Als wir unsere Tierpark-Runde beenden und uns von einer Tafel über die sieben hier gehaltenen Pelikan-Arten abwenden, frage ich mich spontan, wieviel ich davon behalten habe. Mit einigem Nachdenken kann ich mich an alle sieben erinnern. Heute, einen Tag später, sind es nur noch fünf. Wie bereit ist man überhaupt noch, sich en passant aktiv Wissen anzueignen, wenn es sowieso per Schlauphon abrufbar ist. Ich wette, dass es auch Wissenschaftlern (wenn es nicht gerade Zoologen sind) ähnlich gegangen wäre. Als Kind lief ich damals von Tafel zu Tafel, und merkte mir praktisch alle Tierarten und ihre Besonderheiten.
Im Alter zwischen 20 und 30 lernte ich fünf Fremdsprachen bzw. baute sie aus. Danach nur noch mal kurze zaghafte Versuche, mich an Französisch, Italienisch und Sizilianisch zu versuchen. Die anderen Sprachen bleiben aktiv oder verkümmern, abhängig davon, wie ich mit ihnen konfrontiert werde. Englisch lese und höre ich praktisch täglich. Russisch alle 1-2 Jahre. Bei Spanisch bilde ich mir immer ein, dass ich es jederzeit reaktivieren könnte. Mein Niederländisch ist eine einzige Schummelei, die darauf aufbaut, dass ich flämische Comics zu 90% verstehe. Persisch, das ich über drei Jahre lernte und mit dem ich mich ziemlich gut durch vier Wochen lang durch den Iran schlagen konnte, ist so verkümmert, dass ich mich lediglich an einzelne Vokabeln und einige grammatische Grundlagen erinnere.
Mein Studienfach Soziologie interessiert mich, wenn ich auf die leider inzwischen beinahe als abseitig geltenden Systemtheorie stoße.
Hirnforschung, Philosophie und Psychologie sind zu meinen Steckenpferden geworden. Jura ist es geblieben.
Das Thema Mathematik ist beinahe traurig: Ich war ziemlich gut in Mathematik. So gut, dass ich sie sogar studieren wollte. Wie weit würde ich heute noch mitkommen? Bis zur Differentialrechnung vielleicht?
Theatertheorie nimmt sozusagen aus beruflichen Gründen einen wichtigen Platz ein.
Welche Lernakte sind im Alter von über Vierzig noch bewusst? Wie selektiert man? Ist die Allgemeinbildung ein veraltetes Gut? Wieweit sollte ich Wissen aus der anorganischen Chemie parat haben?
Wichtiger noch: Selbst wenn man nebenbei lernt – über Wikipedia, TED-Vorträge, www.iflscience.com – wieviel behält man davon? Oder stumpft die Konsumtion von Wissen via Internet die Fähigkeit des aktiven Lernens ab?
Oder bin ich zu pessimistisch?
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436. Nacht
Die Sklavin Tawaddud verlangt von Abu el-Husn, sie dem Kalifen Harûn er-Raschîd für zehntausend Dinare anzubieten. Sie sei eigentlich noch mehr wert. Dieser tut das. Der Kalif fragt sie, auf welchen Wissenschaften sie bewandert sei.
Gibt es das in der europäischen Mythologie, in einem Volksmärchen, einer Heiligengeschichte, einer höfischen Erzählung? Dass der Wert einer Frau (genauer Magd) an ihrer Fähigkeit als Wissenschaftlerin gemessen wird?
Tawadduds Aufzählung ihrer Fähigkeiten umfasst eine komplette Buchseite, darunter:
„die Grammatik, die Dichtkunst, die Rechtswissenschaft, die Auslegung der Heiligen Schrift und der Sprachkunde (…), bewandert in der Tonkunst, der Pflichtenlehre, der Rechenkunst (…), der Erdmessung [es folgt eine Dreiviertel-Seite verschiedener Aspekte der Theologie], der Geometrie, in der Philosophie, der Heilkunde, der Logik, der Synonymik und der Metonymik. (…) die Dichtkunst (…) Wenn ich singe und tanze, verführe ich die Herzen; doch bin ich geschmückt und mit Spezereien gesalbt, so bringe ich tödliche Liebesschmerzen.“
Der Kalif ist einverstanden unter der Bedingung, dass berufene Männer sie prüfen. Als erstes lässt er den Statthalter von Basra, Ibrahim ibn Saijâr en-Nazzâm [Lesenswerter Artikel über ihn bei Wikipedia] rufen, der als beredter Dichter und Philosoph gilt und er möge weitere Wissenschaftler mitbringen.
Gibt es Wissenschaftler eher in Basra als in Bagdad?
Als erstes wird sie von einem Theologen geprüft, den ihre Antworten erstaunen.
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437. Nacht
Die Prüfung dauert an. Sie beantwortet nun u.a. folgende Fragen:
– Was ist der Verstand?
– Wo ist der Sitz des Verstandes?
– Was sind die unerlässlichen Pflichten und die ewig bestehenden Normen?
– Was sind die Erfordernisse des Glaubens?
– Diverse Fragen zur Ausführung des Gebets.
Hiro Onoda ist tot. Der Japaner starb am 16. Januar 2014 im Alter von 91 Jahren. Angeblich an Herzversagen. Ich aber tippe auf Schlechtes Gewissen als Todesursache. Im Zweiten Weltkrieg war Onoda als Offizier des militärischen Geheimdienstes auf den Philippinen eingesetzt und kämpfte erbittert weiter. Selbst als die kaiserliche Regierung schon lange kapituliert hatte, fühlte er sich an seinen Eid weiter gebunden. Er war dem japanischen Kaiser treuer als dieser gegenüber seiner eigenen idiotischen Kokutai-Ideologie. Mit drei Kameraden hielt er im philippinischen Dschungel aus und wartete auf den Tag, an dem sich das Blatt wenden würde. Selbst als seine Kampfgefährten flohen oder starben, selbst als Flugblätter mit kopierten Briefen von der Regierung und von seiner Familie auf ihn herabregneten, hielt er durch, denn das konnte ja alles nur ein Trick sein. Eines Tages, so war er sich sicher, würden ihn die kaiserlichen Truppen raushauen, und dann würde man es den Amis so richtig zeigen. 30 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, die Amerikaner waren gerade dabei, gleich nebenan einen anderen Krieg zu verlieren, begegnete er einem japanischen Studenten, der auf der Suche nach Onoda, dem Panda und dem Yeti war. Und jetzt kamen ihm erste Zweifel. Aber erst ein unterzeichneter Befehl seines früheren Vorgesetzten Major Taniguchi konnte ihn dazu bewegen, mit dem Abbrennen philippinischer Reisfelder aufzuhören. Zu dieser Zeit trug er immer noch seine Uniform, sein Katana-Schwert, sein Gewehr sowie etwa 500 Schuss Munition und mehrere Handgranaten bei sich. Für Onoda war es die Demütigung seines Lebens: Vom Geheimdienst-Offizier zum Survival-Robinson, und sein Kaiser hatte ihn vergessen. Vor allem aber war er enttäuscht von sich selbst. Nach all den Jahren hatte er den Eid doch gebrochen.
So wie ich. Ich erinnere mich noch genau. Es war ein sonniger November-Tag im Jahre 1987, als ich bewaffnet und in Uniform schwor, der DDR „zu dienen, den Sozialismus gegen alle Feinde zu verteidigen und mein Leben zur Erringung des Sieges einzusetzen. (…)Sollte ich jemals diesen meinen feierlichen Fahneneid verletzen, so möge mich die harte Strafe des Gesetzes unserer Republik und die Verachtung des werktätigen Volkes treffen.“ Wenn ich heute einkaufen gehe oder S-Bahn fahre, sehe ich die Verachtung in den Augen der Werktätigen: „Ach!“, denkt die Edeka-Kassiererin, wenn sie bekümmert und lustlos meine westdeutschen Waren über den Scanner zieht und mürrisch „23,89“ sagt, „auch so einer, der seinen Eid damals brach und dem wir die ganze Scheiße hier zu verdanken haben.“ In meinen häufigen Alpträumen hält die gesamte DDR-Bevölkerung inne, alle drehen sich zu mir um und schütteln missbilligend die Köpfe. „Aber was hätte ich denn tun sollen!“, schreie ich sie schuldbewusst an. Dabei wird es doch am Beispiel des braven Soldaten Onoda sonnenklar: Harre aus in den Wäldern Ostdeutschlands! Das Volk der DDR ist nicht so geschichtsvergessen wie der abgehobene japanische Kaiser. Der Plänterwald zum Beispiel. Im Vergleich zum philippinischen Dschungel, das muss doch jeder zugeben, wäre es doch ein Kinderspiel, da zu überleben. Gemäßigtes Klima, keine gefährlichen Raubtiere. Und von Schlangen, Spinnen und Malaria-Mücken ausgehende Gefahr hält sich in Grenzen. Ernähren könnte ich mich von Blaubeeren, Pilzen und Eichhörnchen. Und um das Ganze ernährungsphysiologisch abzurunden könnte man sich von Zeit zu Zeit einen Abstecher zu Burger King leisten. Natürlich wäre im locker geforsteten Laubwald die Gefahr hoch, von Spaziergängern entdeckt zu werden. Aber auch dafür gäbe es eine Lösung. Ich könnte mich verkleiden als Jogger und mich unerkannt unter die Einheimischen mischen. Ohne dass sie wüssten, welche Pläne ich wirklich hege, könnte ich mir eine Wohnung in einer der nahegelegenen Straßen Treptows suchen und dort als Schläfer ausharren, bis der Wind sich dreht und die arbeitende Klasse mich ruft. Dann, Agenten des Imperialismus, geht’s euch an den Kragen.
Aber ach, welchen Wert hat denn heute noch ein Eid, ein Schwur, ein Versprechen? Im Februar 1990, kurz bevor das SED-Regime endgültig kollabierte, wurde mein Freund Willy zur NVA eingezogen. Warum er sich nicht einfach nach Westberlin verpisste, wo man dem Ruf zur Waffe bequem ausweichen konnte, ist mir bis heute unklar. Er schwor den zu jener Zeit bereits antiquiert wirkenden Eid, nur um kurz nach den Volkskammer-Wahlen im April erneut auf die DDR vereidigt zu werden, diesmal aber mit dem nach dem Minister benannten um alle sozialistischen Bezüge entschlackten Eppelmann-Eid. Der Anschluss an die alte BRD ließ nicht lange auf sich warten. Nachdem sich Willy von einem Bein-Durchschuss, den ihm ein zu drastischen Späßen aufgelegter Kamerad verpasst hatte, erholt hatte, schwor er: „Ich gelobe, der Bundesrepublik Deutschland treu zu dienen und das Recht und die Freiheit des deutschen Volkes tapfer zu verteidigen.“ Wäre er Soldat auf Zeit gewesen, hätte er den Zusatz „so wahr mir Gott helfe“ anhängen müssen, ein Gott, den Willy für genausowenig existent hielt wie den Weihnachtsmann. Gesetzt den Fall, es gebe diesen Gott trotzdem, so könnte man fragen, ob er dem ungläubigen Willy dennoch hülfe. Aber die „ethisch-religiöse Bindungskräftigung“, wie es in den Kommentaren zum Soldatengesetz heißt, die wäre dahin. Kritiker der Vereinigung bemerkten damals, dass die DDR sich lieber an Dänemark hätten anschließen sollen, da die dortige Mentalität eher mit der ostdeutschen kompatibel sei, was sich durch den Spruch des dänischen Film-Ganoven „Ich habe einen Plan“ und dem regelmäßigen Scheitern dieser Pläne belegen ließe. Willy, so vermute ich hätte seine Treue auch dem dänischen oder dem marokkanischen Volk geschworen. Genaugenommen war er mit seinen drei Schwüren pro Jahr nicht einmal besonders produktiv, zumindest wenn man die heutige Schulholf-Schwörerei als Maßstab nimmt. „Chschwöre“, ist die andauernde Beteuerung des Halbstarken, dem man ohnehin kaum glaubt und der gerade deshalb seinen Gesprächspartnern immer wieder versichern muss, gerade dies Mal nun wirklich die Wahrheit zu sagen. Überhaupt scheint das der Schlüssel des Schwörens zu sein: Je größer die Anfälligkeit zum Abhauen und zur Illoyalität, umso eher muss geschworen werden. Wenn Gewehre und Kanonen auf dich gerichtet sind und die Lage aussichtslos scheint, musst du schon ordentlich mit Ehre oder Angst vollgepumpt sein, um nicht Reißaus zu nehmen. Vor Gericht wirkt sich Lügen fatal aus, was auch schon Moses wusste, als er das Lügen im Allgemeinen zwar zuließ, aber das falsch Zeugnis wider den Nächsten ablegen, verbot. Und so wird allenthalben geschworen, sobald vorne einer eine Robe anhat. „Wo du hörest hohe Schwüre, steht die Lüge vor der Türe.“ Wo geschworen wird, herrschen Macht, Angst, Ungerechtigkeit, Unsicherheit. Ob die Bundeskanzlerin manchmal, in diabolischen Momenten sich wünscht, sie dürfte den Nutzen vom deutschen Volke abwenden und den Schaden fürs deutsche Volk mehren? Doch dann erinnert sie sich wieder: „Ach ja, ich hab ja damals das Gegenteil geschworen. Dann wird ich wohl mal wieder ans unangenehme Tagwerk der Nutzenmehrung und Schadenabwendung gehen.“ Das in der bundesdeutschen Öffentlichkeit bekannteste Ehrenwort stammt ja bekanntlich vom Oberlügner, dem schleswig-holsteinischen Ministerpräsidenten Uwe Barschel. „Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass die gegen mich erhobenen Vorwürfe haltlos sind.“ Und man erkannte damals, noch während er sprach, diese betont schlaffe Unschulds-Mimik des schlimmsten Lügners der Schule, wenn er vom Direktor ertappt wurde und nach der Unschuldsbeteuerung schnell nach rechts unten schielte. Aber Barschel war kein Hiro Onoda. Merkel ist kein Hiro Onoda. Ich bin kein Hiro Onoda. Im Vergleich zu Hiro Onoda sind wir alle nichts als kleine Pinocchios. Und das ist vielleicht gar nicht mal so schlimm.
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431. Nacht
Umständlich wie üblich berichtet Ali seiner Frau, was ihm zugestoßen ist, und wir hören es auch noch mal. Er lässt sich in Bagdad als Kaufmann nieder und wird der berühmteste unter ihnen, so dass auch der König von Bagdad von ihm erfährt.
Was "der König von Bagdad" sein soll, habe ich nicht herausfinden können. Offenbar wohl nicht der Kalif, sonst hätten sie ihn ja so genannt. Infrage käme dann nur die vor- oder nach-abassidische Ära.
Der König lässt ihn jedenfalls holen und lobt ihn:
"Kaufmann, du hast unser Land beglückt!"
Das ist nun eine bemerkenswerte Auffassung für einen König.
Ali schenkt dem König vier goldene Platten voller Edelsteine. Dieser wiederum ist so erfreut, dass er Ali gleich seine Tochter zur Ehe anbieten will.
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432. Nacht
Die Berater halten die Hochzeit zwischen Ali und der Prinzessin für eine gute Idee, ebenso die Gemahlin des Königs. Ali und der "Kadi des Diwans" werden geholt.
Der Diwan ist der Hofrat der Regierung. Das wiederum macht es wahrscheinlicher, dass die Geschichte zur Zeit des Osmanischen Reichs spielt, welches ab 1534 n.Chr. Bagdad beherrschte.
Ali wendet ein, er sei ja schon verheiratet und legt dem König nahe, seinen Sohn mit ihr zu vermählen.
"Ich gewähre dir nicht nur diese Gunst, sondern ich mache dich auch zum Wesir."
Wozu? Glaubt der König, ein reicher Mann könne ihm gute Ratschläge geben oder gut mitregieren? Wieder ein schöner Fall von vor-systemischer sozialer Differenzierung: Der Kaufmann wird ohne Umschweife ob seines Reichtums zum Wesir gemacht. Sein scheinbares kaufmännisches Talent soll sich in politisches Geschick übersetzen lassen?
Man feiert die Hochzeit.
Am Ende der dreißig Tage ging Hasan, der Sohn des Wesirs, zur Tochter des Königs ein und freute sich ihrer Schönheit und Lieblichkeit.
Außerdem werden neben dem königlichen Palast zwei weitere Schlösser errichtet – eines für Ali und eines für Hasan und seine Frau.
So blieben sie beieinander in einem Leben der Glückseligkeit.
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433. Nacht
Der König wird krank, und nach Beratung mit seinen Ratgebern beschließt er, Hasan zu seinem Nachfolger zu ernennen.
"Denn wir wissen, dass er verständig und einsichtig und in allem vollkommen ist, und er kennt den Rang von hoch und gering."
Bisher haben wir von keiner bemerkenswerten Leistung Hasans erfahren außer der Entjungferung der Königstochter. Und selbst der "Kaufmann" und "Wesir" Ali ist nicht einmal durch kaufmännische Leistungen aufgefallen. Seinen Wohlstand verdankt er dem Dämon aus dem Spukhaus. Die Qualifikation, den "Rang von hoch und gering" zu kennen, führt uns auf die Fährte: Wir sind in einer streng stratifiziert differenzierten Gesellschaft. Das Oben und das Unten ist, was zählt. Und das scheint auch in anderen Erzählungen hier immer wieder durch – zum Beispiel wenn ein verarmter Adliger aufgrund seines Verhaltens als hochstehend erkannt wird.
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434. Nacht
Der alte König stirbt.
Und König Hasan, der Sohn des Wesirs, führte die Herrschaft; die Untertanen freuten sich seiner, und alle seine Tage waren eitel Glück. (…) Das Land gedieh, und er blieb lange Zeit hindurch König von Bagdad; und durch die Tochter des alten Königs wurden ihm drei Söhne geschenkt, die nach ihm das Reich erbten und herrlich und in Freuden lebten, bis Der zu ihnen kam, der die Freuden schweigen heißt, und der die Freundesbande zerreißt. Preis sei ihm, der da bleibet in Ewigkeit, und der durch die Macht Trennung und Einigung verleiht.
Das Irritierende an dieser Geschichte ist wieder einmal, dass sie so ganz unserem Verständnis des Storytelling widerspricht, nach dem der Held sein Leiden als Prüfung zu verstehen habe. Es gibt hier aber keinerlei Katharsis – Ali verarmt und kommt durch pures Glück zu Geld. Dies aber war "seit alters her" so vorgesehen. Alis Vater hatte für seinen Sohn gebetet. Und so kann das Ganze auch als Geschichte zum Lobpreis Allahs verstanden werden.
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Die Geschichte von dem Pilgersmann und seiner Frau
Ein Pilgerer verliert nachts den Anschluss an seine Karawane, verirrt sich, läuft weiter und entdeckt an einem Zelt eine alte Frau mit einem Hund. Als er sie um Essen bittet, schickt sie ihn in ein benachbartes Tal, um dort Schlangen zu fangen, die man braten könne, was er widerwillig tut. Das Wasser, das sie ihm zum Trinken anbietet, ist von beißender Bitterkeit.
"Ich wundere mich über dich, o Greisin, und darüber, dass du an diesem Orte wohnst und an solcher Stätte verweilst."
Da bemerkte Schehrezâd, dass der Morgen begann und hielt in der verstatteten Rede an.… Weiterlesen
Null Uhr, es ist ziemlich frisch. Radle durch Mitte. Seit langem mal wieder durch die Oranienburger Straße. Kaum noch etwas wiederzuerkennen. Die letzten 10 Jahre haben so viel verändert wie die 10 Jahre zuvor. In den Räumen der Assel ein Luxus-Schuh-Geschäft. Selbst wenn es 50 Jahre besteht, wird es nie ein Tausendstel an Menschen glücklich machen, wie die Assel früher in einem Monat.
Vor der Synagoge stehen nie Nutten, auch nicht auf der gegenüberliegenden Seite. An wen muss man sich da als Synagogen-Verantwortlicher wenden? Auf der Brücke Bodestraße die russische Akkordeonistin, der ich schon vor 15 Jahren dort immer auf dem Weg zur Uni begegnet bin. Gebe ihr 50 Cent und spreche sie zum ersten Mal an, nur kurzer Wortwechsel; erfahre, dass sie aus Moskau stammt und in der Nähe wohnt. Aber eigentlich wollen wir beide nicht reden. Fahre weiter. Die historische Mitte fast ausgestorben, und ich bin erschüttert wie schon früher, wenn man sich der Einmaligkeit dieses einsamen Moments bewusst wird. Ich stehe am Berliner Dom, der angemessen beleuchtet ist und bin jetzt der Einzige, der das sieht. Was für ein Luxus!
*
Am Tisch des Kalifen el-Mamûn gibt es eine Sitzordnung. Und mit jeder weisen Antwort, die der Fremde dem Kalifen gibt, rückt er eine Stufe höher, d.h. näher an den Kalifen.
Dann rüstete man zum Trinkgelage; die heiteren Tischgenossen kamen zuhauf, und der Wein begann seinen kreisenden Lauf.
Der Weise aber verweigert sich und erwidert auf die verwunderte Nachfrage des Kalifen:
"Wenn dein Knecht Wein tränke, so würde der Verstand weichen und die Torheit ihn erreichen."
El-Mamûn belohnt ihn für diese Weisheit mit hunderttausend Dirhems, einem Ross und prächtigen Gewändern.
Ob er zu saufen aufhört, wird hingegen nicht berichtet.
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Die Geschichte von Alî Schâr und Zumurrud
In Chorasân lebte ein Kaufmann, der, als er merkt, dass er stirbt, seinen Sohn zu sich ruft, und ihn zu Misstrauen ermahnt:
"Werde mit keinem Menschen vertrauter, als es sich gebührt."
In deiner Zeit lebt keiner, des Freundschaft man erstrebet, Kein Freund, der Treue wahrt, wenn das Geschick betrügt. Drum leb für dich allein, verlasse dich auf niemand! Mein Wort ist guter Rat für dich, und das genügt.
Soziologisch gesehen, sind Vertrauen und Misstrauen zwei Seiten einer Medaille. Die Medaille heißt Reduktion von Komplexität: Angesichts der Unfähigkeit, genügend Informationen zu haben, entschließt man sich, zur Erwartung, dass Alter im Sinne von Ego handelt. Oder (im Falle von Misstrauen), dass er das nicht tut. Sowohl Vertrauen als auch Misstrauen befähigen zu auf Intuition beruhenden Entscheidungen. Psychologisch hingegen sind weniger misstrauische Menschen meist im Vorteil. So konnten in einer Studie die misstrauischen Probanden weniger gut Lügner am Gesicht erkennen.
Doch auch folgendes gibt der Vater mit auf den Weg:
Es bietet nicht zu jeder Zeit und Stunde Sich uns Gelegenheit zu guter Tat. Wenn sie dir möglich ist, so tu sie eilends, Eh sich die Möglichkeit entzogen hat.
Ich hatte immer den Eindruck, dass sich Luhmann, sobald er auf das Wirtschaftssystem zu sprechen kam, doch zu sehr von seinen persönlichen politischen Präferenzen leiten ließ: Mit der Diagnose, die Politik könne das Wirtschaftssystem nicht steuern, schüttete er das Kind mit dem Bade aus. Die Politik hat letztlich, so Luhmann, so gut wie gar keinen Einfluss auf das Wirtschaftssystem. Der Kern dieser soziologischen Beobachtung: Das politische System kann die Wirtschaft nicht anweisen, besser zu wirtschaften. Die überbordende Bürokratisierung und Verplanung der Wirtschaft im real existierenden Sozialismus ist ein schönes Beispiel dafür, wie die Allesplanung die Wirtschaft letztlich lähmte. Und doch werden im politischen System verbindliche Entscheidungen getroffen, wie gewirtschaftet wird. Das beginnt natürlich mit der Vertragsfreiheit und deren Kehrseite – der Haftung. Das Wirtschaftssystem ist außerdem nicht in der Lage, sein eigenes Kommunikationsmedium – nämlich das Geld – bereitzustellen. Das muss die Politik tun, und zwar mit gehörigem Augenmaß, sprich genauer Beobachtung der wirtschaftlichen Kommunikation, also der Zahlungen in Industrie, Geldmärkten, Arbeitsmarkt usw. Aber kann das Funktionssystem Wirtschaft derzeit überhaupt angemessen seine Funktion erfüllen? Und kann es das in Zukunft? Wirtschaften beginnt, wenn der Weizen nicht heute aufgefressen wird, sondern man anfängt zu kalkulieren: Der Weizen wird heute schon an den verkauft, der ihn nächstes Jahr braucht. Die Funktion des Systems besteht darin, trotz allgegenwärtiger Knappheit Versorgung sicherzustellen. Dafür eignet sich Geld, wie wir es heute kennen, eigentlich ziemlich gut, denn es hat seinen Eigenwert verloren, d.h. es nutzt nichts, es zu horten, wie man es mit den Golddukaten noch tat. Nicht Haben/Nichthaben ist die Leitcodierung, sondern Zahlen/Nichtzahlen. Und was die kurz- und mittelfristige Versorgung betrifft, macht der Kapitalismus seine Sache zumindest dort einigermaßen gut, wo auch die politischen und rechtlichen Systeme einigermaßen stabil sind. Was aber die langfristigen Knappheiten betrifft, so muss man sagen, erscheinen sie schlicht nicht auf den Monitoren des Wirtschaftssystems oder nur undeutlich als Rauschen. Die Zukunft ist insgesamt zu unsicher, als dass sich lohnen würde, über Investitionen zu spekulieren, die sich vielleicht in fünfzig Jahren auszahlen. Oder anders gesagt: Warum sollte ich nicht in ein Kohlekraftwerk investieren, wenn es in den kommenden Jahren Rendite abwirft? Warum sollte ich in energiesparende Autos investieren, wenn das a) die Konkurrenten nicht tun und b) sich Dreckschleudern schneller verkaufen lassen? Es gilt als umstritten, wie lange die Erdölvorräte noch reichen – 30, 50 oder 150 Jahre. Aber es ist klar, dass sie in einem absehbaren Zeitraum äußerst knapp werden. Das spiegelt sich aber ebensowenig in den heutigen Preisen wieder wie die Begrenztheit berechenbaren Klimas. Für diese Art von Knappheiten ist das Wirtschaftssystem nicht ausgerüstet. Und hier stimme ich wieder mit Luhmann überein: Da nützen auch keine wohlmeinenden Appelle. In 100 Jahren etwas zu verdienen, lohnt sich einfach nicht. Die Aufgabe der Politik bestünde nun darin, die Sensoren für diese Knappheiten neu zu justieren. Oder anders gesprochen: Die Systeme Wissenschaft, Politik, Recht und Wirtschaft brauchen neue Kopplungen. Das politische System muss die wissenschaftliche Erkenntnis, dass wir einigen enormen globalen Gefährdungen gegenüberstehen, für die Wirtschaft übersetzen. Harte Steuerpolitik, wo dem Ökologischen System die Puste ausgeht. Wirtschaftliche Anreize, wo es sich bisher noch nicht lohnt (denn die Pioniere scheitern fast immer).
*
Tatsächlich rudert das Boot mit Harûn er-Raschîd, Dscha’far und el-Masrûr an der Seite des Boots mit dem falschen Kalifen. Man geht auf der anderen Seite des Ufers an Land und die drei versuchen, sich unter den Mamluken hindurchzuschmuggeln, werden aber von den Leuchtenträgern gefasst und vor den falschen Kalifen geführt, vor dem sie sich damit rechtfertigen, sie seien Fremde.
"Euch soll kein Leid widerfahren, da ihr fremdes Volk seid. Wäret ihr von Bagdad, so würde ich euch die Köpfe abschlagen lassen!" Dann wandte er sich an seinen Wesir mit den Worten: "Nimm sie da mit dir; sie sind heute nacht unsere Gäste!"
Seltsam, dass er die drei nicht erkennt, hat er sich doch seinen falschen Wesir und seinen falschen Schwertträger nach den Äußerlichkeiten der Originale ausgesucht.
Man kommt an ein Schloss,
einem Bau auf festem Fundament, wie ihn kein Sultan sein eigen nennt.
Nicht einmal der Kalif?
Die drei werden zum Gelage eingeladen.
Nachdem die Schüsseln abgetragen und die Hände gewaschen waren, wurde das Weingerät gebracht.
Weinkaraffen oder -kannen?
Aber Harûn er-Raschîd weigert sich zu trinken, mit der Begründung, lange nicht getrunken zu haben. Man bietet ihm stattdessen Apfelwein an.
So blieben sie beieinander in Fröhlichkeit und widmeten sich den Bechern der Seligkeit, bis der Wein ihnen zu Kopfe stieg und ihrer Sinne Herr ward.
Was ich mal nicht mochte, jetzt aber immer noch nicht
Tocotronic
Fisch
Orgelfugen
Samt
Kalt duschen
Fußballgucken
Walt-Disney-Comics
Was ich mal mochte, jetzt komischerweise immer noch
Boney M.
Honig
Früh aufstehen
atonale Musik von Hanns Eisler
Texte meiner Kollegen der Chaussee der Enthusiasten
Zaubertricks
***
Alâ ed-Dîn hört auf seine Mutter, schmeißt Ring und Lampe weg. Ende der Geschichte.
Alâ ed-Dîn besteht darauf, die Lampe zu behalten. In den folgenden Tagen leben sie vom Verkauf der Schüsseln, deren Wert Alâ ed-Dîn nicht kennt. Er nimmt eine nach der anderen zum Basar, und verkauft sie einem Juden,
der gemeiner war als der Teufel.
Für jede Schüssel erhält er einen Dinar und der Jude flucht insgeheim, dass er ihm
Scheint eine seltsame Übersetzung aus dem Französischen zu sein. Denn der Dreier als Kleinmünze war nur in Norddeutschland gebräuchlich, nicht aber in Frankreich. In China schon gar nicht.
Nachdem die zehn Schüsseln und auch noch der Tisch verkauft sind, rubbelt Alâ ed-Dîn wieder an der Lampe, alles wiederholt sich. Nach dem Verbrauch der Lebensmittel will er wieder die Schüsseln verkaufen, wird aber von einem muslimischen Händler abgefangen, der ihn darüber aufklärt, dass
den Juden das Gut der Muslime, die den einigen Allah, den Erhabenen verehren, als erlaubte Beute gilt.
Man beachte, dass diese antisemitischen Zeilen vom Franzosen Galland verfasst wurden.
Der muslimische Händler gibt ihm siebzig Dinar pro Schüssel, und Alâ ed-Dîn lernt nun auf dem Basar das Handeln, verkehrt auch unter Juwelieren und erfährt so, dass die Steine, die er aus der Höhle geholt hatte, keine Glasmurmeln sind, sondern Edelsteine. Eines Tages läuft ein Ausrufer durch die Straßen der Stadt und befiehlt allen, sich zu verbergen,
denn die Herrin Badr el-Budûr, die Tochter des Sultans will sich ins Bad begeben. Jeder, der diesen Befehl übertritt, wird mit dem Tode bestraft werden.
Wie lange war wohl die Prinzessin nicht mehr baden?
Um sie zu beobachten, versteckt sich Alâ ed-Dîn hinter der Tür des Badehauses.
Wer streute Zauberschminke wohl auf die Blicke ihr Und pflückte Rosenblüten wohl von der Wange ihr? Ein nächtlich Dunkel ziert der Haare schwarze Pracht, Doch ihrer Stirne Licht erhellt die finstre Nacht.
Die ersten Verse in dieser Erzählung. Man beachte den Primreim der ersten beiden Zeilen.
Alâ ed-Dîn kehrt heim, legt sich nieder und wird liebeskrank.
Mein Laptop-Kabel war defekt. Ich kaufte mir ein neues bei Ebay. Kann man dem Verkäufer vorwerfen, dass das Kabel nach billigem Parfüm stinkt? Ich sehe regelrecht den einsamen dicken Laptop-Kabel-Händler in seiner traurigen mit Laptop-Kabeln zugehängten Wohnung, und stündlich versucht er, sich über seine Existenz mit Parfüm zu trösten. Da aber der Laptop-Kabel-Handel nicht so viel einbringt, langt es nur zu billigem Parfüm. Ich kann den Laptop nur noch im Batteriebetrieb bedienen und muss die Akkus in meinen Arbeitspausen über besagtes Kabel aufladen. Wichtig: Händewaschen nicht vergessen, sonst träumt man beim Mittagsschlaf von einsamen dicken Laptop-Kabel-Händlern, die sich über ihr billiges Leben mit billigem Parfüm trösten. Das Tolle am Internet ist, dass man andere an sinnlichen Wahrnehmungen teilhaben lassen kann: Musik, Texte, Bilder, Filme usw. Nur Geruch- und Geschmackswahrnehmungen waren bisher von er Datenfernübertragung ausgeschlossen. Ich habe nun extra das Dateiformat .muff kreiert, dass einfache Gerüche wie z.B. billiges Russenparfüm digital komprimiert speichern kann: Download: www.danrichter.de/leckerbissen/2008/parfum.muff Den Muff-Player veröffentliche ich demnächst.
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Regal Soziologie
Elftes Buch von links
Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft
Erworben: 26.1.2003 im 10bändigen Schuber Status: Von 2003 bis 2006 ca. 1 Seite täglich gelesen. Erster Satz: "Die folgenden Untersuchungen betreffen das Sozialsystem der modernen Gesellschaft. Kommentar: Im Nachhinein bereue ich es beinahe, diesen Blog nicht zu "Gesellschaft der Gesellschaft" zu schreiben, sondern manchmal mich durch langwierige Storys über orientalische Liebende, die nicht zueinander kommen, zu fräsen. "Die Gesellschaft der Gesellschaft" ist eines der wichtigsten Bücher, die ich je gelesen habe. Das letzte große von Luhmann zu Lebzeiten fertiggestellte Werk. Er schreibt hier völlig auf der Höhe seiner intellektuellen und stilistischen Fähigkeiten. Die Zeiten des vorsichtigen Stocherns im Moor der neuen Theorie (wie z.B. in "Soziale Systeme) sind vorbei. Er weiß, worum es ihm geht, er bewegt sich sicher in seiner eigenen Theorie und muss sich nicht in einem fort links und rechts mit hölzernen Begriffen und unübersichtlicher Syntax absichern.
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Prinzessin Budûr nimmt ein Bad
Offenbar allein, sonst flöge der Schwindel auf.
Armanûs, der König der Ebenholzinseln ist erfreut über die Ankunft Budûrs, da er glaubt, nun einen Schwiegersohn gefunden zu haben:
"Drum soll sie dein sein, mein Sohn." (…) Da senkte die Herrin Budûr ihr Haupt und vor Verlegenheit perlte ihre Stirn von Schweißtropfen.
Sie befürchtet, Armanûs würde, falls sie ablehnt und weiterreist, ihr hinterherjagen und sie töten lassen, andererseits käme bei einer Hochzeit die Wahrheit heraus.
Intoleranz gegenüber Homo-Ehe auf den Ebenholz-Inseln
Budûr willigt ein, und der König verpasst ihr die Sultanswürde. Es wird ein Fest gefeiert, die Emire einberufen,
und ein jeder, der sie anblickte, ward durch das Übermaß ihrer Schönheit und Anmut so erregt, dass er seine Hosen nässte.
Die Hochzeit mit Hajât en-Nufûs wird rasch gefeiert, und als die beiden alleingelassen werden, tut Budûr nichts als Trauer-Verse rezitieren und Hajât en-Nufûs auf den Mund zu küssen. Dann dreht sie sich um und schläft. Am nächsten Tag regiert Budûr und spricht Recht. Sie verleiht den Emiren Ehrengewänder und schafft die Gebühren ab. Als sich Budûr auch in der zweiten Nacht nicht um die Entjungferung Hajât en-Nufûs‘ kümmert, beklagt sich diese am nächsten Morgen bei ihrem Vater, der ihr verspricht, Budûr in dem Falle der weiteren Penetrations-Veweigerung ihrer Ämter zu entkleiden und sie aus dem Land zu jagen.
Es gelingt der Alten, den Eunuchen einzuschüchtern, und so wird sie selbst zur Türhüterin, während sich Tâdsch el-Mulûk mit Dunja amüsiert
mit Armen umwunden und innigst verbunden.
Am Morgen wird er in ein anderes Zimmer geschickt, damit Dunja mit ihren Sklavinnen spielen kann.
Und in dieser Weise blieben sie einen Monat beieinander.
Azîz und der Wesir fürchten nun, dass man Tâdsch el-Mulûk gefangen genommen habe und kehren zu dessen Vater Sulaimân Schâh zurück, der gleich nichts besseres zu tun hat, als zum Heiligen Krieg zu rüsten.
mit einem Heere so groß, dass es den Horizont versperrte
Gewalt, um es mit Michael Stein zu sagen, ist nichts weiter als beschleunigter Dialog. Oder systemtheoretisch gesehen: Wer aus den Kommunikationssystemen ausgeschlossen ist, dem bleibt noch der Zugriff zum Körper. Nun kann man beim König wohl nicht von Exklusion sprechen, eher von fehlender Evolution der entsprechenden symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien oder aber auch einfach von Inkompetenz, diese anzuwenden.
In der Zwischenzeit überreicht der Vorsteher der Goldschmiedezunft dem König Schehrimân ein goldenes Kästchen, welches dieser der Prinzessin bringen lässt. Der Eunuch Kâfur findet dabei unser Paar in flagranti. Flugs wird er vor den König gebracht, der befiehlt, ihn zu enthaupten. Der Scharfrichter zögert noch…
Bemerkenswert in diesem Beruf.
Doch der König droht ihm, ihn selbst zu enthaupten, und so hebt der Scharfrichter den Arm,
Viel mehr als die Lektüre von Tausendundeine Nacht hat mich in den letzten dreieinhalb Jahren "Die Gesellschaft der Gesellschaft" von Niklas Luhmann beschäftigt. Pro Tag ungefähr eine Seite. Lektüre-Ort war derselbe Lokus wie jener, auf dem ich von 2000 bis 2003 die Bibel gelesen habe. Zwischendurch immer wieder. Man kann gewiss behaupten, ein Lektüre-Blog von "Die Gesellschaft der Gesellschaft" wäre allemal wichtiger für die Welt als die mit banalem Schnickschnack versehenen Geschichten aus Tausendundein Nächten. Nur habe ich schon mit der Darstellung und Kontinuität der 1001 Nächte meine liebe Müh. Wieviel mehr wäre das bei einer derartig komplexen Materie?
Outing: Mein Außen-WC in der Libauer Str. 9. Die Jahre 1991-2006.
Bild einer Plastik "Kackender Hund" Ausriss aus taz 1990. Von wem die Plastik ist, weiß ich nicht, der Text darunter war ein Pamphlet von Freya Klier.
Foto Hundekack-Verbotsschild in Antwerpen, ca. 1993, König Baudouin I., Foto amerikanische Austauschstudenten 1953 an der FU Berlin, Foto Kinder in New York 30er, Foto Jugendliche in New York 80er, Straßen-Basketball – Angreiferin und Verteidiger (Ort unbekannt) Ausriss aus taz, Mode-Trash-Queen, Eichhörnchen und Marder – antapezierte Bilder meiner Vorgänger.
Foto von Jochen Schmidt/Dan Richter/Ralf Petry 1990 im Probenraum Kastanienallee 87, Ausriss aus "Morning Star" von 1989 (Gedächtniszitat): "Actress Una Stubbs and friend visited London’s Hyde Park yesterday to help launch SCOOP, the first national campaign against dog excrements that foul the public streets and places. The campaign is pointing out that up to 100 children go blind each year. Bild von Egon Schiele aus "Das Magazin", Bild von Hanns Eisler, Bild und Zitat von W.C.Fields: "I don’t drink water because fishes fuck in it.", Sonnenuntergang Heidelberg (ausgewählt von Eva Hernández), Bild "The Rolling Stones", Spaßpostkarte ausgewählt von Steffi Winny, Foto Prince aus Kumasi, Postkarte König Baudouin I. mit Fabiola von mir an Jutta Borostowski, Foto Christine Mohnhaupt und Anke Jahn 1987, Postkarte Charles und Diana von Jutta Borostowski an mich, Postkarte Königin Elisabeth II. von Jutta Borostowski an mich, Postkarte Papst Johannes Paul II. von Jutta Borostowski an mich
Schloss und Riegel.
***
Die Christen willigen in den Plan von Dhât ed-Dawâhi ein. Unterdessen erbittet sich Dau el-Makân von seinem Bruder Scharkân bedingungslose Treue bei seinem Rachefeldzug:
"Ich will will fünfzigtausend Griechen hinrichten und dann einziehen in Konstantinopel."
Scharkân gibt zu bedenken, dass Frau und Kind auf ihn warten. Darauf Dau el Makân:
Versprich mir, Bruder, dass du mir, wen Gott mir einen Sohn schenkt, deine Tochter für ihn zur Frau gibst." "Herzlich gern", erwiderte Scharkân.
Das Cousinenehe-Motiv, ist uns hier schon früher begegnet.
Man rückt im Eilmarsch auf Konstantinopel vor und macht Rast auf einer großen Ebene.
Blick auf die lachende Wiese; ist es nicht, Als sei ein grüner Mantel auf sie gebreitet? Siehst du mit dem leiblichen Auge, dann schaust du nur Einen See, in dem das Wasser sich wiegend gleitet. Siehst du mit deiner Seele in seine Baumkronen hinein, So schwebt über deinem Haupte ein Glorienschein.
Auf dieser Wiese nun begegnen sie den Syrern – den angeblichen Kaufleuten.
Der Wesir Dandân fährt fort, Dau el-Makân davon zu berichten, wie die vierte der hochbrüstigen Jungfrauen dem König Omar ibn en-Nu’mân ihre Weisheit unter Beweis stellt. Wieder durch Anekdoten.
Er – den Gott selig haben möge 82 – sagte auch: "Das Heil der Seele liegt darin, dass man ihr widersteht, und ihr Verderben darin, dass man ihr folgt."
Gemeint ist wohl Triebbeherrschung, die als Problematik im Westen seit Freud quasi von der Religion entkoppelt wurde und in die Psychologie ausgelagert wurde. Für die harten Fälle (Gewalt) stand damals wie heute das Recht bereit. Und die Bereiche haben sich verschoben: Sexuelle Triebbeherrschung wird als nicht mehr als Problem empfunden, und wenn, dann nur in der Frage des Fremdgehens, womit die Paare selbst klarkommen müssen. Wer sich sexuell nicht ausleben kann, wird eher bemitleidet. Dafür richtet der Überfluss an elektronischen Verbreitungsmedien (vor allem Fernsehen) Deformierungen in der Psyche an. Überfluss an Nahrung Deformierungen der Physiologie. Anscheinend sind unsere Hirne so ausgerichtet, dass wir gar nicht anders können als auf bewegte Bilder bzw. auf das fett/süß/warm-Schema anzuspringen.
Außerdem beginnt das vierte Mädchen die Geschichte über Moses und Shuaib (Jitro).
Bibel 2. Mose (Exodus) 2.21. Interessant, dass dieser als Meister von Mose verehrte Mann, es gewesen sein soll, der ihm zur Einsetzung von unabhängigen Richtern riet. Begründet wird das zunächst nur mit arbeitsmäßiger Entlastung. Quasi unter der Hand jedoch treibt er damit soziale Differenzierung voran, die hier noch in der Form der Stratifizierung erscheint: Es werden "redliche" Oberste "über tausend, über hundert, über fünfzig und über zehn" (Exodus 18.21). Aber wir sehen hier auch funktionaleDifferenzierung angelegt: Rechtsprechung wird getrennt von Gesetzgebung und Religion. Die letzten beiden behält Mose bis zu seinem Tode in der Hand; er bleibt sowohl der Priester als auch der Verkünder der Gesetze.
82 Ich nehme an, gemeint ist der Prophet Mohammed.
Wieder erleben wir eine spiegelbildliche Handlung. (Der Wesir Dandân berichtet) Die hochbrüstigen Jungfrauen beweisen dem König ihr Wissen, so wie wir es vor einigen Nächten von Nuzhat ez-Zamân gehört haben, als sie vor Scharkân trat.
Die erste Jungfrau lobt wortreich die Tugend und schmäht das Laster
die auch in Europa zu jener Zeit typische, primitive, an Religion gebundene Form moralischer Kommunikation.
Einen Freund, so die Jungfrau, soll man gut auswählen,
Denn ein Freund ist nicht wie ein Weib, von dem man sich scheiden und das man zurücknehmen kann. 79
Eine beachtliche Feststellung: Das legt nahe, dass die Bindung an einen Freund eine tiefere sein müsste und dass die Bindung an das Weib viel weniger mit Vertrauen zu tun haben könnte.
Strebe danach, den Herzen Verletzungen zu ersparen; Nach der Entfremdung ist die Umkehr ihnen so schwer Denn sind die Herzen der Liebe einmal erst entfremdet, Sind sie dem Glase gleich – gesprungen, heilt es nicht mehr
Weitere Feststellung:
Wer viel Wesens macht, aus seinem kleinen Leiden, den schlägt Allah mit einem noch größeren.
Es folgen Bemerkungen zu Kadis, die im Wesentlichen darauf hinauslaufen, dass Kadis gerecht und unabhängig sein sollten.
Az-Zuhri 79a meinte, man möge einen Kadi aus drei Gründen entlassen:
wenn er die Gemeinen ehrt,
wenn er das Lob liebt,
wenn er die Absetzung fürchtet.
Zumindest den letzten beiden Gründen hat das bundesdeutsche Recht die Grundlage weitgehend entzogen: Richter dürfen sich nicht zu laufenden Fällen öffentlich äußern, und sie sind de facto unabsetzbar.
79 Die Scheidung von einer Frau ( طلاق – talaq) kann der Mann zwei Mal zurücknehmen, erst beim dritten Mal ist sie unwiderruflich (Koran 2:229). Es genügt die verbale Verstoßung. Davon gibt es diverse Ausnahmen: z.B. ist ein Scheidung ungültig, wenn sie während der Monatsblutung der Frau ausgesprochen wurde. Frauen dürfen sich auch scheiden lassen, allerdings nur vor Gericht.
79a Ich vermute, es geht um Ibn-Schihab az-Zuhri (auch el-Zuhri oder al Zuhri) – der zurzeit von Omajadenkalif Omar II. die prophetischen Lehren und Traditionen (Hadith) bewahrte, aus Furcht sie könnten verloren gehen. Anscheinend ein Mann mit ausgezeichnetem Gedächtnis, lernte er mit sieben Jahren den Koran innerhalb von acht Tagen auswendig.
Um ihre vom Händler so gelobte Klugheit zu prüfen, behält Scharkân die vier Kadis60 bei sich und dem Kaufmann. Seine Halbschwester (und Sklavin) tritt mit den Gattinnen der Kadis hinter einen Vorhang. Als die Gattinnen der Kadis mit ihren Sklavinnen eintreffen, begrüßt sie diese anmutig
und setzte sie dem Range nach. Sie (…) sagten zueinander: "Dies ist keine Sklavin, sondern eine Königin, die Tochter eines Königs."
In stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften nimmt bei zunehmender Herausforderung des stratifikatorischen Prinzips das Bedürfnis des Adels zu, sich durch immer ausgeklügeltere Manieren, Gesten, symbolische Verhaltensweisen vom Nicht-Adel, aber auch innerhalb des Adels zu unterscheiden. Zum Zeitpunkt der Handlung dieser Geschichte dürfte es noch nicht soweit gekommen sein, aber Anmut, Verhalten, Wissen und Tugend fallen quasi automatisch zusammen und offenbaren die noble Herkunft.
Scharkân ruft sie nun an und erbittet einen kurzen Vortrag über die vielen Themen, auf denen sie angeblich so bewandert sei,
selbst in der Astronomie.
Warum ausgerechnet ihre astronomischen Kenntnisse ein solches Erstaunen bei ihm hervorrufen, scheint mir unklar: Gilt diese Wissenschaft als modern in jenen Zeiten? Oder verwundert ihn, dass ausgerechnet eine Frau sich hier auskennt?
Nuzhat beginnt ihren Vortrag mit dem Thema Regierungskunst. Die Welt werde eingeteilt in die religiöse und die weltliche. Das weltliche Wirken zerfalle in
Regierung
Handel
Ackerbau
Handwerk
Diese Einteilung wirkt ein wenig befremdlich, sie ist einerseits feiner als die altgriechische, die nur zwischen Haushalt (Wirtschaft) und Politik (Öffentlichkeit) trennt, andererseits fragt man sich, wo sich hier z.B. die Bildung und das Familienleben einordnen.
"Religion und Königstum sind Zwillingsgeschwister; die Religion ist ein verborgener Schatz, und der König ist sein Wächter."
Sie kategorisiert außerdem die Könige:
König des Glaubens
König, der das Heilige schützt
König der eigenen Lüste
Von Ardaschîr weiß sie obendrein zu berichten, dass dieser vier Siegelringe anfertigen ließ:
Siegel des Meeres: Staatsdienste
Siegel der Steuern: Kultur
Siegel der Ernährung: Fülle
Siegel der Bedrückung: Gerechtigkeit
Das ist für einen Systemtheoretiker schon erstaunlich: Fülle kann ja leicht umgekehrt gedacht werden: Knappheit – die Kontingenzformel des Wirtschaftssystems, Gerechtigkeit die des Rechtssystems.
60 Die vier Kadis sind (neben Scharkân) die höchsten Richter der Stadt und die Vertreter der vier orthodoxen Rechtsschulen. Um ein solches Amt zu bekleiden, muss derjenige nicht nur juristisch, sondern auch allgemein gelehrt sein. Insofern dürfte Scharkân eine gute Wahl getroffen haben.
60a Bemerkenswert, dass ein vorislamischer Staatsmann der Erste ist, den sie zitiert. Ardaschîr ist der persische Begründer der Sasanidendynastie (ab 224 n.Chr.). Aber er galt auch in islamischer Zeit als erfolgreicher Expansions- und Innenpolitiker.
Ghadbân, lass ab von mir! Genug hab ich gelitten Vom Unbill der Geschicke und der grausamen Zeit. Unzüchtiges Gebaren hat Gott, der Herr, verboten; Er sprach: ‚Wer mir nicht folgt, ist dem Höllenfeuer geweiht.‘ Fürwahr, ich werde nie zu schlechtem Tun mich neigen; Nein, das verachte ich. Lass mich, sieh mich nicht an! Lässest du mich mit deiner Gemeinheit nicht in Ruhe Und wahrst nicht meine Ehre um Gottes willen, dann Ruf ich mit aller Kraft die Mannen meines Volkes Und hole sie, die Nahen, und auch die Fernen herbei, Und würde ich auch zerschlagen mit einem jemenitischen Schwerte, nie zeigte ich einem gemeinen Kerle mein Antlitz frei, Keinem von allen Freien und Leuten aus edlem Geschlecht – Und wieviel weniger noch einem elenden Bastard und Knecht!
Abrîza warnt den Sklaven Ghadbân mehrfach, allerdings in einer Art und Weise, die auch weniger leicht erzürnende Menschen51aufbringen könnte:
"Wie darf deinesgleichen ein solches Ansinnen an mich stellen? Du Bastardbrut und Tunichtgut! Glaubst du, die Menschen sind alle gleich schlecht?"
Die Rhetorik der Ehre misst hier mit zweierlei Maßstab: Einerseits gilt es, die spezielle adlige Ehre der Prinzessin zu wahren. Und diese funktioniert ihrem Kodex vor allem als Abgrenzung nach unten, zu anderen sozialen Schichten. Das betrifft sowohl das Ansinnen des Sklaven, mit ihr sexuellen Kontakt zu haben aber auch die adelsinternen Codes der Ehre überhaupt (z.B. sich mit Waffen zu verteidigen, obwohl Abrîza hier natürlich auch schon durch ihre Kämpfe die Gender-Grenzen gesprengt hat). Andererseits misst sie an einer "alle Menschen" umfassenden Moral, der zufolge man einer gebärenden Frau nicht mit solchem Anliegen gegenübertritt und schon gar nicht: sie bedroht.
Beim Anhören dieser Worte wurde der elende Knecht noch zorniger, und seine Augen noch röter; er trat zu ihr hin und schlug mit dem Schwert in ihre Halsader und verwundete sie zu Tode.
Ups! Das ist ja nun mal eine narrative Überraschung! Abrîza, die schon Heldin der Geschichte zu sein schien, stirbt hier etwas unvermittelt. Allerdings scheint auch, seit sie durch Omar ibn en-Nu’mân entehrt wurde, kein Platz mehr für die Fortsetzung der Liebesgeschichte zwischen ihr und Scharkân gewesen zu sein. Es ist ein wenig, wie auch in den modernen "Urbanen Legenden": Wer sich in Gefahr begibt, wird bestraft. Hier liegt der Sündenfall bei Abrîza, die ihre Eltern verlässt.
Im Sterben gebiert Abrîza einen Knaben, die Dienerin Mardschâna ist dabei Hebamme. Und während der Sklave Ghadbân flieht, nähert sich eine Staubwolke, und es ist tatsächlich König Hardûb, der seine Tochter suchte und nun sehen muss, dass er nach all der langen Zeit nur Minuten zu spät gekommen ist. Als er dann noch hört, dass der Mörder ein Sklave des Königs Omar ibn en-Nu’mân gewesen ist, und dass dieser König die Prinzessin vergewaltigt hat, steht für ihn fest, Rache zu nehmen. Aber als sie zurückkehren und er sich bei seiner Mutter, der alten Dhât ed-Dawâhi ausheult, sagt diese:
"Niemand hat deine Tochter getötet als Mardschâna."
Und sie rät ihm, die Rache gegen Omar ibn en-Nu’mân von langer Hand vorzubereiten:
"Bringe mir eine Anzahl von Mädchen, hochbrüstige Jungfrauen, und berufe die Weisen der Zeit. Die lass die Mädchen unterrichten in der Philosophie und im feinen Benehmen vor Königen, in der Kunst der Unterhaltung und des Dichtens."
Die Weisen sollen Muslime sein. Und die Rache soll durch diese Mädchen eingefädelt werden:
"denn die Liebe zu den Mädchen ist seine schwache Seite."
80 Tage lang lässt der Kalif Kût el-Kulûb im dunklen Zimmer. Dann kommt er daran vorbei und vernimmt ihre Klage:
"O Ghânim! (…) Du handeltest gut an einem, der schlecht an dir gehandelt hat. (…) Aber wahrlich, du wirst mit dem Beherrscher der Gläubigen och vor einem gerechten Richter stehen, und du wirst dein Recht von ihm erhalten an dem Tage, an dem er Herr in seiner Majestät und Allgewalt der Richter ist und die Engel die Zeugen sind."
Der Kalif lässt sie von seinem Eunuchen Masrûr zu sich holen und entschuldigt sich auf Kalifenart bei ihr:
"Es gibt keine Majestät und es gibt keine Macht außer bei Allah! Erbitte dir eine Gnade, sie soll dir gewährt werden."
Sie erbittet ihren Geliebten Ghânim. Und der Kalif verspricht:
"Wenn er vor mich tritt, so will ich dich ihm schenken als das Geschenk eines Großherzigen, der seine Gabe nicht widerruft."
Man will diesen aufgeblasenen Gockel mal irgendwann stürzen sehen 43. Sollte er sich nicht wenigstens an der Suche nach Ghânim beteiligen, so wie er auch dessen Verfolgung beauftragte?
Kût el-Kulûb sucht nun nach Ghânim, besucht die Ältesten der Gemeinde und verteilt Almosen in Ghânims Namen.
Unklar: Rolle der Gemeindeältesten in Bagdad
Auch dem Vorsteher des Basars (der, wie wir wissen, Ghânim pflegt) erhält eine Spende mit dem Auftrag, sie unter den Fremdlingen zu verteilen. Dieser stellt ihr die etwas sonderbare Frage:
"Herrin, willst du zu mir in mein Haus kommen und dir einen fremden Jüngling dort ansehen, der schön und anmutig ist?"
Sie lässt sich von einem Knaben dorthin führen, pflegt Ghânim, ohne ihn zu erkennen, da er immer noch dünn wie ein Zahnstocher ist, und kehrt zum Palast zurück.
Seltsames Verhalten eigentlich: Warum kommt sie überhaupt mit, wenn sie nicht glaubt, dass es Ghânim sein könnte. Und wenn sie andererseits diese Vermutung hegt, so könnte sie ja mal etwas genauer hinschauen, denn er trägt ja immer noch die Kleider, von damals, oder, wie es der Basarvorsteher ausdrückt:
"Bei Allah, er stammt von guten Leuten und trägt die Spuren des Wohlstandes."
Kurz darauf treffen auch Ghânims Mutter und Schwester ein, und auch sie sind
in härene Gewänder gekleidet und tragen deutlich die Spuren des Wohlstandes und Glückes an sich.
was offenbar auch ein entscheidender Grund ist, warum sie vom Basarvorsteher aufgenommen werden. Reichtum scheint mit göttlicher/natürlicher Noblesse gekoppelt zu sein. Und es ist für den Einzelnen eine von Allah anzurechnende Tugend, die Dinge wieder ins Lot zu rücken – also dem Edlen zu helfen, wenn ihm das Glück abhanden kam. Aristoteles, dessen Schriften unter Dscha’far eingeführt wurden, argumentiert, dass aus den getrennten Teilen des zusammenhängenden Ganzen auch immer ein Regierendes und ein Regiertes hervorgeht. Oder – wie Luhmann das hochmittelalterliche Denken in Bezug auf menschliches Handeln und Natur beschreibt: "Beides ist zwar Natur, aber während das Feuer immer heiß ist, wenn es brennt, und die brennbaren Dinge immer verbrennt, erreicht der Adelige nicht immer die seiner Natur entsprechende Perfektion, und dies obwohl die Natur immer in Richtung vom Imperfekten aufs Perfekte nimmt." 43a
…die beiden haben jede einen Brotbeutel um den Hals hängen; ihre Augen sind voller Tränen und ihr Herz voller Betrübnis.
Einen Brotbeutel mussten wir als Kinder im Alter von 5-8 Jahren tragen, und unser Herz war ob dieses umständlichen Utensils und manchmal fraglichen Inhalts ebenfalls oft voller Betrübnis. Designt waren sie wie unsere Schultaschen – außen Leder, innen Plaste. Wurstklappstullen und Äpfel. Schön der Tag, als wir unsere Stullen ganz normal in der Schultasche transportieren durften (in meinem Fall in ausgewaschenen Milchtüten, wie sie in Ostberlin typisch waren). Und ich habe nicht einmal ein Foto davon. Stattdessen – wie es eben üblich ist – einen Haufen Urlaubsfotos.
Die beiden klagen über ihren verlorenen Sohn und Bruder Ghânim. Kût el-Kulûb darauf:
"Seid getrost, denn dieser Tag ist der erste eures Glücks und der letzte eures Unglücks! Seid nicht mehr traurig!"
43 Der historische Harûn er-Raschîd aber starb (ohne gestürzt zu werden) wenige Jahre nachdem er die Barmekiden-Familie ihrer Positionen beraubt und ihre Mitglieder hingerichtet oder eingesperrt hatte. Der Fluch kam, wenn man so will, über Harûns zwei Söhne, unter denen er das Reich aufteilte, das damit instabil wurde.
43a s. Niklas Luhmann: Gesellschaft der Gesellschaft. 2. Teilband, S. 917, Frankfurt/M. 1998
Der Kalif Harun er-Raschîd lässt die Geschichte in den Chroniken aufzeichnen. Und durch Verbrennen einer Haarlocke wird die Dämonin, die die Schwestern in Hündinnen verzauberte, herbeigerufen, und der Kalif befiehlt ihr, die Verzauberung rückgängig zu machen.
Eine zwischen politischer und religiöser Herrschaft oszillierende Figur wie den Kalifen finden wir in Europa eigentlich auch nur so lange, bis Heinrich den Gang nach Canossa antritt und beim Papst auf religiöse Herrschaft verzichtet. Die Ausdifferenzierung des politischen vom religiösen System beginnt in Europa zu jenem Zeitpunkt. Im muslimischen Gebiet etwa mit dem Ende des Kalifats, aber sie ist im Grunde bis heute nur teilweise vollzogen: So gelten angebliche Abkömmlinge Mohammeds oft als befähigt für Politik. Im krassesten Fall äußerte es sich in der Periode der Taliban-Herrschaft in Afghanistan, die einerseits als Terrorherrschaft beschrieben werden kann, aus systemtheoretischer Sicht aber auch als größtmögliche Entdifferenzierung sozialer Funktionssysteme: Politik, Wirtschaft, Recht, Religion, Erziehung, selbst Gesundheitssystem, Intimbeziehrungen und Kunst – alles wird als geschlossen und zusammenhängend betrachtet; es gibt kein Entrinnen. Die Personen geraten in einer funktional ausdifferenzierten Welt in ein Exklusionsloch, d.h. es wird ihnen unmöglich, überhaupt noch in einem Funktionssystem zu kommunizieren: Ob man ein Haus kaufen kann, ist keine wirtschaftliche, sondern eine politische. Ob man sein Kind in eine Schule schicken darf, ist eine religiöse Frage usw. Im krassesten Fall, wird man in den Exkusionslöchern auf den eigenen Körper zurückgeworfen: Kampf um kappe Güter wird zur Überlebensfrage, eine Frau zu sein, entscheidet darüber, ob ich das Gesundheitssystem beanspruchen darf, in Gerichtsverfahren wird rasch mit physisch drastischen Maßnahmen auf Abweichung reagiert usw.
Die Dämonin befreit nicht nur die Schwestern,
murmelte Worte, die ich nicht verstand.
(Wieso "ich"? Erzählerin ist doch hier Schehrezâd) sie enthüllt auch die Identität des schlagenden Ex-Gatten:
Dein Sohn el-Amîn, der Bruder von el-Ma’mûn. Er hatte von ihrer Schönheit und Anmut gehört, und er brauchte eine List gegen sie.
Der Kalif daraufhin:
Jetzt will ich, bei Allah, eine Tat tun, die man nach meinem Tode aufzeichnen wird.
Und tatsächlich: Er verknüpft die losen Enden der Geschichte. Allerdings dürfte sich die Freude einiger der davon Betroffenen in Grenzen halten: Die drei Schwestern (d.h. zwei Ex-Hündinnen) werden mit den drei Bettelmönchen verheiratet. Will man mit einer Frau verheiratet sein, die versucht hat, ihre Schwester zu ertränken?
Das Mädchen mit den Narben gab er seinem Sohne el-Amin zurück.
Sie wird sich freuen, ihren Peiniger wieder umarmen zu dürfen.
Er selber jedoch nahm zur Gemahlin die Wirtschafterin und schlief in selbiger Nacht mit ihr. (…) Das Volk staunte ob der Großmut des Kalifen, seiner natürlichen Wohltätigkeit und seiner Weisheit; der Kalif aber wiederholte den Befehl, man solle alle diese Geschichten in seine Annalen eintragen.
(Da scheint ja jemand eine gewisse Panik vor der eigenen Unsterblichkeit gehabt zu haben.) Ende. Fragt sich, was aus dem Lastträger geworden ist, nach dem die Geschichte ja ihren Namen hat.
***
Dinazâd bittet um eine weitere Geschichte. Und Schehrezâd beginnt
Die Geschichte von den drei Äpfeln
Der Kalif Harûn er-Raschîd begibt sich mit seinem Wesir Dscha’far und mit seinem Schwertträger Masrûr in die Stadt Baghdad, um zu erfahren, was die Leute von den Amtsträgern halten. Als sie einen armen Fischer treffen, bietet der Kalif ihm an, das, was er beim nächsten Fang aus dem Meer zieht, für einhundert Goldstücke zu kaufen. Es ist eine Kiste. Leider nicht, wie man vermuten könnte, mit einem eingesperrten Dämon, sondern die zerstückelte Leiche einer jungen in einen Teppich eingewickelten Frau. Der Kalif daraufhin zu seinem Wesir:
"Du Hund von einem Wesir! (…) Wenn du uns den nicht bringst, der sie ermordet hat, damit ich sie an ihm rächen kann, so werde ich dich am Tore meines Palastes aufhängen, dich und vierzig deiner Vettern."
Gut, wenn man in einem solchen Falle über mehr als vierzig Vettern verfügt, damit man unter ihnen auswählen kann. Ich habe leider keinen einzigen.
Tatsächlich bereitet man am dritten Tage schon die Hinrichtung des Wesirs vor, doch da bekennt sich ein Jüngling dazu, die Frau umgebracht zu haben. Dann drängelt sich ein Alter dazwischen und meint, nicht der Jüngling, sondern er selbst sei es gewesen. Sie werden vor den Kalifen gebracht, der sich darüber wundert, dass sie den Mord
ohne Bastonade gestehen.
Doch der Jüngling erklärt: Die Frau war seine Base und sein Weib. Als sie krank war, bat sie um Äpfel, die ihr Gatte extra aus Basra besorgt. Doch als er zurückkehrt, mag sie sie nicht mehr. Der Mann geht in den Garten und sieht einen schwarzen Sklaven vorbeigehen, der einen der Äpfel isst, und als Erklärung angibt, sie von seiner Geliebten bekommen zu haben. Der Jüngling flippt daraufhin aus und schneidet seiner Frau ohne zu zögern die Kehle durch und versenkt sie im Tigris. Kurz darauf stellt sich heraus, dass die Frau den Apfel ihrem Sohn gegeben hatte, der ihn sich vom Sklaven stehlen ließ. Der Alte ist der Vater der Frau und bestätigt die Geschichte. Der Kalif beschließt, weder den Alten noch den Jüngling hinrichten zu lassen, sondern den Sklaven.