462. Nacht
Schehrezâd wiederholt die letzte Sequenz der Geschichte:
Nun staune, o König, über die Beredsamkeit dieser Sklavin, über ihr reiches Wissen, ihren Verstand und ihre vollendete Bildung in allen Wissenschaften und den Künsten! Und bedenke auch die Großmut des Beherrschers der Gläubigen Harûn er-Raschîd. (…) Wo fände man wohl nach dem Abassidenkalifen noch solche Freigebigkeit? Die Barmherzigkeit Allahs walte über sie alle jederzeit.
Aber wir wissen schon jetzt, dass König Schehrijâr noch weitere 539 Nächte brauchen wird, um den Wink zu verstehen oder verstehen zu wollen: Beredsame Sklavin! Großmütiger Herrscher! Mein Gott, so schwer ist das doch nicht!
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Ferner wird erzählt
Die Geschichte von dem Engel des Todes vor dem reichen König und vor dem frommen Manne
Einer von den Herrschern der Vorzeit
gemeint ist wohl die vorislamische Zeit
reitet in großem Prunk aus, stolz und übermütig. Ein alter Mann in zerrissener Kleidung nähert sich ihm und legt die Hand an seine Zügel:
„Ich bin der Engel des Todes; ich will deine Seele holen!“
Eine Frist sich zu verabschieden, gewährt ihm der Tod nicht.
Einem Frommen hingegen, der mit der Welt in Einklang lebt, gewährt er die Bitte, noch einmal beten zu dürfen.
Auch das kann eigentlich - so kurz nach der letzten Geschichte - als Warnung an König Schehrijâr verstanden werden.
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Die Geschichte vom Engel des Todes vor dem reichen König
Nachdem ein König riesige Güter angehäuft hat, versammelt er seine Angehörigen und Diener zu einem Mahl, denn jetzt könne er sich endlich seines Wohls erfreuen.
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463. Nacht
Auch hier tritt der Engel des Todes hinzu, und auch hier wird eine letzte Frist oder eine Ersatzperson verweigert:
„Ich bin nur deinetwegen gekommen, um dich zu trennen von den Gütern, die du gesammelt und aufgespeichert hast“
Daraufhin verflucht der König seinen Reichtum.
Nun antwortet der Reichtum (sic!)
„Warum verfluchest du mich? Verfluche dich selber! Allah (…) gab mich in deine Hand, auf dass du dir durch mich eine Wegzehrung schüfest für dein Leben im Jenseits und von mir den Armen und Bedürftigen und Elenden Almosen gäbest…“
Und so stirbt der König, ohne von den Speisen gekostet zu haben.
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Die Geschichte vom Engel des Todes und dem König der Kinder Israel
Ein jüdischer König sitzt auf dem Thron und auch hier erscheint ein hässlicher Mann, der sich als der Engel des Todes entpuppt:
„Ich bin es, der die Freuden schweigen heißt und der die Freundesbande zerreißt.“
Die Formel, mit der hier so viele Erzählungen enden; ähnlich unserem "und wenn sie nicht gestorben sind..."
Der jüdische König bittet um eine Frist,
„damit ich das Geld, das in meinen Schatzkammern ist, seinen rechtmäßigen Besitzern zurückgeben kann!“ (…)
„Weit gefehlt! Das ist dir nicht mehr möglich.“
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464. Nacht
„Du gehst zu dem Zorne des Allgewaltigen ein.“ (…) Da erhob sich ein Getöse unter dem Volk seines Reiches, die Stimmen erklangen, und Weinen und Schreien erschollen.
An dieser Stelle gibt es seltsamerweise zwei Bleistift-Markierungen in meiner Ausgabe, die (so vermute ich zumindest) nicht von mir stammen, die aber auch kurios sind: „Weinen und Schreien“ mit gewelltem Unterstrich und Fragezeichen an der Seite. Was ist so unverständlich oder fraglich an dieser Passage?
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Die Geschichte von Iskandar Dhû erl-Karnain und dem genügsamen König
Mit „Iskandar Dhû el-Karnain“ wird hier Alexander der Große bezeichnet.
„Alexander, der Zweigehörnte“
Auf seinen Reisen kommt Iskandar Dhû erl-Karnain an einem sehr armen Volk vorbei, das sich von „Gräsern und Kräutern“ ernährt und seine Toten direkt vor den Toren der Stadt beerdigt und die Gräber vom Staub befreit.
Iskandar befragt den König, warum sie das so täten. Dieser antwortet, so
„schwindet auch die Liebe zur irdischen Welt aus unseren Herzen, und wir werden nicht durch sie von dem Dienste unseres Herrn, des Erhabenen abgelenkt.“
Auf die Frage nach dem Veganismus, bekommt er die bemerkenswerte Antwort:
„Weil wir es verabscheuen, unsere Leiber zu Gräbern von Tieren zu machen.“
Das Angebot Iskandars, sein Wesir zu werden, lehnt der König des armen Volkes ab:
„Weil alle Menschen deine Feinde sind um deines Reichtums und des Besitzes willen, der dir verliehen war; alle aber sind in Wahrheit meine Freunde wegen der Genügsamkeit und meiner Armut, dieweil ich keinen Besitz habe und auch nichts Irdisches begehre; danach trage ich kein Verlangen.“
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Die Geschichte von dem gerechten König Anuscharwân
Anuscharwân lässt in seinem Königreich verbreiten, er sei krank und könne nur durch einen alten Lehmziegel aus einem zerfallenen Dorfe gerettet werden. Man findet keinen, und Anuscharwân ist zufrieden.
„Da (…) ein jeder Ort bewohnt ist, so steht es gut um das Reich, die beste Ordnung herrscht in allen Dingen, und so konnte die Kultur es zur höchsten Vollkommenheit bringen.“
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465. Nacht
Schehrezâd fährt, nachdem die Anekdote eigentlich schon beendet ist fort, Schehrijâr zu belehren.
Wisse drum, o König – so fuhr Schehrezâd fort – dass (…) es unzweifelhaft wahr ist, was die Gelehrten verkünden und wir in den Aussprüchen der Weisen finden, nämlich: die Religion hängt vom König ab, der König von den Truppen, die Truppen vom Staatsschatze, der Staatsschatz von der Wohlfahrt des Landes, und die Wohlfahrt des Landes von der gerechten Behandlung des Untertanenstandes…
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Die Geschichte von dem jüdischen Richter und seinem frommen Weibe
Ein Richter reist auf Pilgerfahrt nach Jerusalem und vertraut seinem Bruder auch seine Frau an, der sie, sobald der Richter fort ist, zum Ehebruch nötigen will. Sie wehrt sich, und er bezichtigt sie mit bestochenen Zeugen, Ehebruch getrieben zu haben.
Dieses Muster ist doch teilweise heute noch bekannt.
Man steinigt sie, aber ein barmherziger Wandersmann hört nachts das Stöhnen der Frau, die die Steinigung überlebt hat, nimmt sie zu sich und seiner Familie und pflegt sie gesund. Er gibt ihr sein Kind, damit sie sich nächtens seiner annehme. Doch eines Nachts schleicht sich ein „Schelm“ ein, um sie zu verführen. Als sie sich weigert, will er sie erstechen, trifft aber aus Versehen das Kind.
Die Mutter des Kindes verdächtigt die Frau des Richters des Kindsmordes und versucht, sie zu erschlagen, diese kann aber flüchten.
Auf ihrem Weg kommt sie in ein Dorf, wo man einen Mann an einem Baum gekreuzigt hat. Sie bietet die wenigen Dirhems, die sie bei sich trägt als Lösegeld an. Er wird abgenommen und sie heilt ihn.
Da bemerkte Schehrezâd, dass der Morgen begann, und sie hielt in der verstatteten Rede an.