowohl Duden als auch der Microsoft-Thesaurus bieten diese Option. Angeblich aus dem Mittelhochdeutschen struz, wovon auch "sich sträuben" abzuleiten ist.Man lernt nie aus.

Die Ritter sind Franken, und nachdem sie einen Tag miteinander gekämpft haben, ziehen sich beide Parteien zurück, und bemerken, dass keiner verwundet oder gefallen ist. Die Moslems haben den Eindruck, von den Franken geschont zu werden. Am nächsten Tag wird einzeln im Zweikampf gefochten, und nun nehmen die Franken einen Moslem nach dem anderen gefangen, obwohl der Führer der Franken auf der Wange noch keinen Flaum hat.
Am nächsten Tag kämpft nun Scharkân mit dem fränkischen Anführer, und ist am Abend völlig perplex, denn er bemerkt an dem fränkischen Ritter:

"wenn er an seinem Gegner eine Blöße für einen Todesstoß sieht, so kehrt er seine Lanze um und stößt nicht mit dem unteren Ende!"

Erst am nächsten Tag, als sie wieder miteinander kämpfen, gibt sich der Anführer zu erkennen: Es ist Abrîza selbst, und die "Ritter"

"sind Jungfrauen, und doch haben sie im offenen Kampf deine Reiter besiegt."

Allgemeine Verbrüderung. Man zieht gemeinsam Richtung Bagdad, nicht ohne das Scharkân die Christen bittet, ihre fränkischen Gewänder abzulegen.

 

50 Eine Parasang (–> pers.) = eine Reitstunde. Die Distanz variiert zwischen vier und sechs Kilometern.

46. Nacht

Die Geschenke der Gesandten an den König bestehen aus

fünfzig der erlesensten Mädchen aus Griechenland und aus fünfzig Mamluken und Gewändern aus Brokat und mit Gürteln aus Silber und Gold; jeder Mamluk trug in seinem Ohr einen goldenen Ring mit einer Perle, die tausend Goldstücke wert war. Die Mädchen waren gleichfalls geschmückt, und sie trugen Stoffe, die sehr viel Geld wert waren.

Der König berät sich nun mit seinen Wesiren. Der älteste unter ihnen namens Dandân46 rät ihm zu, das Heer auszurüsten und den König von Konstantinopel zu unterstützen, unter anderem,

weil der König von Griechenland dir Geschenke gesandt hat, die du angenommen hast.

Geschenke als Erpressung. Keine verlorengegangene Praxis, sondern selbst in scheinbar unkomplizierten Zusammenhängen wie auf Studentenpartys zu beobachten: Man bringt eine Flasche Wein als Geschenk mit und erkauft sich durch dieses Geschenk das Recht, mitzusaufen. In familiären und intimen Beziehungen wird es noch komplizierter. Je liebevoller und ausgesuchter das Geschenk, umso höher die Erwartungshaltung. Der Fluch der Geschenke-Reziprozität.
Auf unserer Tour durch Sibirien werden wir mit Werken der örtlichen Autoren beschenkt – fast alles Dichterinnen. Glauben die wirklich, wir könnten das alles lesen und verstehen oder würden uns da durcharbeiten? Allein in Omsk ein halbes Kilo Gedichte:

Der König erwidert lobend:

„Von deinesgleichen sollten die Könige sich Rat holen, und es erscheint mir angebracht, dass du die Vorhut des Heeres führst.“

Ob das wirklich eine Ehre ist für einen Mann in dem Alter? Aber man wünschte es sich schon für jeden, der zum Krieg rät, egal ob sie Cheney, Wolfowitz, Huntington oder auch Dandân heißen.

Man stellt ein Heer von zehntausend Reitern zusammen plus Fußvolk und Tross.

Als drei Tage verstrichen waren, zog das Heer in die Vororte der Stadt Bagdad.

Wozu? Um zu lagern?

Dann zieht man los und eilt 21 Tage lang. Das Heer lagert in einem Flusstal. Da man sich in der Nähe zum Feind befindet, kundschaftet Scharkân die Lage persönlich aus. Irgendwann wird er müde und schläft ein, während das Pferd weitergeht. Zu Mitternacht bemerkt er, dass er sich in der Nähe eines Klosters befindet. Dort spielen zehn Mädchen miteinander

Die Wiese strahlt in herrlichem Glanze
Der weißen Jungfrauen dort.
Noch lieblicher wird ihre Schönheit und Anmut
Durch sie, der herrlichen Tugenden Hort.
Jede der Jungfrauen nimmt gefangen
Durch zarte Bewegung und Blicke so weich.
Sie lassen Haare herunterhangen
Dichten Trauben der Reben gleich.
Sie bezaubern mit ihren Augen,
Senden treffsicher Pfeile aus.
Sie schreiten dahin, und sie besiegen
Mannenführer, erprobt im Strauß.

Strauß?

Eine von ihnen sagt auf arabisch (!):

„Beim Messias, nein, das ist von euch nicht fein. Aber jede, die von euch noch ein Wort spricht, werfe ich zu Boden und binde ihr die Hände auf dem Rücken mit ihrem eigenen Gürtel zusammen.“

was sie auch tatsächlich tut. Da tritt ein altes Weib hervor

und sagte wie im Zorn zu ihr: „Du Metze, freust du dich, wenn du die Mädchen zu Boden wirfst? Siehe, ich bin ein altes Weib, und doch habe ich sie vierzigmal geworfen! Was hast du also zu prahlen? Aber wenn du die Kraft hast, mit mir zu ringen, dann tue es; dann werde ich dich fassen und dir den Kopf zwischen die Füße legen.“

46 Dandân (= دندان) bedeutet „Zahn“ und war das erste Wort, das ich auf Persisch konnte, nachdem Ralf aus dem Wörterbuch ein Wort herausgesucht hatte, das meinem Namen ähnelte.